Ilse Bindseil

Alexander Meier

Nachruf

Er mochte die Rolle, die seine Tätigkeit mit sich brachte: von jedem gekannt zu werden und, bis auf wenige Ausnahmen, mit niemandem bekannt zu sein. Neun Jahre lang war er immer mit dem Fahrrad unterwegs, von Schöneberg über Kreuzberg bis nach Neukölln, und verkaufte zitty, tip und taz, je nach dem Erscheinungstermin der Magazine mal mit schwerem, mal mit leichterem Gepäck. Abend für Abend durchstreifte er die Lokale mit unbeirrbarem Schritt, aber es bedurfte keines geschulten Blicks, um zu erkennen, daß das Bad in der Menge ihm etwas abverlangte; er und die andern, das war eine Gratwanderung und für den Philosophen und fanatischen Leser aller großen Romane, die mit dem Individuum zu tun haben, den Fußballfan und Whiskykenner, das eigentliche Thema. Aus seinem Minimalismus, seiner Zurückhaltung hatte er eine Geschäftstugend gemacht: sich nicht aufdrängen und nichts an sich herankommen lassen. Gelegentlich wurde ihm Mangel an Glamour vorgeworfen. Aber nie wurde er jemandem zuviel.

Wer ihn stehen und auf das Wechselgeld warten sah, dem fiel vielleicht das altmodische Wort von der Contenance ein oder er zitierte gar Milton: »who only stand and wait«. Man sah es ihm nicht an, daß er, vielleicht um der Öffentlichkeit gewachsen zu sein, innerlich unermüdlich an einer Topographie arbeitete, die jeden Club, jede Eckkneipe einordnete. Noch vom Krankenbett aus leitete er einen sicher durch die drei Bezirke und gab nicht nur gastronomische Tips, sondern verriet auch eine beunruhigende Sicherheit im soziologischen Urteil, wenn er seine Beratung auf den Punkt brachte: Da ist das Publikum so wie du. Er selbst fing an, sich in seinem Kiez jenseits des Kottbusser Damms unwohl zu fühlen. Umziehen mußte er nicht mehr; am 23.November ist Alexander Meier mit dreiunddreißig Jahren an Krebs gestorben.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt26.html.
Veröffentlicht in: zitty 25 (2008), 12.

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