Ilse Bindseil

Jenseits des Lustprinzips

Freud bezeichnet die Menschen als »unermüdliche Lustsucher«. In dieser Zuschreibung findet er für lange Zeit die Formel, die ihr Tun schlüssig, wenn auch über Umwege, Ableitungen, aus ihrem Wollen erklärt. Später, als die bürgerliche Differenziertheit seines Zeitalters in sich zusammenfällt, sieht er sich genötigt, ein Jenseits des Lustprinzips ins Auge zu fassen, das der entdifferenzierten Welt eher gerecht wird. Es erscheint wie die unpersönliche Welt der Materie, die, wenn überhaupt, von der Lust beherrscht wird, sich ins Anorganische zurückzuverwandeln, in das also, was sie gewesen ist und wohin sie, Lust hin oder her, aufgrund der abnehmenden Lebendigkeit, die ihr innewohnt, ohnehin sich bewegt; Stichwort: Kältetod, Entropie.

Was im Zen-Buddhismus durch Erleuchtung erreicht wird, läßt sich vielleicht nicht ganz verkehrt ebenfalls als ein Jenseits des Lustprinzips charakterisieren. Erreicht wird – folgt man den Auskünften, die das ohne eigene Erfahrung Nicht-Nachvollziehbare der Erleuchtung beschreiben, und synthetisiert sie mit den eigenen Grenzerfahrungen theoretischer und praktischer Art, wie sie im Leben, sofern man nicht völlig blockiert, nicht ausbleiben – ein Zustand, der von der Bindung an ein persönliches Prinzip der Lust oder Prinzip der persönlichen Lust, genauer an ein qua Lust persönliches Prinzip befreit. Diesem ist es schon sozusagen in der Formulierung eingeschrieben, daß es mit der Person nicht identisch zu setzen ist, und diese spürbare Diskrepanz macht es wiederum möglich, überhaupt ein Jenseits zu ahnen, das mit dem vom Zen in der Meditation angestrebten übereinstimmen könnte – übereinstimmen in jenem Sinn, daß wir es allererst fassen, es uns ein wenig klarmachen können.

Wenngleich, aus der Perspektive des Todestriebs, der jenseits des Lustprinzips herrscht, das Lustprinzip einen geradezu optimistischen Charakter offenbart, der auf die unter seiner Herrschaft lebende Person ausstrahlt, dergestalt, daß diese sich auch beim Äußersten, Finstersten, Tödlichsten immer noch sagen kann, daß sie es ja will oder daß es ihr, wie auch immer, Lust bringt – so ist der fremdbestimmende Einfluß des Lustprinzips auf die Person doch unverkennbar. Man kann nach Belieben hin- und herschwanken, ob Freud, als er den Menschen auf den Begriff der Lust brachte, ihm, dem vielfältig Fremdbestimmten, wieder ein Zentrum zurückgegeben hat, einen Kern, oder ob er die geheime Dezentralisierung der nur vermeintlich stabilen Person entlarvt hat, ihre, selbst wenn sie ganz bei sich scheint, geheime Fremdbestimmtheit. In beiden Versionen ist offenbar, daß die Person mit sich in jenem extremen Sinn nicht identisch ist, daß sie vom Personhaften an ihr selbst getrennt ist, während alles Nichtpersonhafte bei ihr verbleibt: alles, was mit dem allgemeinen Geist zusammenhängt oder mit dem allgemeinen Körper. Vom einzigen, was nicht in Allgemeinbegriffen aufgeht, was nicht zur Selbstreflexion zu bewegen ist, woran es keinen über es hinausgehenden Zweck zu erkennen gibt, was also in einer höchst intrikaten, nämlich höchst unpersönlichen Form sie selbst ist, die Lust – von der ist sie, als einem starren, fremden Prinzip gerade getrennt. Fremd und starr ist es im Wortsinn: weil es sich nicht vermischt und so der platten, herkömmlichen Definition der Person als unvergleichlicher Mischung von Allgemeinem zuwider ist und also der Definition der Person selbst widerspricht, indem sie die von ihrer Form abgespaltene Substanz der Person zu sein beansprucht oder die von allen menschlichen Inhalten abgespaltene Form, die nur das »durchläßt«, was sich mit Lust assoziiert.

Wird die Lust so einerseits als Zentrum der Person enthüllt und zugleich eindeutig neben die Person gestellt, so kann in diesem Widerspruch, in dem durch ihn eröffneten Spielraum nämlich, das Bedürfnis entstehen, von ihr befreit zu werden. In diesem Bedürfnis schießt zusammen der »topographische« Wunsch, nicht dezentralisiert zu sein, mit dem logischen, kein Widerspruch zu sein. Wenn der Widerspruch darin besteht, daß die Person außerhalb der Person existiert oder daß das Prinzip der Person personfremd ist, dann wäre es halt schön, wenn man mit dem aufhören könnte, was sie fremd macht oder was sie dezentralisiert. Bei diesem Wunsch kann man sich auf die Person selbst stützen, ihren Begriff, der sie ja als nicht dezentral und nicht widersprüchlich, also als zusammenhängend und einheitlich formal konstituiert. Das Bedürfnis, mit dem Lustprinzip zu brechen, wäre also konform mit den Bedürfnissen der Person. Mit dem Lustprinzip zu brechen wäre deren ureigenes Bedürfnis.

Mit dem Lustprinzip, wohlgemerkt, nicht auf altbekannte Art mit der Lust, um fortan etwa ein Leben nach Prinzipien zu führen! Sondern mit jener inneren Ausrichtung, die für eigen gehalten wird und doch fremd ist. Es geht ums Brechen also mit dem Prinzip, um den Bruch mit der Ausrichtung auf ein Prinzip, das mit den Bedürfnissen des Menschen nur dezentral verbunden, nur in einem psychoanalytisch »verschobenen« Sinn sein Kern ist, sein eigentliches Motiv. So weit hat Freud die Formulierung dessen vorangetrieben, was das Ureigene des Menschen ist, daß man beinahe schon ebensogut auf es verzichten kann, ist es doch bereits außerhalb des Menschen gelegen, eingebettet in ein eigenes Prinzip. Man braucht es nur noch zu lassen. Auch das Prinzip, da es bereits mit dem Fremden, der Lust, verklammert ist, braucht man nur noch zu lassen. Was man behält, ist das Nichtprinzip oder das Nichts, die Nicht-Lust oder die Dinge.

Das zen-buddhistische Jenseits des Lustprinzips ist etwas anderes als der Freudsche Todestrieb, aber eher von der begrifflichen Fassung des letzteren her als vom Inhalt, der in beiden Fällen negativ auf die Person bezogen ist, zumindest erscheint es so dem westlichen Blick. In der Zen-Meditation – folgt man den Berichten – wird die Energie im Bemühen um die Lösung des Koans, im Kampf um Erleuchtung verbraucht. Der Meditierende reibt sich auf, um im Moment der Selbstaufgabe, die der Moment der Erleuchtung ist, festzustellen, daß er nicht sich, sondern nur das Sich aufgerieben hat, den elenden reflexiven Bezug. Er erlebt die Welt so, wie sie ohne Deformation durch ihn ist, und sich mit. Wie weit der Freudsche Todestrieb überhaupt mit dem Tod und nicht – in Übereinstimmung mit seiner theoretischen Entstehung aus dem Lustprinzip – bloß mit der Entmächtigung des Sexualtriebs zu tun hat, ist gar nicht entschieden; ebensowenig, wie weit das buddhistische Jenseits des Lustprinzips mit dem Nichts und nicht bloß mit der ermäßigten Gangart dessen zu tun hat, was nicht in unserm Sinn lebt oder an dem die spezifisch menschliche, die spezifische Ich-Form des Lebens nicht das Entscheidende ist. Unbestritten ist – wenn auch im Abendland nicht durchweg verbreitet –, daß Zen-Erleuchtung nicht zum Sterben bekehrt, sondern zu einer von der Eigennützigkeit, dem Egoismus des Sterbens und seinen Kränkungen unbetroffenen Liebe zum Leben. Daß diese von der ganzen Perspektive des persönlichen Tods unbetroffene Liebe zum Leben im westlichen Diskurs nur als Liebe zum Tod figurieren kann, wirft ein schlechtes Licht auf den westlichen Diskurs.

Es gibt eine ethische Formulierung des Jenseits des Lustprinzips, die sich aus der radikal unethischen Definition des Lustprinzips herleitet und für das östliche und das westliche Denken gleichermaßen einschlägig ist, nur eben nicht für Freud. Das ist die Kategorie der Pflicht. Meist mißbraucht – als Gehorsam gegenüber einem positiven Allgemeinen, wie es noch in der billigen Entschuldigung »Ich habe bloß meine Pflicht getan.« aufscheint –, ist ihr negativer Gehalt kaum noch erkennbar. Dabei ist sie durchaus eine Hilfskonstruktion, ein als positiver zugleich negativer Ausdruck, der auszudrücken hilft, das, was man, ohne es zu wollen, will, eben zu wollen. Der negative Gehalt, das heißt die Kraft dieser Kategorie, hängt dabei allein davon ab, wie weit es gelingt, das vom persönlichen Willen unabhängige Wollen nicht sogleich wieder einem Subjekt zuzuschreiben, so daß es also in Gehorsam und Positivität umschlägt. Das vom Lust-Unlust-System abgelöste Wollen ist vielmehr das, was man will, ohne es allererst wollen zu müssen. Es ist das, was getan werden will, oder die Pflicht. Die wird – entgegen einer vielfach geäußerten Kritik – weder rätselhaft noch besonders verdächtig dadurch, daß man das persönliche Wollen von ihr ablöst, so als wäre die Pflicht als solche die des KZ-Aufsehers und nur ein radikalisiertes Bewußtsein könne einen vor der Verfallenheit an eine solche Pflicht bewahren. Im Gegenteil könnte es sein, daß sie, befreit von den Doppeldeutigkeiten, den strapazierenden Vieldeutigkeiten eines hochproblematischen Wollens sich auf einmal als diskutabel und beweglich herausstellte: als das nämlich, was man tut oder was man läßt.

Freud siedelt die Pflicht bekanntlich im Diesseits und nicht im Jenseits des Lustprinzips an und trägt damit zur Aufklärung des abendländischen Bewußtseins bei, das im Allgemeinen, dem es willig folgt, stets ein höheres Wesen, eine andere Person gewahrt; Teilhabe an einem Allgemeinen erkämpft oder erschleicht es sich durch Identifizierung mit dieser anderen Person, und dabei natürlich auch durch Unterwerfung. Auch wenn es also dem Allgemeinen dient, dem Wesen, der Gattung, dem Staat, sprengt es nicht den Zirkel einer ganz persönlichen Lustsuche, das personale Prinzip. Ist die Pflicht dergestalt entlarvt, bleibt Freud für das Jenseits des Lustprinzips dann nur ein anderer Trieb als die Lust, aber kein anderes Prinzip als der Trieb. Der Todestrieb hat als lineares Triebziel Beschwichtigung, Ruhe und Tod. Indem er das dynamische Modell einer Abfuhr durch Spannungsmaximierung, das Modell einer spürbaren Ersparnis widerlegt, zielt er auf die mögliche Eliminierung des Lebens; wenn nämlich das Leben ein Instrument bloß der Befriedigung ist, kann es wegfallen, wenn Befriedigung gar nicht, vielmehr Beschwichtigung das Ziel ist. Insofern denkt Freud mit der Konstruktion des Todestriebs nur das Lustprinzip zu Ende, aber nicht über das Lustprinzip hinaus.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt15.html.
Veröffentlicht in: Mutmaszung 1 (2004), 3–5.

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