Ilse Bindseil

Klarheit und Evidenz

Descartes und die Konstitution des bürgerlichen Denkens


Descartes, das ist der Inbegriff französischer Klarheit und französischen Schwachsinns, Cartesianismus in eins überzeitliches Schulbeispiel und rationalistische Sackgasse der neuzeitlichen Philosophie. In seinem Radikalismus gilt Descartes als Muster eines Philosophen und zugleich als dessen erste Erscheinung als Trickbetrüger, läßt der cartesische Zweifel doch bereits im 17. Jahrhundert zum ersten Mal emphatisch »alles, wie es ist« (Wittgenstein). Karl-Heinz Haag (Der Fortschritt in der Philosophie, 1983), auf der gewissenhaften und spannenden Suche nach dem in der Natur, was der menschlichen Vernunft Widerpart geben könnte, zögert nicht, ihn einfach für bescheuert zu halten, gibt Descartes als das Ansich der Natur doch »Ausdehnung« an und macht sich damit krasser als jeder andere der Todsünde abendzeitlicher Philosophie schuldig, lediglich einen »wahrnehmbaren Aspekt« der Natur als ihr »konstituierendes Fundament« zu setzen (stw 1985, 60/61).

Angestachelt von den Problemen der Philosophie mit Descartes soll über die cartesische Klarheit nachgedacht werden – immer auf der Suche natürlich nach einem angemessenen Begriff des Denkens.

1 (Erste Einleitung)

Auf Descartes liegt der Fluch der kanonischen Texte. Kommt noch jener Fluch hinzu, der auf kurzen Texten liegt und der beispielsweise Büchners »Lenz« zum idealen Oberstufenthema gemacht hat, von Kafka ganz zu schweigen. Descartes bestimmt nicht nur seine Kürze, sondern auch seine Klarheit für den gehobenen Schulunterricht bzw. für die Philosophieprüfung für Nichtphilosophen, wenngleich gewiß nichts so resistent gegen Verstehen ist wie ausgerechnet Klarheit (und das wiederum zeigt ausgerechnet Kafka). So ist aus den »Meditationen« eine Art Jugendbuch geworden, eine Etüdensammlung, ein »Czerny«, nicht für Klavier-, sondern für Philosophieschüler oder Philologiestudenten, und wer sie oder den noch einfacheren, bewußt in französischer, nicht in lateinischer Sprache abgefaßten, noch merksatzmäßiger und leitfadenhafter gehaltenen »Discours de la méthode« in der Jugend nicht gelesen – und nicht verstanden – hat, der liest sie nie.

Aber auch aus inhaltlichen oder systematischen Gründen scheinen die »Meditationen« eine Art Jugendphilosophie, irgendwo angesiedelt zwischen dem bürgerlich pubertären »Robinson Crusoe« – »Allein findet der Mann seinen Weg.« – und seiner senilen Erscheinungsform in der »Feuerzangenbowle«: »Da stellen wir uns mal ganz dumm.« Da aber die »Feuerzangenbowle« das Denken längst als (Katheder-)Dummheit entlarvt hat, bleibt für oder von Descartes nur das pubertäre Moment, das kindlich-emphatische »Ich ganz allein!« übrig, dessen fortdauernde Lebens- und Überlebensfähigkeit in Show-downs und Shoot-downs aller Art unter Beweis gestellt wird, ja zum nicht weniger pubertären Prinzip »Einer gegen alle« – zeitgemäßer ausgedrückt: »Ein Mann dreht durch« oder »Theo gegen den Rest der Welt« – sich fortentwickelt hat. Diese Entwicklung zu gewissermaßen »(dauer)brennender Jugendlichkeit«, von der Descartes, dieser Inbegriff eines erwachsenen Philosophen, sich nie hätte träumen lassen, stellt sich auf der sexuellen Ebene als eine Regression auf den Phallus dar, der in der phallischen Phase nur ein Pimmelchen ist und erst in der primär durch Sozial-, nicht Sexualleistungen charakterisierten genitalen Phase dann zum Phallus und in dieser entfremdeten Situation und unter ihren befremdlichen Anforderungen eben zum Dauerbrenner wird. Descartes konnte den künftigen Paradigmenwechsel vom Denken zur Sexualität und die damit einhergehende Umdefinition des Ich aus dem (Sexual-)Organ des Denkens zum Hüter und entfesselten Verteidiger eines nach allen Foucault’schen Regeln der Kunst verselbständigten Phallus wie gesagt nicht ahnen. Allenfalls hat er ihn »fernwirkungsmäßig« initiiert. Wenn man sich aber – motiviert durch die nicht nur ursündenhaft blasse, sondern als Spaltung zugleich tief ins moderne Alltagsleben hineinreichende Kränkung von Natur und Trieb – entschließt, die abstrakte Fernwirkung Descartes’ mit einer akribischen Rekonstruktion dessen zu quittieren, was da wirkt, dann muß man darauf gefaßt sein, daß einen ein neuerlicher Paradigmenwechsel ereilt: weg vom reichhaltigst und vielfältigst konnotierten, als solcher aber gar nicht vorhandenen Phallus, hin zu einem Denken, das, weit davon entfernt, ein Ausdrucksorgan für verschobene Sexualität zu sein, sich als eine Funktion sui generis konstituiert.

2 (Zweite Einleitung)

Über den Umgang gestandener Philosophen mit Descartes habe ich bereits in der Ankündigung berichtet; Stichwort »Descartes als Sackgasse«. Historisch ausgeschmückt lautet dasselbe Stichwort: »Descartes, der das Denken konstituierte, aber gegenüber den Empiristen das Nachsehen hatte.« Oder, vorurteilsgesättigt und entsprechend prägnant: »Descartes, der das französische Denken zum Funkeln brachte und dann von den Engländern, die bewußt nicht denken, abgehängt wurde …« Seitdem der Rationalismus gewissermaßen als die Scholastik der Neuzeit gilt, interessieren sich alle die, die in irgendeiner Form auf Materialismus und politische Praxis setzen, denn auch zuallerletzt für Descartes. Eine politische Gruppe, die mich ebenfalls einlud, lud mich, als sie hörte, daß es um Descartes gehe, umstandslos wieder aus. Als ich Descartes vor einigen Monaten aus dem Regal nahm, war es auch nur aus dem durch und durch verdorbenen Grund, ein handliches Thema für meine Philosophieprüfung zu haben und nicht etwa aus dem abgründigen Motiv, meine cartesianischen Wurzeln auszugraben. Als ich nach dreißig Jahren zum ersten Mal die grünen Bändchen wieder in die Hand nahm, da erinnerte ich mich – Descartes würde sagen: mit aller Klarheit –, wie ich damals, in meinen ersten beiden Semestern, rein gar nichts verstanden hatte, obwohl Margherita von Brentano (die vor ein paar Wochen gestorben ist) sich redlich Mühe gab und auch gelegentlich die Sitzung im Zorn abbrach, wenn wir das Kapitel nicht gelesen hatten. Und ich erinnerte mich, wie mir die einzelne Seite so lang und die Meiner-Bibliothek so lektürefeindlich vorkam, daß ich sie gleich bei der ersten Bekanntschaft haßte und im Grunde wußte: Aus dir wird nie ein Philosoph, geschweige denn eine Philosophin. Nur einmal, als der Unterschied zwischen der sinnlichen und der gedanklichen Form eines Tisches verhandelt wurde, da glimmte ein Funke in mir auf, der Funke des Nichtverstehens – den vielleicht Analysanden aus der Analyse kennen –, er glimmte auf, um sofort wieder zu verlöschen, und es ist mir in der Folge nie etwas klarer gewesen als die Dunkelheit eben dieses Tisches. Daß ich damit nur den Schiffbruch aller Cartesianer, Descartes eingeschlossen, erlitten, nämlich das Scheitern der Beispiele erlebt hatte, wußte ich damals natürlich nicht, und es hat mir, da akademisches Lernen sich nicht zuletzt über falsche Plausibilisierungen und also wesentlich über Beispiele vollzieht, auch niemand gesagt. Ich komme darauf zurück.

Ja, sagte die Gruppe, die Descartes langweilig fand, wäre es über Sohn-Rethel gewesen, wie sie eigentlich gedacht hätten, das hätte sie wahnsinnig interessiert! Typisch, dachte ich aufgebracht und daher ungerecht, dieser Mann, der wie eine Nähmaschine denkt, dieser Mechanikus unter den Philosophen! Und in meiner Entrüstung sah ich auf einmal klar und begriff mit meinem Hang zur Übertreibung, warum gerade die theoretische Linke, die sogenannte Restlinke, Descartes wie das Weihwasser scheut, macht er doch mit der ultima ratio ihrer theoretischen Existenz, nämlich der Option auf Praxis – dem Anspruch, sie in irgendeiner Form zu denken! – in seiner vierten Meditation unter der oberlehrerhaften Überschrift »falscher Gebrauch des Verstandes« oder »rechter Gebrauch der Urteilsfähigkeit« beschämend kurzen Prozeß. Auch darauf komme ich zurück.

3 (Dritte Einleitung)

Descartes will das Denken aus dem Gefängnis der Sinne befreien – eine seltsame Absicht, die Sinn und Verstand hätte, wenn sie für das Reklame- und Fernsehzeitalter geltend gemacht würde; aber für das 17. Jahrhundert? Müßte es nicht heißen: aus dem Gefängnis der Metaphysik? Schließlich, wer traut im 17. Jahrhundert schon seinen Sinnen? Dieses Vertrauen kann sich ja erst dann einstellen, wenn im empiristischen Sinn die Sinne selbst zu Denkfunktionen geworden sind, die sinnlichen Wahrnehmungen konsequent zu Gedanken, so daß vom »Gefängnis der Sinne« in einem naturalen Sinn ohnehin nie die Rede sein kann, nur in einem gesellschaftlichen.

Was will Descartes also? Das Denken aus dem Gefängnis der Metaphysik befreien? Das klingt unwahrscheinlich, wenn man an seinen Gottesbeweis denkt, auch wenn seine Ironie gegenüber »l’Ecole« – das ist die Scholastik – unüberhörbar ist (Discours, Hamburg 1960, 56); und außerdem, warum redet er dann von den Sinnen? Auch hier erklärt der freimütige Hinweis auf Galileis Pech nicht alles bzw. enthüllt noch lange nicht eine systematisch angelegte Theorie als subversiv.

Was will er also? Er will, daß gedacht wird! Begegnet ist er dem Denken schon mal, nämlich in der Mathematik, und nun will er, daß auch in anderen Bereichen gedacht wird. Kurz und knapp: In Bereichen, in denen früher geglaubt wurde, soll jetzt, nach Descartes’ Absicht, gedacht werden.

Die Crux ist ja nicht, daß die Dinge gewußt werden und an den Himmel geglaubt wird – so weit sind wir noch lange nicht! –, sondern daß der Himmel auf die gleiche kindische Art »gewußt« wird wie die Dinge und die Dinge auf die gleiche kindische Art geglaubt werden wie der Himmel und dadurch tatsächlich so etwas wie ein Gefängnis, ja der Inbegriff vielleicht von Gefängnis entsteht.

Daß es um Denken als archimedischen Punkt geht, um die Einrichtung des Denkens, um die Schaffung und konsequente Ausweitung der Sparte »Denken«, ist gar nicht so leicht einzusehen. Hat Aristoteles nicht gedacht? Gab es vorher keine Philosophie? Ist nicht im Gegenteil, wie die konsequente Umarbeitung von Mythologie in Philosophie in der Antike und die konsequente Verklammerung von antiker Philosophie und christlichem Glauben in der Scholastik auf allen relevanten Ebenen des Denkens eindrucksvoll dokumentieren, alles bereits einmal gedacht worden, das Empirische und das Gedachte ebenso wie das Geglaubte? Wie kommt Descartes dazu zu sagen: Los, Leute, jetzt denken wir mal!

Wie gesagt, heutzutage sehen wir den merkwürdigsten Gebrauch, der vom Denken gemacht wird, wird doch mit einem ungeheuerlichen Aufwand an Abstraktion agiert. Die Psychoanalyse hat dafür gleich eine ganze Handvoll von Begriffen bereitgestellt: halluzinieren, projizieren, rationalisieren. Im Grunde hat aber jedes Verbum, das auf -ieren endet, teil an jener aktionistischen oder triebhaften Inanspruchnahme des Denkens, die angeblich von der Rache der abgekoppelten Natur, tatsächlich wohl aber mehr von ihrer Abkopplung als von ihrer Rache zeugt. Ja, wenn wir heute sagen würden: Los, Leute, jetzt denken wir mal!

Wenn wir unserem Eindruck – daß alles, was Descartes zu sagen hat, heute und zu uns einschlägiger gesagt wäre als damals zu den Alten –, wenn wir diesem Eindruck zu einer irgend gearteten Wirklichkeit verhelfen wollen, um ihn in Ruhe und Deutlichkeit prüfen zu können, dann müssen wir mal eben alles durcheinanderschmeißen, was die Philosophiegeschichte aneinandergereiht hat, und anstatt Descartes an den Anfang der Neuzeit zu stellen, damit der Kapitalismus den ihm gebührenden theaterdonnerhaften Einstieg hat, müssen wir ihn sozusagen aus einem Hubschrauber abseilen: über einem Meer von Scholastik. Da baumelt er dann eine Weile ängstlich, unentschlossen, wo er Tritt fassen soll. Und als er schließlich landet und die Masse der seit alters bekannten Doppelköpfe sich teilt – teils aus Ehrfurcht, teils damit sie nicht von ihm getreten werden – und so der Eindruck einer erwartungsvollen Leere entsteht, da stellt er sich energisch auf seine kleinen Beine und ruft: Los, Leute, jetzt denken wir mal! Wie gesagt, in einem Meer von Scholastik.

4 (Hauptteil)

Natürlich mache ich mich mit meinem Vorschlag der Todsünde unhistorischen Denkens schuldig; was heißt schon »Meer«? Und ich will auch gleich gestehen, daß ich diese Metapher ablehne, weil sie systematisch verundeutlicht, ob nur von der (Post-)Moderne oder aber von der gesamten, dann gewissermaßen zur (Post-)Moderne zusammengeschnurrten Neuzeit die Rede ist. Da aber das Ahistorische am Denken selbst ins Auge gefaßt werden soll, das sich vielleicht am ehesten darstellen läßt als ideologischer Drang nach Harmonisierung dogmatischer Ansprüche und praktischer Bedürfnisse – Marke: Gott wissen und die Dinge glauben –, muß diese Zweideutigkeit wohl hingenommen werden. Schließlich besteht der Witz meines philosophischen Umsturzversuchs ja darin zu behaupten, die lineare Entwicklung der im Hubschrauber angedeuteten technisch-ökonomischen Verhältnisse vertrage sich offenbar bestens mit einer auf ihre Weise ebenso linearen philosophischen Nichtentwicklung. Ob diese Nichtentwicklung selbst ein rachsüchtig-spätes Resultat oder als Nichtentwicklung gewissermaßen tumber Prozeß ist, das bleibt sich eigentlich gleich.

Ich persönlich sage, besser, sie gewissermaßen als Primärprozeß zu verstehen – und damit statt von »Entwicklungsstufen des Denkens« von einem skandalösen Einheitsbrei auszugehen –, sonst wird man das dichotomische Denken, in dem sich das historische Bewußtsein verfängt und das nur punktuell, durch immer noch schärfere Dichotomisierung überwunden wird, nie ablegen können. Und deshalb will ich einen erkenntnishungrigen Augenblick lang in meiner Todsünde verharren und mir Descartes vorstellen, wie er – reizüberflutet wie nur einer von uns – von der Welt meditativen Urlaub nimmt und nach Holland geht, um, wie er sagt und wie wir öfter zu sagen pflegen, seine Gedanken zu ordnen. Und wenn er dann erholt zurückkommt und von seinen gestreßten Kollegen gefragt wird, ob denn die Kur oder das Sabbatjahr etwas gebracht hat und vor allem, ob er ein Heilmittel oder einen Abwehrzauber gegen den stets präsenten Rückfall im Tornister hat, dann sagt er, wie nur einer von uns es sagen könnte: Ich habe mir ein paar Grundregeln erarbeitet; wenn ich mich an die halte, wird es nie wieder so weit kommen! Mitleidiges Lächeln macht sich auf den Zügen der Kollegen breit; denn natürlich kommt es wieder so weit, sei’s weil gegen die überwuchernden Verhältnisse kein Kraut gewachsen ist, sei’s weil gegen ihn kein Kraut gewachsen ist, und so muß er bei Gelegenheit eben wieder in die Kur.

5

Wer interessiert sich unter diesen Auspizien noch für die Grundregeln?

»Die erste besagte, niemals eine Sache als wahr anzusehen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist« (Discours, 31). Neben dieser einen verblassen die anderen, die samt und sonders darauf zielen, »der geometrischen Analyse und der Algebra ihr Bestes zu entlehnen« (Discours, 35), als da wäre: Arbeitsschritte einführen, Ordnung halten, Ableitungen vollführen, kurz, alles Maßnahmen, die den modernen Zwangscharakter auszeichnen. Nach unserem heutigen Verständnis müssen diese letzteren den Gegenstand durch Ordnungsliebe verfehlen, jedenfalls insofern er interessant wäre, während das erste Prinzip ihn, ebenfalls nach dem heutigen Verständnis, durch Tautologie verfehlen muß. Wer sein erkenntnistheoretisches Bündel so eng schnürt, daß nur das hineinkommt, was gewissermaßen schon vorher drin war, der hat nachher wenig in der Tasche, Wahrheit allenfalls, zugegeben, aber nicht ein einziges Beispiel für Wahres.

Die Beispiele aber sind wie gesagt der schwache Punkt. So schwach sind sie, daß die entsprechenden Runden in den berühmten »Einwänden« der Zeitgenossen Descartes’ regelmäßig an die Kritiker gehen. Und so schwach sind sie – ob es sich nun um Wachs, Tiere oder um den lieben Gott persönlich handelt, der bei Descartes offenbar auf dem besten Weg ist, zum Beispiel zu werden –, daß den Siegern der Sieg zum Bösen ausschlägt, hätten sie doch an der skandalösen Schwäche der Beispiele merken müssen, daß es um sie nicht geht bzw. daß, während die Beispiele mit Veranschaulichen beschäftigt sind, ihre Schwäche ebenfalls, nämlich mit nichts anderem als eben mit der Veranschaulichung der Nichteinschlägigkeit von Beispielen beschäftigt ist. Wenn Hobbes oder Gassendi mit Descartes über die Beispiele streiten –, der eine trivialisierend, um nicht zu sagen »commonwealthmäßig«, daß man gleich merkt, die Beispiele werden seiner Wertschätzung nicht froh werden, der andere in einer Art primärem und gewissermaßen vollkommenem, einem ursprünglichem Materialismus, dessen nun wiederum wir nicht froh werden können, denn wo bleibt da die historische oder sogar geschichtsphilosophische Notwendigkeit, der teleologische Kick? –, wenn also Hobbes oder Gassendi mit Descartes um die Validität der Beispiele streiten, dann sieht Descartes blaß aus, und das ist gut so, auch wenn es uns, die wir seinen Ausführungen so bereitwillig gefolgt sind, natürlich wehtut zu sehen, wie wir uns erst an den einen und beim geringsten Einwand dann an den nächsten hängen. Gut ist es, weil er nur dadurch, daß er selbst blaß aussieht – denn auch er hängt natürlich an den Beispielen –, zeigen kann, daß es schlichtweg um die Ebene der Nichtbeispiele, jene Ebene geht, die von Beispielen nicht tangiert wird und die im übrigen auch die Beispiele nicht tangiert. Und wenn Descartes dann auch noch in seiner Darstellung des Blutkreislaufs irrt und hinter naturwissenschaftlichen Zeitgenossen charakteristisch zurückbleibt oder hinter diese gar charakteristisch zurückfällt, so steckt in diesem Irrtum, der natürlich sogleich an jenen Goethes erinnert, nicht nur die allgemeine Nutzanwendung, daß große Männer eben im kleinen irren – bedenklich für Newton, der gegen Goethe Recht behielt –, sondern ein Hinweis auf die Notwendigkeit oder sagen wir lieber Unvermeidbarkeit des Irrens im Empirischen, wenn man es im Theoretischen zu etwas bringen will, scheinen sie doch antagonistische Geschwister zu sein und nicht etwa Komplementärfarben, irgend etwas, was sich unter »gegenseitige Bereicherung« subsumieren läßt.

6

Der einzige »Nutzen«, den Descartes von einer »Beschäftigung« mit den »Gegenständen der mathematischen Untersuchungen (erhoffte)«, war denn auch, »daß sie meinen Geist daran gewöhnten, Geschmack an der Wahrheit zu finden« (Discours, 33). Damit ist es ausgesprochen, das Zauberwort, das uns zwingt, die albernen Grundregeln noch einmal ins Auge zu fassen. Denn soviel müssen wir zugeben: Zwar haben wir Tautologie und methodologischen Rigorismus dank Dialektik und geschichtsphilosophischer Sendung längst überwunden, aber wir haben den Geschmack an der Wahrheit dabei verloren. Und selbst wenn wir ihn noch hätten, so haben wir doch den Geschmack der Wahrheit verloren. Wir wissen nicht mehr, wie sie schmeckt, und deshalb würde es uns auch nichts nützen, Geschmack an ihr zu haben. Im Gegenteil, ist uns der Sinn mit dem man die Wahrheit schmeckt, doch ebenfalls abhanden gekommen. Wir wissen nicht mehr, wie man sie schmeckt.

Als Grund für einen solchen Geschmacksverlust wird vom heutigen Standpunkt eine Überfütterung und Übersättigung durch starke Reize angegeben werden müssen. Was starke Reize sind, das ist uns auf der praktischen Ebene, mag sie auch durch und durch theoretisch sein, einigermaßen klar, Stichwort: Reklame. Reize verdanken sich einem Reizsystem, das heißt einem komplexen Zusammenhang, in dem verschiedene Abstraktionsebenen kompatibilisiert, in den Dienst gegenseitiger Veranschaulichung getreten sind, wodurch der auslösende Reiz gesetzt, jener nie zu stillende Hunger nach dem auf einer anderen und durch die andere Ebene mit Evozierten und mit Gemeinten geweckt wird: Hunger nach Kapital beispielsweise als Hunger nach Glück, kompatibilisiert durch Hunger nach Tabak; oder Hunger nach Tabak als Hunger nach Glück, kompatibilisiert durch Hunger nach Kapital.

Was starke Reize in der Theorie anrichten, das zu durchschauen fällt uns schwerer, obwohl oder gerade weil sie da das nämliche tun: Wahrheit mit den Insignien des Glücks ausstatten und einen unstillbaren Hunger nach der solchermaßen ausgestatteten Wahrheit erzeugen; oder umgekehrt Glück mit den Insignien der Wahrheit ausstatten und damit einen unstillbaren Appetit auf das vom Denken abgesegnete Tun wecken. Zustande kommen die starken Reize in der Theorie genauso wie in der Reklame, der ganzen Erlebniskultur: durch die gesellschaftliche Immanenz der Gebrauchswerte, hier also der Reflexion, die sie der Empirie zu- und auf die Seite der Spontanproduktion schlägt, die ihrerseits durch sie zur Praxis aufgemotzt wird, zu autonomem, selbstbestimmtem Tun, so als wäre nicht der Gedanke buchstäblich auf die Seite der Empirie gefallen, als wäre er vielmehr auf die letztere hinübergewechselt, Utopie verheißend und mit jedem Schritt verwirklichend in Gestalt jener starken Reize, durch die sich Tun und Begreifen, Rekonstruktion und Konstruktion unauflöslich verquicken, ja als identisch darstellen und die schon die Kino-Zigaretten-Reklame zum unvergeßlichen Erlebnis stilisieren.

7

Diese lieblose Ableitung materialistischer Tugenden aus der Warenmetaphysik der jeweils neuesten Moderne kann einem schon den »Geschmack an der Wahrheit« verderben und einem Lust machen auf jene heroisierten Gesten des philosophischen »Als ob« oder »Trotzdem«, des »Quia absurdum«, die den Existentialismus auszeichnen, der damit seiner Veraltung freilich keinen Riegel vorschieben konnte. »Geschmack an der Wahrheit zu finden«, statt sich beispielsweise starkzumachen für die persönliche Motivation oder die richtige Linie oder für das, was das Leben lebenswert macht, sich letzterem als dem Inbegriff aller Beispiele vielmehr hoffnungslos zu entfremden, es zur Spielwiese von Aussetzern und Irrtümern, zum Schauplatz von Fehlleistungen – betreffen sie nun den Blutkreislauf, die Farben oder den geschichtsphilosophischen Auftrag des preußischen Staats – verkommen zu lassen, ist eben ein durch und durch reduktionistisches Konzept. Es beschreibt nicht, wie die Begriffe »Geschmack« und »finden«, dem, der’s so verstehen möchte, suggerieren, die praktische Dimension der Wahrheit, ihr Hinüberlappen auf das Gebiet der Empirie, sondern ganz im Gegenteil ihre Durcharbeitungs- oder Wegarbeitungsseite, daß man das, was hinüberlappt, eben wegarbeiten und an diesem Negativismus auch noch »Geschmack finden« muß. Nicht also ist die Wahrheit ihrer innersten, geschichtsphilosophisch herauszuarbeitenden Natur nach richtige Praxis; ihrer innersten, erkenntnistheoretisch herauszuarbeitenden Natur nach ist sie vielmehr Verzicht auf Falschheit – und wenn Falschheit etwas ist, wovon man sich nicht peinlich berührt hastig verabschiedet, worauf man vielmehr nur zögernd und traurig verzichtet, dann muß in ihr die Praxis stecken, auf die als auf eine verdrehte Form des Denkens, nicht eine emphatische der Empirie, die Reflexion eben verzichten muß.

»Es ist nämlich«, sagt Descartes in der vierten Meditation über »Wahrheit und Falschheit«, »um frei zu sein, nicht nötig, daß ich mich jeder der beiden Seiten zuneigen kann; ganz im Gegenteil, je mehr ich nach der einen Seite neige […], um so freier ist meine Wahl […]. Jene Unentschiedenheit aber, die ich erfahre, wenn mich kein vernünftiges Motiv nach der einen Seite mehr als nach der anderen zieht, ist der niedrigste Grad der Freiheit, und beweist nicht ihre Vollkommenheit, sondern nur ein Fehlen oder eine Art Nichtvorhandensein von Erkenntnis. Sähe ich nämlich stets klar, was wahr und gut ist, so würde ich mich niemals darüber besinnen, wie zu urteilen oder zu wählen sei. Und wenngleich ich so durchaus frei wäre, so könnte ich dann doch niemals unentschieden sein.« (Meditationen, Meiner Verlag 1960, 52/53)

Descartes macht hier vielleicht nicht deutlich genug, daß er eine strikt erkenntnistheoretische Freiheit meint, die, zwischen Wahr und Falsch ein sicheres Urteil zu fällen. Das heißt, deutlicher, als er es sagt, kann man es vielleicht gar nicht sagen; nur ist es offensichtlich nicht sein Problem, sondern jenes andere, das er frech entscheidet, ob man die Parteinahme für die Wahrheit als Freiheit bezeichnen darf und das Schwanken zwischen Wahr und Falsch als Unfreiheit. Ob Wahrheit mit Freiheit zu tun hat, was nun wiederum die Geschichtsphilosophie frech bejahen wird, hat er gar nicht im Blick, und er kann vielleicht auch nicht dafür, daß die Übersetzung » … um frei zu sein«, sich heute so gar nicht erkenntnistheoretisch, sondern wie das genaue Plagiat eines schönen Lieds von Ton Steine Scherben liest, die seinerseits Anleihen bei der Geschichtsphilosophie gemacht haben.

8 (Innerer Hauptteil oder Durcharbeitung)

Wie gesagt, das mutet uns alles ungeheuer fremd an. Sich für die Wahrheit entscheiden müssen als äußerster Ausdruck der Freiheit? Nun ja. (Deine Freiheitsprobleme müßten wir haben, Descartes, wo die Völker in Ketten liegen usw.) Dafür ist es nun schon unheimlich, wie sehr Descartes mit seiner Beschreibung des Schwankens den Nerv der Moderne oder Postmoderne trifft, kann Unentschiedenheit eigentlich nicht das Problem dessen sein, der zum ersten Mal ein gedankliches Instrumentarium an die Hand bekommt, mit dem er klar und deutlich operieren kann – woraufhin er dann alles, auch das Nichtsortierbare, sortieren und alles, auch das Nichtberechenbare, mal eben durchrechnen wird –, beziehungsweise muß diese von Descartes liebevoll ins Visier genommene Unentschiedenheit etwas anderes als die für die späte Moderne konstitutive Unentschiedenheit sein, von jedem Etwas zugleich sein Gegenteil aussagen zu müssen, also nichts ohne sein Gegenteil aussagen zu können; Beispiel: Der Philosoph ist dumm, weil er sich nicht an die Grundregeln hält. – Die Grundregeln sind schuld, daß der Philosoph dumm ist.

Für Descartes ist die Unentschiedenheit, die er so beschreibt, als wäre sie die des 20. Jahrhunderts, eine subjektive Unentschiedenheit, der man durch Verstärkung der objektiven Entscheidungsfaktoren begegnen kann. Die Unentschiedenheit des 20. Jahrhunderts dagegen ist eine objektive Unentschiedenheit, da das Denken, das die objektiven Entscheidungsfaktoren liefern soll, längst – in Gestalt von Bauplänen aller Art, theoretischen und praktischen Gedanken, kurz Verstand – so umfassend in dem zu Beurteilenden anwesend ist, daß es gar nicht mehr weiß, was es eigentlich ist, Praxis oder Theorie, und daher auch nicht weiß, ob das, was es mal eben denkt, sich nicht im nächsten Augenblick als praktischer Tip herausstellen wird: wie man eine Atombombe bastelt, einen Gasofen effektiviert oder ideologische Schulung betreibt. Folgt man der Kritischen Theorie, die sich mit diesem Dilemma des Denkens viel beschäftigt hat, so ist der objektiven Unentschiedenheit, die das Denken des 20. Jahrhunderts förmlich strukturiert – dieser transzendentalen Unentschiedenheit, was es eigentlich ist, und nicht, ob es alles richtig macht –, gar nicht zu begegnen, und es wäre daher schon aus diesem Grund prinzipiell und rigoros Essig mit der »leuchtenden Klarheit in meinem Verstand« (Meditationen, 53). Aber auch was den Grund dieser Unentschiedenheit betrifft, läßt sich bei Descartes, dem Klarheitsfanatiker – der sie angeblich gar nicht im Auge haben kann, höchstens schuld an ihr ist, so wie man heute schuld an etwas ist, nämlich indem man es auslöst, und der ihr nach heutigem Urteil auch gar nicht gewachsen wäre –, auch dazu also läßt sich schon bei ihm trefflich nachlesen. So als wäre er bei den Strukturalisten und Poststrukturalisten in die Schule gegangen, führt er nämlich die Irrtümer, den ganzen Komplex »Falschheit«, und gewiß auch den Hang zu Irrtümern, das charakteristische Schwanken, auf das Begehren zurück.

Es »kann«, sagt Descartes, »die Fähigkeit zu wollen […], für sich betrachtet, nicht die Ursache meiner Irrtümer sein […], ist sie doch höchst umfassend und in ihrer Art vollkommen, noch auch die Fähigkeit der Einsicht; denn alles, was ich einsehe, das sehe ich [ …] ohne Zweifel richtig ein, und hierin kann ich mich unmöglich täuschen. Woraus entstehen also meine Irrtümer? Nun – einzig und allein aus folgendem: da das Betätigungsfeld des Willens sich weiter erstreckt als der Verstand, schließe ich ihn nicht in dieselben Grenzen ein, sondern betätige ihn auch in Dingen, die ich nicht verstehe. Wenn er sich hiergegen gleichgültig verhält, weicht er leicht vom Wahren und Guten ab, und so irre […] ich.« (Meditationen, 53)

9

Ich gestehe, ich habe Gott aus der Argumentation entfernt – er purzelte so heraus, wie man es Descartes gemeinhin unterstellt, nämlich ohne eine Lücke oder gar ein satzbautechnisches Problem zu hinterlassen. Nur das »Gute« nimmt sich neben dem »Wahren« jetzt ein wenig unvermittelt aus, zu Recht; ohne Gott nämlich, den »lieben Gott«, kein Bezug auf Gutes.

»Die Fähigkeit zu wollen« ist »höchst umfassend und in ihrer Art vollkommen«, und ebenso ist es mit der »Fähigkeit der Einsicht: denn alles, was ich einsehe, das sehe ich […] ohne Zweifel richtig ein, und hierin kann ich mich unmöglich täuschen.« Streß entsteht nur, wie nicht anders zu erwarten, durch die Verquickung beider »Fähigkeiten«. Da das »Betätigungsfeld des Willens sich weiter erstreckt als der Verstand, schließe ich ihn nicht in dieselben Grenzen ein, sondern betätige ihn auch in Dingen, die ich nicht verstehe.«

Das ist nun alles andere als klar: Wer wird hier eingeschlossen, und um welche Grenzen handelt es sich? Es könnte nämlich auch sein, daß der Verstand, nachdem er das riesige »Betätigungsfeld des Willens« zur Kenntnis genommen hat, sich nicht länger in »dieselben Grenzen« einschließen läßt, in denen es ihm bis dahin ganz wohl war, daß er sich also wie der berühmte Esel aufs Eis locken läßt und, da er sich dann nicht mehr auskennt, »irrt«.

Die alte Übersetzung von Buchenau hat mit dieser Version nichts zu schaffen oder hat sie eindeutiger weggeschafft, aber dabei auch nicht jede Zweideutigkeit vermieden. »Woraus entstehen also meine Irrtümer? Nun – einzig und allein daraus, daß, während der Wille weiter reicht als der Verstand, ich jenen nicht in dessen Grenzen einschließe, sondern ihn auch auf das erstrecke, was ich nicht einsehe.« (Mit sämtl. Einwänden, Hamburg 1994, 49) »Jenen« ist ja noch in Ordnung, aber bei »dessen« hapert es schon wieder; warum um Gottes willen sagt Buchenau nicht »in den Grenzen von diesem« – und »diesem« wäre dann eben der Verstand?

Aber es gibt noch einen anderen Anlaß zu grübeln, und beide Übersetzer liefern hier hinreichend Grübelmaterial. Warum reicht der Wille weiter als der Verstand, oder, in der moderneren Übersetzung, warum »erstreckt sich« das »Betätigungsfeld« des Willens weiter als »der Verstand«, und warum wird in dieser Formulierung nicht wenigstens dem »Betätigungsfeld des Willens« ein »Betätigungsfeld« des Verstandes korreliert; wie schließlich – und das scheint das dringlichste Problem zu sein – soll man etwas in Grenzen einschließen wollen sollen, wenn sein »Betätigungsfeld«, also der Bereich, den es verwaltet, nun mal größer, als durch die Grenzen vorgegeben, ist? – wobei in der einen Übersetzung das »Betätigungsfeld« sich »erstreckt« und in der anderen, der älteren, »ich« ganz einfach den Willen »erstrecke«.

Man soll ja gar nicht. Descartes will nur zeigen, wie es zustande kommt, daß … Wie es aber zustande kommt, darüber gibt es – immer auf der Basis von Descartes – eigentlich nicht bloß zwei, sondern eben drei Versionen:

Erste Version: Das Wollen als ein im Grunde bloß anderer Ausdruck für menschliche Existenz kann bei seiner Betätigung, leben also, die Fortschritte des Denkens nicht abwarten, sondern muß sich betätigen und es im übrigen dem Denken anheimstellen, ob es das Wollen einholen und also den Menschen ein besseres als durch das Wollen repräsentierte Leben bescheren will. Das ist die humanistisch-aufklärerische Version.

Zweite Version: Wenn das Wollen als ein im Grunde bloß anderer Ausdruck für menschliche Existenz die Vorzüge des Denkens begriffen hat, wird es sein »Betätigungsfeld« auf die Maße und Umrisse des Betätigungsfeldes des letzteren zurückschneiden, damit es mit diesem deckungsgleich wird. Da nämlich das Denken eigentlich – und ich versuche hier, mit kantischen Tricks die alte Äquivokation zu lösen – kein Betätigungsfeld hat, sondern ein Betätigungsfeld ist (der klassische »Herrscher ohne Gebiet«), so kann es selbiges, das es ja nicht hat, auch nicht ausdehnen, und das Wollen oder das Leben muß schrumpfen. Auch dies ist eine aufklärerische Version, wenn man aufklärerisch hier als »problembewußt« nimmt, eine Art von stalinistischem Realismus.

Dritte Version: Entlassen aus dem vertrauten Gefängnis, in dem es, und nicht mal ungern, immer nur Zwei und Zwei zusammengerechnet hat, losgelassen auf das »Betätigungsgebiet des Wollens«, auf das Leben also, wahrhaftig das ganze Leben, außer Rand und Band, betätigt sich das Denken hier und da, greift zu, patscht drauf, mischt mit bei Dingen, von denen es nichts versteht und die es auch gar nichts angehen, »und so« – und jetzt bringe ich das Zitat zum ersten Mal vollständig –, »und so irre und sündige ich«. Das ist die moderne Version.

10 (Schluß)

Ich komme eilig zum Schluß. »Klarheit und Evidenz« habe ich meinen Vortrag genannt, damit suggerierend, und dazu stehe ich, wenn es sich lohne, beim alten Descartes in die Schule zu gehen, obwohl doch jedes Schulkind bei ihm – eben in die Schule geht, dann wegen dieser beiden Begriffe, die eine Utopie verkörpern und dabei in hervorragender Weise der einzigen Forderung genügen, die an eine Utopie, damit sie Utopie sei, gestellt werden muß: daß die ihr innewohnende Utopie zugleich ihr Alltag und ihre Alltäglichkeit ist.

Damit »Klarheit und Evidenz« ihren Charakter einer utopischen Alltäglichkeit herauskehren können, ist es freilich, wie wir gesehen haben, nötig, sie von jener ihr fälschlich vindizierten Utopie zu befreien, die, kurz gesagt, auf die Befreiung der Gattung zielt. Daß »Klarheit und Evidenz« im Kontext einer solchen Gattungsutopie sich weniger alltäglich als vielmehr terroristisch ausnehmen müssen, insofern sie das zu Befreiende in den Zustand eines von seiner Kontingenz zu heilenden Kontingenten versetzen, um sich ihm als Therapeutikum wärmstens und meistens blutig anzuempfehlen, das lehrt, wie man so schön sagt, die Geschichte. Die Philosophiegeschichte liefert zum Begreifen die philosophische Bruchstelle dazu: die Inanspruchnahme und Beerbung – nicht, wie es gemeinhin den Anschein hat, die Kritik, Verteufelung oder Verleugnung – der Erkenntnistheorie durch die Geschichtsphilosophie, die Umfunktionierung des erkenntnistheoretisch Begründeten in ein geschichtsphilosophisch Verheißenes sorgt für eine dauerhafte Zweideutigkeit und ist letztendlich dafür verantwortlich, daß jede noch so begnadet formulierte Befreiungstheorie auf Anhieb und spontan furchterregender wirkt und eine größere Schreckensperspektive eröffnet als das, wogegen sie antritt, kommt aus der (Erkenntnis-)theorie doch etwas als Strategie in die Praxis hinein, was diese normalerweise nur als ein passives Potential auf der Objektseite kennt, als ein in den Objekten sedimentiertes Denken, das sich allenfalls auf dem Wege von Unfällen, als Gasexplosion beispielsweise, zum Ausdruck bringen könnte, aber nie als industrialisierte Menschenvernichtung durch Gas.

Schicken wir »Klarheit und Evidenz« also dahin zurück, wo sie herkommen, in die Erkenntnistheorie. Und da dieses Zurückschicken selbst die eigentliche Aufgabe und überhaupt ausschließlich das ist, was eben »Klarheit und Evidenz« verspricht, brauchen wir uns vor dem tautologischen Schwachsinn und Formalismus moderner Erkenntistheorie nicht zu grausen, nicht davor nämlich, mit ihr in einen Topf geschmissen zu werden oder letztlich, mit zunehmender Verkalkung oder zunehmendem Einkommen, da zu landen, wo sie immer schon ist. Wenn etwas »klar und evident« ist, dann jedenfalls nicht, daß zwei und zwei vier ist; über die natürliche, Klarheit nur in der Tautologie versprechende Kontingenz dieser Rechenart ließe sich ewig grübeln. Wenn etwas »klar und evident« ist, im Sinn jener angesprochenen alltäglichen Utopie, dann vielmehr dies, daß nicht nur das höchste Ziel des Denkens »Klarheit und Evidenz« ist, sondern daß »Klarheit und Evidenz« eine Beglaubigung dafür sind, daß das Denken bei sich, also authentisch ist, daß es sich jenem bereits von Descartes avisierten Prozeß anbequemt, die Wirklichkeit in der ihr einzig zugänglichen Weise zu erkennen, ex negativo nämlich, indem sie sich aus ihr zurückzieht und sie als das »Betätigungsfeld des Wollens« anerkennt.

Denn Erkenntnis ist nun mal – das ist »klar und evident« – eine tautologische Formulierung und Funktion des Denkens, und Denken – das ist ebenso »klar und evident« – ist nun mal ein negativer Prozeß. In ihm werden freilich die Objekte nicht länger gefressen; auch das ist ja eine Form der Negation (und der Erkenntnis). Das gefräßige Denksubjekt gibt vielmehr das von ihm Gefressene durchaus (kotz-)brockenmäßig wieder heraus. Indem es aber so sich selbst negiert, erkennt es – und das ist die alltägliche Utopie, die in »Klarheit und Evidenz« steckt – per Negation die aus spontanem Denken vielfältigst zusammengesetzte und deshalb bis in ihre Feinstruktur für das Denken erkennbare gesellschaftliche Wirklichkeit.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt17.html.
Vortrag, gehalten beim Jour fixe des ISF Freiburg im Herbst 1995.
Veröffentlicht in: Mutmaszung 1 (2004), 38–46.

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