Ilse Bindseil

Wenn ich aufgerufen würde

Wenn ich aufgerufen würde, die Wahrheit zu sagen –
Ich, die nie jemand gefragt hat
Mich hat man ausgewählt
Ich darf sagen, was Sache ist
Von mir will man es wissen
Hier und jetzt darf ich sagen, worum es geht

Und wenn ich dann stumm bliebe
Nicht weil ich aufgeregt
Oder zu alt
Oder zu dumm bin
Oder weil mir das Wort in der Kehle stockt
Vor Ehrfurcht –

Auch nicht, weil die Wahrheit zu kompliziert wäre
Oder die Öffentlichkeit nicht verträgt, das Licht der Welt.
Die Wahrheit ist: Sie existiert einfach.
(Daß ich das weiß, zeigt ja, daß sie existiert.)
(Daß sie einfach ist, heißt: Mit ihr kann man nicht argumentieren.)
Pro und contra kennt sie nicht.

Alle Dialektik rührt daher, daß sie sich nicht aussprechen läßt
Alles Unglück daher, daß mich keiner ruft
Alles Glück, daß es darauf nicht ankommt

Aber wenn ich aufgerufen werde, die Wahrheit zu sagen
Will ich aufstehen und
Zeugnis ablegen


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt18.html.
(für Frauensoli, gemischten Chor, Flöte/Violine, Klarinette/Bratsche, Fagott/Violoncello und Klavier), Musik: Susanne Jüdes, uraufgeführt: 29.November 2003 zum 30.Jubiläum des Hanns Eisler Chores im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin.
Veröffentlicht in: So wie es bleibt, ist es nicht [Programmheft], 12, samt einem Kommentar von Ilse Bindseil und Susanne Jüdes (28–29).

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