Ilse Bindseil
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Man muß schon fest im analytischen Sattel sitzen, um beim Gedanken an Borderline kein Unbehagen zu empfinden. Nicht beim Gedanken an die Krankheit; alle Krankheiten sind poetisch, in sich vernünftig und so konsistent, daß die Normalität sich eine Scheibe davon abschneiden kann. Sondern beim Gedanken an den Kranken.
Man muß sich der alten Freudschen Unterscheidung von Neurose und Psychose schon sehr sicher sein, um nicht daran zu zweifeln, daß die Psychose das Oder der Neurose ist und letztere nicht etwa die höchst unerfreuliche Ausgabe einer Normalität, die sich gesundstößt, indem sie die andern krank macht, einer Normalität, in der es um Besitzansprüche geht und in der das Recht des Stärkeren zählt und nichts sonst.
Kurz, man muß über einen verläßlichen Krankheitsbegriff oder aber über eine eiserne Gesundheit verfügen, um am Urteil »krank gleich schwach« auch in den schwierigen Gewässern des Borderline-Syndroms festzuhalten und sich ›viel zu krank‹, ›nicht-analysefähig‹ am Ende aus Erschöpfung oder Verzweiflung nicht einfach mit ›stärker‹ zu übersetzen.
Gelegentlich scheint schon bei Freud die narzißtische Störung auf, die nach ihm Karriere machen wird und ihrem harmlosen Namen zum Trotz, der an eine Ton- oder Bildstörung erinnert, Böses meint, etwas in der Richtung eines ›Defekts‹ – wie ihn jüngst ein Therapeut in einer Talkshow bei Kinderschändern ausgemacht hat (Ostern 1998) –, etwas das, wäre es bloß kaputt, ja gar nicht so schlimm wäre, das aber postmodern auf eine andere Gesellschaft, eine andere Ordnung deutet. Eine reine Machtfrage wäre es unter diesen Auspizien, wer leiden muß und wer nicht, der Kranke oder die andern. Und daran ändert auch das heftige, zur Schau getragene Leiden der Borderliner nichts, leidet in ihnen doch abwechselnd der eine und die anderen.
Wilhelm Reich hat in seiner Charakteranalyse, dieser urmodernen, Durchblick und Machtfülle verheißenden Handreichung zur Sortierung, mehr noch Identifizierung von Charaktertypen natürlich auch den ›narzißtischen Charakter‹ ausgebreitet. In seinen Analysen avanciert, was bei Freud Krankheit ist, zum Funktionszentrum der Person, Angelpunkt ihres Funktionierens. Man kann diese Krankheit also gar nicht heilen, ohne die dazugehörige Person kaputtzumachen. Kaputt gemacht zu werden ist denn auch das demonstrierte, herausposaunte Schicksal des Borderline-Kranken, sein Logo, sein eigentliches Krankheitsgefühl oder sagen wir seine kranke Erfahrung. Verteidigung dieses durch die Menschen im allgemeinen, durch Nahestehende im besonderen und insbesondere durch Therapeuten bedrohten Funktionszentrums, des eigentlichen Horts seiner Vitalität ist das aggressiv, mit der Wut der Selbsterhaltung verfolgte Ziel. »Macht kaputt, was euch kaputt macht«: dieser berühmte Schlachtruf des Heidelberger Patientenkollektivs war denn auch nicht eigentlich politisch, sondern eigentlich borderline, die klassische Parole derer, die nicht nur befreit werden wollen, sondern gleichzeitig etwas zu verteidigen haben, eben das, wovon sie befreit werden müßten.
Spätere psychoanalytische Konzepte haben sich dem Borderline-Phänomen rigoros gestellt, allen voran das Melanie Kleins. Sie haben die besondere Borderline-Problematik, das Fehlen eines stabilen Ich und eines nicht durch Allmachtphantasien in Frage gestellten Leidensdrucks als verläßliche Bündnispartner des Analytikers, zu einer allgemeinen Entwicklungsproblematik des Menschen gemacht und damit der modernen Ich-Schwäche Rechnung getragen, der Tatsache, daß Ich-Stabilität und Leidensfähigkeit (statt Verleugnungssucht) mittlerweile zu einem therapeutischen Ziel, statt einer Voraussetzung und Bedingung von Therapie geworden sind; umgekehrt zugleich zu einer (utopischen) Voraussetzung für eine klassische neurotische Erkrankung, denn nur wer über ein am psychischen Instanzenmodell gebildetes, entsprechend durchgebildetes Ich verfügt, leidet. Angesichts einer allgemeinen Ich-Schwäche als faktischer Bedingung für reibungsloses Zusammenleben kann das Ich heute durchaus als psychischer Anknüpfungspunkt für ein an sich sinnloses Leiden, als selbst krankmachend, neurosenträchtig gelten. Seine Aufspaltung in gleichzeitig Utopie und Ärgernis beweist, daß es zumindest altmodisch und als Modell hoffnungslos veraltet ist.
Der Niedergang des Ich – dessen Bündnisfähigkeit Freud für die von ihm vorgeschlagene Neurosenbehandlung voraussetzte – spiegelt sich in der Psychoanalyse, und dies nicht nur in der einsinnigen Weise, daß sie an seiner Herstellung im Vorfeld arbeiten muß, es also nicht nur mit Rekonstruktions-, auch mit Konstruktionsaufgaben zu tun hat; in der paradoxen Weise vielmehr, daß das Ich, wiewohl aufgeladen wie nie zuvor, nicht mehr die alte Rolle spielt beziehungsweise nicht mehr dasselbe Ich ist. In der Tat kann keine Therapie der Welt wiederherstellen, was in der Welt kaputtging; auch die sogenannte analytische Kur nicht. Und so zielt auch die moderne Borderline-Therapie nicht auf die Wiederherstellung eines zugegebenermaßen neurotischen Ich, das sich in seiner Vermittlertätigkeit, seiner beständigen Realitätsprüfung aufreibt, sondern gewissermaßen auf die emphatische Herstellung eines Nicht- oder anderen Ich. Was sie an therapeutischen Zielvorstellungen entwickelt, kann unmöglich auf anderes gerichtet sein als auf die kurative Interpretation dessen, was ist.
Die analytische Therapie ist zu einem Ort geworden, an dem die Fähigkeiten eines modernen, postneurotischen Ich eingeübt werden, das mit dem traditionellen nur noch wenig zu tun hat, mit ihm auch nicht verwechselt werden darf. Es handelt sich um Reflexions- und Leidensfähigkeiten, die sich von ihren herkömmlichen Erscheinungsformen auf den ersten Blick durch ihren neuartigen Positivismus unterscheiden, der mit den Freudschen Einschränkungen der neurotischen Realität, der Differenz etwa zwischen (unbewußter!) Phantasie und Wirklichkeit, infantilem Triebbedürfnis und reifem Ich, nur noch wenig anzufangen weiß, nur die Einschränkung an ihnen gewahrt und auf Entschränkung zielt.
Dabei denkt das moderne, postneurotische Ich beziehungsweise sein Analytiker nicht weniger scharf als das neurotische, eher ungleich schärfer, scheint es vom Ballast überheblicher Ich-Rücksichten doch befreit; zeitgenössische analytische Interpretationen, die sich der Rekonstruktion der Logik von Prozessen verschreiben, die im genauen Sinn nicht ich-gesteuert sind, sind denn auch nicht weniger faszinierend als die Deutungen Freuds. Mit mehr Recht könnte man behaupten, daß das Leiden eine andere Rolle darin spielt, die sich vielleicht auf früheste Abreaktionen zurückbeziehen ließe, auf infantilen Schmerz, der in einen gemäßigten Dauerzustand transformiert wird, in ein nie endendes Trauern.
Überein aber kommen Reflexions- und Leidensfähigkeit darin, daß sie sich nicht als psychische Vermögen im allgemeinen definieren, sich vielmehr auf eine eigene Sphäre richten. Husserl, der für vieles Verantwortliche, liefert auch hierfür das Modell. Denn genauso, wie sein Phänomenologe die natürliche Welt nicht kartesianisch in Zweifel zieht, nur einklammert, um das besser ins Auge zu fassen, was es an Wesenhaftem zu sehen gibt, so klammert auch das moderne therapeutische Subjekt die Wirklichkeit ein, in der wie eh und je von ihm verlangt wird, daß es tatkräftig agiert; der wesenhaften Wirklichkeit seiner seelischen Verfassung aber begegnet es mit einer Epoche‚ und einem Leiden, die nie müde werden und sich nie erschöpfen und die immer dann in Erscheinung treten, wenn von Welt auf Seele, von Gegenwart auf Vergangenheit, von außengeleitetem Tun auf inneres Erleben umgeschaltet wird.
In dieser modernen Erscheinungsform ist die Psychotherapie mehr als nur, wie der saloppe Ausdruck vom Seelenklempner sagt, ein Reparaturinstitut für eine psychotisch entgleiste Gesellschaft, die zwischen paranoider und schizoider Position hin- und herschlingert: Sie ist produktiv. Wenn schon für die Freudsche Analyse galt, daß in ihr nicht nach den ›normalen‹ Regeln des Denkens, Kommunizierens und Zusammenlebens verfahren wurde, dann gilt dasselbe für die moderne Borderline-Therapie zugleich zugespitzt und entschärft. Brachte die Freudsche Analyse das Verleugnete des Alltags aufs Tapet, so entwickelt die moderne analytische Psychotherapie Erkenntnisformen, Grübelformen, Fühlformen, die ihre manifeste Absonderlichkeit in einer Gesellschaft, in der nichts dergleichen eine Rolle spielt, gleichwohl nicht nur als Stigma haben, vielmehr als natürlichen Ausdruck einer Selbständigkeit oder Arbeitsteilung, die in der Autonomie, man könnte auch sagen in der vollzogenen Abspaltung ihres Gegenstands, seiner sekundären Grundlegung, begründet ist: Klammerst du die ›natürliche Welt‹ (Husserl) ein, dann enthüllt sich dir ihre andere Version, als Gefühlsdrama, Seelendrama. So aberwitzig, als Allerweltsausdruck, die Rede von ›paranoid-schizoid‹ erscheint, so sehr sie die Welt auszuhebeln bestimmt, alle beschwichtigenden Versionen von ihr oder aber sich selbst zu denunzieren scheint, so klagt das in ihr beschworene Chaos doch nicht nur dramatische Geltung ein, sondern relativiert sich, als Ausdruck einer bestimmten Sichtweise und Erlebnisform, zugleich. Die gilt nämlich nicht unumschränkt. Niemand verlangt, daß jemand, der sich als fragmentiert erlebt, konsequent in tausend Teile zerspringt – wenn er das tut, wird er psychiatrisch verwahrt, und mit der Grenzgängerei ist es vorbei. Erwartet wird von ihm, daß er die ›depressive Position‹ erreicht; in verfälschender Kürze: daß er sich, so wie der Freudsche Patient mit seinen infantilen Triebwünschen, mit seinen frühen Objekten konfrontiert, wo ersterer aber Verzicht übt, Verlust konstatiert. In dieser Bewegung vom Verzicht zum Verlust liegt vielleicht die gesamte Entwicklung vom neurotischen zum Borderline-Patienten, von Freud zu Klein beschlossen, von der neurotischen zur narzißtischen Störung, vom gestörten Ich zum gestörten Es, vom leidenden Subjekt, das von seinem Leiden befreit, zum beschädigten Subjekt, das Schadensersatz reklamiert. Ist der neurotische Mensch von seiner Neurose geheilt, so bleibt ihm das Wissen um die Fragilität der Ich-Organisation, die Fragilität aller Gesundheit. Ist der Borderline-Patient von seiner Störung befreit, so hat er die reflexive Verfügung über einen Bereich erlangt, den er zuvor als fremden erlebt und als Fremder ausagiert hat: er kann jetzt anfangen zu trauern.
Nicht immer fügt der Patient sich einer solchen Perspektive. Was soll einem Trauer, wenn man unter Größe gelitten hat! Was bringt ein Zusammenhang, wenn jedes einzelne Fragment größer, prächtiger, abenteuerlicher ist als das versprochene triste Ganze! Um nichts in der Welt würde der Borderline-Patient geheilt werden wollen, würde er nicht von Ängsten gebeutelt, von seiner eigenen Allmacht zutiefst bedroht. Aber er will ja auch gar nicht geheilt, gerettet will er werden! Wer ihm unter solchen Umständen mit Trauer kommt, dem lacht er ins Gesicht. Kleinmachen wollen sie ihn, erst seine Umwelt, die sich skandalöserweise für normal hält und der seine Allmachtsphantasien auf die Nerven gehen; dann sein erster Therapeut, dann sein zweiter! Mit der enormen Kraft dessen, der letztere eben nicht in die Herstellung und Bewahrung von Zusammenhang, in Abwägen, Ausgleichen und Austarieren stecken muß, sondern sie ungehemmt dahin zurückbefördern darf, wo sie herkommt, ins Fragment, richtet er sich auf Selbstverteidigung ein, schlägt auf jedem neuen Schauplatz mit unerschöpflicher Energie die letzte Schlacht, zielt in durchaus rationalem Kalkül auf die Erschöpfung der Kräfte des Gegners. Er wäre logischerweise auch immer erfolgreich – denn wer sollte mithalten können mit ihm, der nur Fragmente zu verteidigen hat, wo andere das logische Ganze im Sinn haben –, würde er nicht an sich selbst zusammenbrechen, an seiner eigenen Kraft. Da ist er dann vorübergehend klein, und aus dieser Perspektive mag die depressive Position, die Position reflektierter Trauer, trauervoller Aneignung seiner selbst einen günstigen, aber zweifellos transitorischen Moment lang erstrebenswert, ja als Ergebnis eines vom Therapeuten und ihm gemeinsam gefaßten Plans und gemeinsam formulierten Ziels erscheinen.
Da der Fortschritt sich nur über Arbeit, die Arbeit sich wesentlich an Allmachtsphantasien vollzieht, ist Scheitern vielfältig vorprogrammiert. Nie versäumt es der Patient, für den Therapeuten die Borderline-Falle zu spannen; letzterer kann gar nicht verfehlen hineinzutappen: entweder schwach – zu schwach für das Leiden, dem er konfrontiert ist – oder aber schlecht und böse zu sein. Mag die Fallenstellerei selbst auch als Beweis für Krankheit, im äußersten Fall für Nichttherapierbarkeit interpretiert werden, so steht der Vorwurf doch im Raum. Immer wird der realistischen Möglichkeit eines schwachen oder schlechten Menschen sich der projizierte Vorwurf eines unfähigen oder bösen Therapeuten unterlegen. Unter dem Druck von Borderline bricht der Unterschied zwischen äußerlichster Realität und innerstem Krankheitsgeschehen zusammen.
So stark ist der Borderline-Patient, daß die Triade, gebildet aus Analytiker, Patient und Krankheit, nicht mehr zieht. Im Borderline-Modell substituiert sich der herkömmlichen eine andere Triade, die die Auseinandersetzung zuspitzt, zugleich die therapeutische Situation tendenziell auflöst, ihr kurz gesagt das Therapeutische nimmt. In ihr kämpfen der Analytiker und sein Patient um die Welt. Letztere nimmt den Charakter eines schützenswerten Objekts an, bietet sich dar als der eigentliche Patient, der, dem man Aufmerksamkeit zuwenden, um den man sich eigentlich bemühen, dem man, in mutigem Bündnis mit dem Patienten, auf die Beine helfen müßte. Aber natürlich kommt diese Aktion nicht zustande. Die Welt verkommt zum Zankapfel; gerade mal, daß ein Schatten von schlechtem Gewissen die Auseinandersetzung begleitet, so als gäbe es noch einen unbeachteten Dritten, den man aus unerfindlichen Gründen nicht in den Blick kriegt, so als wäre die ganze Situation irgendwie schief.
Dem Therapeuten bleibt denn auch der Eindruck nicht erspart, wie in einer realen Auseinandersetzung an die Wand gedrückt, vermindert, verringert, kleingemacht, im günstigsten Fall immer noch vernutzt, ja regelrecht mißbraucht zu werden. Im Kampf um die Interpretationsmacht ist er durch das therapeutische Setting freilich begünstigt, bezahlt seinen Vorteil aber mit einer Verdoppelung der Anforderungen: daß er um dieses Setting kämpfen muß, die Therapie nicht zum Schauplatz unkontrollierter Kämpfe mit ungewissem Ausgang verkommen lassen darf. In der normalen, durch Hemmungen strukturierten Realität findet der Kampf eher mit umgekehrten Vorzeichen statt, das heißt, der Vorteil liegt vorerst beim Kranken.
Angesichts der elementaren Katastrophen, die ihn von innen bedrohen, braucht der Borderliner weder Umgangsformen zu pflegen noch Rücksichten zu wahren. An seine Selbsterhaltung muß er denken, das verlorene Gleichgewicht wiederherstellen, notfalls auf der Basis eines allgemeinen Scherbenhaufens. »Du bist ja krank!«, dieser äußerste Vorwurf, der ihm wie eine Exorzismusformel entgegengeschleudert wird, ist das Gegenteil hegemonialen Ausdrucks, ohnmächtige Grenzziehung vielmehr und als Grenze Ausdruck der Ohnmacht. Die Begrenztheit der Realität wird durch Grenzziehung markiert, ihre mangelnde Universalität, ihre ihrem eigenen Begriff widersprechende Partikularität wird eingestanden, wenn es beschwörend und keineswegs verschwörerisch heißt: Bis hierhin und nicht weiter! Da bleib du, hier fangen wir an!
Manchmal ist die Formulierung durchaus hegemonial gemeint, häufig von Achselzucken begleitet: »Der [oder die] ist ja krank!« Freilich, pure Namensgewalt ist es, jemanden für krank zu erklären. Hat man einmal damit angefangen, droht jederzeit Rollenwechsel. Sagt der andere, er, der es ›nicht mal‹ zum Subjekt gebracht hat, was ich zu ihm sagen wollte, zu mir: »Du bist ja krank!« – und das trifft auf das neurotische Ich zweifellos zu –, dann ist mehr als nur eine Auseinandersetzung verloren. Die bürgerliche Realität, die auf disziplinierte Subjekte setzt, mit wildgewordenen Objekte nicht rechnet, hat ihre Definitionsmacht, sie hat ihre Geltungsmacht verloren. Ich bin am Ende, oder das Ich ist am Ende.
Die Psychiatrisierung politischer Gegner, die als Entartung schlechthin des bürgerlichen Lebens, des politischen Lebens, geordneter Verhältnisse gilt, erweist sich unter diesen Auspizien als logisch und normal; stinknormal. Da es ein Jenseits, in das die psychisch Kranken abrutschen, sich expatriieren könnten, bis auf weiteres oder auf Widerruf sich installieren könnten, nicht gibt, jede Krankheit vielmehr innerhalb der Realität, damit aber auch innerhalb der Normalität stattfindet, so ist es nicht verwunderlich, wenn die Realität sich ihrer bedient. Sinnlos und für den Verstand letzten Endes ruinös ist es dagegen, zwischen Realität und Normalität eine Grenze zu errichten, so als wären sie nicht ein und dasselbe, sondern verschieden: die Realität ein Ganzes, in dem Unnormales doch immer nur real sein kann, die Normalität ein Teil, der sie im Widerspruch zu ihrem eigenen Begriff als Partikel bestimmt. Angesichts der üblen – im Vergleich zur etablierten Schizophrenie aber geradezu erfrischend synthetischen – Praxis, Gegner als verrückt zu klassifizieren und mit Verrückten zusammenzusperren, etwa von Perversion, Kränkung jeglichen menschlichen Selbstverständnisses zu sprechen ist ein Kotau nicht nur vor einer politischen Strategie, die nicht mieser als jede andere ist, sondern auch vor den Gemeinplätzen unserer Zivilisation, die faktisch längst über sie hinaus ist; Gemeinplätzen, als da sind: mein (mein!) Verstand gehört mir, oder: lieber unglücklich als verrückt, oder: lieber tot als entmündigt!
Drücken wir es postmodern aus: Wenn die Dominanz der Realität jede Wertung zu ›Schmuckadjektiven‹ herabsetzt, als Bestandteil einer allgemeinen Rhetorik entlarvt, oder anders gesagt, wenn die Einheit der Realität jeden Aufstandsversuch ihrer Segmente als Beitrag begrüßt und als Abspaltungsversuch lächerlich macht, dann zählen Interpretationen zugleich wenig und viel. Wenig in vertikaler Richtung, und wem an Hierarchien, Skalen, Wertigkeiten oder an Polaritäten, Variationen des Verhältnisses von Sein und Nichts, gelegen ist, wird unvermeidlich frustriert. Viel dagegen in horizontaler Richtung; denn das Abgewertete ist real, nicht mehr und nicht weniger real wie im übrigen die Abwertung. Sowenig nämlich das Abgewertete irrealisiert wird, sowenig ist die Abwertung selbst Realität setzend, einfach nur da: kampfentschlossen – sonst wäre sie nicht ein solch schmutziges Mittel – und bekämpfbar.
So enthält die perverseste Erscheinungsform der Politik, die Psychiatrisierung der Gegner, nichts, was den Begriff der Politik sprengt. Auch die vielleicht unangenehmste Erscheinungsform der psychischen Erkrankung, die die ihr gewidmete Begriffsarbeit negiert, nicht als Krankheit gewürdigt, vielmehr in ihren maßlosen Ansprüchen gegenüber der Realität unterstützt werden will, ist nicht per definitionem der Krankheit irreal, stellt vielmehr die Realitätsfrage. Was die moderne, auf Verstehen orientierte Psychologie, indem sie beispielsweise Psychopathie und Querulantentum vom Status minderer Normalität zu dem einer eigenen Krankheit beförderte, an unreflektierter Realitätsverdoppelung, an ebenso faszinierender wie mysteriöser Sortierung der Realität nach Wirklichkeitsgraden, eigentlicher und uneigentlicher Realität, in Kauf nahm, das korrigiert die postmoderne Psychologie bereits zurück. Ruhte das Verständnis noch für den grell ausagierten psychischen Konflikt auf seiner geradezu ontologischen Einordnung als psychisch, das heißt als von der gesellschaftlichen Totalität abgespalten, eben nur privat, nicht gesellschaftlich dominant, so steht diese Abspaltung heute auf dem Spiel und das Abgespaltene konsequent zur Neuformulierung an. Auch wenn man noch so gern nicht bloß Unterschiede, sondern Realitätsgrade, essentielle Unterschiede hätte und ohne sie nicht leben zu können glaubt: Immer findet ein Kampf unter Gleichen und um dieselbe Realität statt.
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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 103 (1998), 101–106.
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