Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Selbstporträt mit Depression

Im Speckgürtel

Sonntags würde ihr Freund gern einen Ausflug machen. Seit der Wiedervereinigung machen alle Leute sonntags einen Ausflug. Ins Potsdamer Seengebiet, in die Schorfheide, in den Fläming. Nach Wandlitz oder nach Rheinsberg. Kühne fahren bis an die See, Sparsame zum Einkaufen nach Polen, Sportliche mit den Rädern ins Oderbruch. Sie würde auch gern einen Ausflug machen. Aber allein schon das Wort hat etwas Belastendes: so als dürften nur die, die fliegen können, und die andern nicht. Sie sind alle ausgeflogen, sagt ihre Großtante, wenn sie deutlich machen will, daß die Herrschaften weggefahren sind. Sie, die Großnichte, gehört durchaus zu den Herrschaften. Aber sie kann nicht fliegen.

Bei der besonderen Lage Berlins – die schon Unica Zürn hervorgehoben hat – wäre Fliegen dringend erforderlich; früher wegen Mauer und DDR, heute wegen dem Speckgürtel.

Wenn sie so zu Hause sitzt und von Ausflug redet, dann denkt sie: Ist ja alles schön und gut, Königs Wusterhausen, Angermünde und Lehnitzer See, wenn nur der Speckgürtel nicht wäre. Sie kann sich nicht vorstellen, daß sie da durchkommt, vom Zurück ganz zu schweigen. Ihr Freund denkt nicht an den Speckgürtel. Warum rechnet er nicht mit ihm? Vielleicht, wenn er mit ihm rechnete, dann könnte sie sagen: Ach was, die paar Orte, und selbst wenn’s einen Stau gibt! So ist sie ganz allein für den Speckgürtel verantwortlich, dafür, daß man sich nicht fahrlässig hineinbegibt, daß er sich nicht willkürlich enger schnallt, daß man von ihm weiß und ihm Rechnung trägt. Mit Wissen allein ist es offenbar nicht getan. Wenn es so wäre, könnte man darüber reden. Alle wissen von ihm, aber sie ist offenbar ist die einzige, die ihn ernst nimmt. Sie spürt ihn in jeder Fiber.

Der Speckgürtel hat seinen Namen nicht von ungefähr. Seine Entstehung gleicht der der Butter. Da hat der Frosch in der Milch gestrampelt, und es wurde Butter daraus. Sie, Ausflügen gegenüber durchaus aufgeschlossen, sieht die vielen, die im flüssigen Fett gestrampelt haben, und siehe, es wurde Speck daraus – oder aus ihnen.

Schon der Frosch hat das nicht gemacht, um seine hübschen Beine zu zeigen. Er wollte nicht in der Milch ertrinken. Auch die vielen, die den Speckgürtel um Berlin festgetrampelt haben, haben es nicht freiwillig getan. Und manch einer, der strampelt, geht unter.

Manchmal gelingt es ihnen gemeinsam, den Speckgürtel zu durchbrechen, ihr und ihrem Freund. Manchmal, wenn sie stark sind oder wenn sie sehr innig miteinander sind. Oder wenn ein uraltes Ritual lebendig wird: Heute ist Ausflugstag. Ich schmiere die Stullen, und du siehst nach dem Benzin. Wenn das Ritual nicht nur für die andern ist.

Manchmal scheint die Sonne beim Aufwachen schräg ins Bett. Da weiß sie: Sie werden einen Ausflug machen. Auf ihren Strahlen kann man über jeden Speckgürtel klettern. Ihr Licht blendet so, daß die nahen Gegenstände im Schatten versinken. Wie soll sie sich an den Schreibtisch setzen, wenn sie ihn nicht sieht? An welchen Schreibtisch? Heute hat die Ferne eine Chance.

Unterwegs, das ist Leben. Sieh nur, sagt sie. Kuck. Sie sprudelt über von Beobachtungen und Eindrücken. Bereitwillig wendet ihr Freund den Kopf hin und her. Sieh mal hier und dort. Wenn ihr Vater einer Frau das höchste Kompliment machen wollte, dann hat er sie übersprudelnd genannt; er selbst ein hartnäckiger Depressiver.

Sie kann es nicht glauben, daß alles so nah ist, so erreichbar. Jeder verdammte Vorort hat einen alten Ortskern, der es verdiente, daß man ihn würdigt wie die Altstadt von Augsburg. Hier reicht ein Feld, da ein Moor bis an die Stadtgrenze. Andere fahren nach Finnland, um die Tundra, andere nach Werweißwohin, um einen Storch zu sehen. Hier steht er auf der Wiese.

Und ich dachte, es wäre alles dicht, sagt sie. Sie muß über sich selbst lachen. Sie lacht:

Ich dachte, man käme gar nicht durch. Ich dachte, es gäbe nur Ikea und Bauhaus und Mediamarkt. Sie sagt:

Ich dachte, man sieht nichts.

Sie hat gewußt, daß es in der Umgebung von Berlin viel zu sehen gibt. Aber sie hat es nicht geglaubt. Wenn die Zeitung schreibt: In der Schorfheide gibt es noch viel zu erforschen, dann hat sie sich nicht angesprochen gefühlt. Andere mochten sich angesprochen fühlen, sie nicht. Sie hat einen anderen Begriff von Erforschen. Wenn schon einer weiß, daß es viel zu sehen gibt, was soll man dann noch erforschen?

Andererseits hat sie immer das Gefühl, sie schafft es nie. Schon wenn die Zeitung die Freizeitseite überschreibt mit »Rund um Berlin«, dann weiß sie, daß es nicht zu schaffen ist. Früher, wenn sie gewandert ist, ist sie stets von da nach da gegangen. Rund um …, das ist nicht nur weit, sondern sinnlos. Es ist auch zu unsicher. Schon die kleinste Erweiterung hat unabsehbare Folgen. Selbst wenn sie die Sonnenstrahlen zu Hilfe nimmt, heute ein Strahl nach dort, morgen ein Strahl nach dort: immer wird ihr etwas entgehen.

Mit jedem Strahl ein neues Segment, genauer gesagt zwei, das ist zuviel. Mehr werden muß das Unbekannte nicht. Schlimm genug, wenn es nicht zu verringern ist.

Von solchen Überlegungen fühlt sie sich eigentümlich geschwächt.

Draußen vor der Tür

Ein deutscher Bahnhof, das ist für sie: die Unannehmlichkeiten von Draußen, gekappt um die Annehmlichkeiten. Zugegeben, die Erinnerung ist alt, noch ganz von früher. So ist das mit den Prägungen.

Wenn man einen Bahnhof betritt, hört der Wind auf, und man merkt, wie kalt es wirklich ist.

Wenn man einen Bahnhof betritt, hat man die Kälte von draußen und die stockige Luft von drinnen.

Bahnhof ist, was zahlreich aufgesucht, aber niemals bewohnt wird, was genutzt und daher abgenutzt wird, aber niemals eingerichtet wirkt.

Bahnhof, da ließe sich viel zu sagen: über die Aschenbecher, die Drahtsessel, den falschen Granit.

Insgesamt ist es ein Ort, wo man sich hübsch hinsetzt und wartet.

Wenn sie in ihre Wohnung kommt, ist es leer wie auf dem Bahnhof. Kaum daß sie merkt, daß die Zimmer überschlagen sind. Nur aus Konvention entschließt sie sich, die Jacke auszuziehen. Manchmal, wenn es ganz dicke kommt, zieht sie sie wieder an; aber das ist eine neuere Erfindung und keine schlechte.

Früher, wenn sie zerstreut war, hat sie sich gelegentlich in der Haustür, im Stockwerk geirrt. Peinlich, wenn man mit dem Schlüssel zur eigenen Wohnung an der Tür einer fremden herummacht. Gottseidank hält sie, die ja die eigene Tür eines andern ist, stand. Was man von der eigenen auch erwarten können möchte.

Ihre eigene öffnet sich bereitwillig, bis auf die Male, wo sie Schloß oder Schlüssel verwechselt hat; meistens kommt gerade jemand vorbei. Die Wohnung bietet immer eine Überraschung.

Entweder scheint soeben jemand ausgezogen, gähnend leer sind die hübsch um den Flur angeordneten Räume. Nur der Erker des Erkerzimmers füllt die zur Verfügung gestellte Fläche, sein Erkersein füllt den Erker vollkommen aus. Der Balkon des Balkonzimmers aber scheint an die Platane vor dem Haus abgetreten. Die Möbel säumen das Rund. Sie haben sich in Halb- und Flachreliefs verwandelt, müssen eins nach dem andern aus dem Mauerwerk gekratzt, durch mühsame Handarbeit wieder zu Funktion und Profil gebracht werden. Ein ausführlicher Rundgang steht ihr bevor.

Oder es ist schon jemand eingezogen. Während sie weg war, ist er hereingekommen und hat seine Sachen hingestellt. Pech für sie. Wenn man einen Beruf mit regelmäßiger Arbeitszeit hat, ist man ausrechenbar. Aus dem Rest seines Privatlebens kann man leicht hinausgedrängt werden. Sie hat schon überlegt, ob sie ganz zu Hause bleiben soll. Sie hängt nicht besonders an ihrem Beruf. Aber sie schätzt die Verläßlichkeit ihrer Tätigkeit. Arbeitskollegen haben analoge Pflichten und Interessen. Niemand kommt ihr heimtückisch dazwischen. Das Gebäude wird abgeschlossen, wenn der Tag zu Ende ist. Der Hausmeister sperrt es zu. Es bleibt leer, während bei ihr offenes Haus ist. Kann sie sicher sein, daß sie ihr Zuhause so verteidigen kann, wie die Verhältnisse ihren Arbeitsplatz verteidigen? Sie hat sich vorgenommen, wenn sie es sich zutraut, dann geht sie nicht mehr arbeiten. Tag für Tag nimmt dieses Zutrauen ab.

Fremde Dinge anrühren ist schwer. Selbst wenn sie in der eigenen Wohnung stehen. Darf man es überhaupt? Zöge man besser Handschuhe dazu an?

Nicht immer ist Mut das schlaueste: Packst du es, die Sachen rauszuschaffen, oder werden sie dich unter sich begraben? Wenn du sie endlich los bist, stellst du fest, daß es deine waren. Einzeln holst du sie wieder rein, stellst alles an seinen Platz zurück. Aufräumen ist wie einziehen. Komisch.

So weiß sie nie, was sie vorfinden wird. Und nicht immer verteidigt sie ihr Recht. Wenn jemand nicht weiß, wer er ist, wie soll der sein Recht verteidigen. Und das ist noch primitiv ausgedrückt in Anbetracht der ausgeklügelten Verhältnisse. Ich weiß schon, wer ich bin, würde sie sagen. Sie ist ja nicht blöd. Und vor allem erwartet sie sich nicht zuviel, keine Selbsterfahrung und so. Introspektion ist ihr lästig. Eher ist es so, daß sie – an den Tagen, an denen sie sich nicht zu Hause fühlen kann, und das sind ungefähr fünf von sieben – über zu wenig Masse verfügt, um sich in die Wirklichkeit einschleusen zu können, also, könnte man sagen, über ein zu geistiges Ich verfügt, um in der Materie Fuß zu fassen. Nur paßt ihr das nicht mit dem Geist. Mit der fehlenden Masse, das ist schon korrekt, nur mit dem Geist, das ist übertrieben, nichts ist ihrer Haltung entgegengesetzter als die wie auch immer geartete Inbesitznahme von allem möglichen. Was bei ihr geistig ist, das ist pure Logik: Wenn sie nach Hause kommt, sagt sie sich, muß es sich ja um ihre Wohnung handeln. Würde sie nicht Mißtrauen erregen, würde sie sagen, sie erkennt sie nicht wieder, aber sie fühlt die Logik dieses Satzes, und das ist so, als würde sie die Wohnung wiedererkennen. Die Parallelen schneiden sich im Unendlichen, aber sie schneiden sich. Anders gesagt, die Analogien sind äquivalent. Noch anders gesagt: Die Wahrheit sind sie sämtlich nicht. Ihr Zuhause erkennt sie also, obwohl. Aber daß sie es ist, daran hat sie noch nie gezweifelt. Entsprechend gering ist für sie der Wert der puren Identität. Jedenfalls ist dieses Verhältnis ihr noch nie problematisch geworden. Kein »Bin ich’s, oder bin ich’s nicht«. Kann ja noch kommen.

Öfters bringt sie sich von unterwegs etwas zu essen mit, nichts Gehaltvolles, was den Körper vergrößert, eher Umständliches, was gewaschen, vertilgt und weggeworfen werden will. So eine hundertfach verkleinerte Haushaltsführung schafft sie. Anstatt die Wohnung in Besitz zu nehmen, nimmt sie Weintrauben zu sich. Wenn sich der Bauch aufbläht, muß sie innehalten. Sie muß stillhalten. Kaum, daß sie das Gerippe in den Mülleimer befördern kann. Auf dem Sofa geht der Tag zur Neige.

Manchmal sieht sie Glotze und lebt für ein Weilchen bei den andern mit, durchaus mit warmem Herzen und Sinn für die Probleme. Sie ißt, und die Leute sind. Zusammen bilden sie ein Leben.

Irgendwann hat sie sich soweit erholt, daß sie die Dinge wieder anfassen und die Wohnung in Besitz nehmen kann. Aber vielleicht ging auch von der letzteren ein Signal aus, daß mal wieder aufgeräumt werden müßte. Vielleicht ist das alles nur ein purer Ausdruck der Verhältnisse.

Soma und Gomorrha

Auf den Körper kommt sie noch. Wer hätte gedacht, daß man mit ihm verschmelzen kann! Sie auch nicht. Er ist oder er ist nicht, will sagen nicht zur Verfügung. Früher war er öfter nicht. Heute hat sie einen Spiegel, und sie hat einen Körper. Alles in Ordnung, könnte man meinen. Aber was es bedeutet, ihn zu haben, damit hätte sie im Traum nicht gerechnet.

Sie dachte, man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Wenn man ihn hat, geht er mit, zum Beispiel ins Kino. Wenn man ihn nicht hat, bleibt man logischerweise zu Hause, zieht die Decke über den Kopf und verschwindet. Nur ein Überfall oder ein Zufall könnte hier etwas ausrichten. Deshalb träumt sie auch öfter von einem Überraschungsbesuch. Nur über den Moment, wenn sie die Tür öffnet und der Gast raumgreifend, Zigarettenrauch und Frühling atmend, das Schlafzimmer betritt, kommt sie nicht hinweg, das hat sie noch nicht gelöst. Sie sieht sich unwürdig erschrecken.

Es gibt viele Möglichkeiten, mit einem vorübergehenden Körperschwund fertig zu werden. Zum Beispiel den Fernseher anmachen und andere Körper ansehen, damit wenigstens die Vorstellung erhalten bleibt. Wenn alle einen Körper haben – und er gehört nun mal zu den sinnlichen Gegenständen, die man anfassen, riechen, sehen und, gelegentlich, auch hören kann –, dann reicht es, wenn sie eine Vorstellung davon hat. Selbst haben muß sie keinen. Wichtig ist nur, daß genügend Leute einen haben. Alle muß nicht sein. Was alle haben müssen, ist die Vorstellung davon. Das schafft die Geltung und sozusagen die Sinnlichkeit. Ihr ist wichtig, daß die Wirklichkeit hergibt, was die Philosophie unterstellt. Doppelt gemoppelt hält besser.

Moderne Geister würden jetzt auf den Computer abheben, der die Abwesenheit des Körpers zur Dauererscheinung erklärt und damit eine neue Normalvorstellung anpeilt, von der Art: hungriger Geist vor dem Bildschirm. Sie hat es aber nicht mit Entwicklungen, sondern mit Intensitäten zu tun und hält es nach ihren Fernseherfahrungen im übrigen durchaus für möglich, daß sie demnächst ins Internet abdriften wird, ohne dabei gleich an Schlimmes zu denken. Intensitäten sind ein Problem des Habens. Sie hätte nie gedacht, daß das Haben für sie zum Problem werden könnte. Beim Körper zumal. Zu sehr war sie im Zeitgeist befangen, der den Mangel bearbeitet und in den Vordergrund schiebt, als daß sie daran gedacht hätte, sich gegen die Probleme des Habens zu wappnen.

Man merkt schon, nie ist sie so theoretisch gestimmt, wie wenn ihr Körper Mätzchen macht. Da löst sie sich förmlich auf. Der höchste Punkt der Gegenstandsfindung ist die Verschmelzung. Der höchste Punkt der Auflösung ist das asketische Ideal der Verinnerlichung, Vergegenwärtigung und Vergeistigung. Aber sie wollte ja über die Probleme des Habens reden, nicht über die Freuden des Seins.

Ein solcher Sog geht von der durchgreifenden Tätigkeit des Geistes aus, daß der Körper unwillkürlich dasselbe tut, wie ein Hund, der in der Begeisterung seines Herrn vor und zurückspringt. Auch er will etwas tun, etwas in den Griff nehmen, und da er nicht den Geist in den Griff nehmen kann – weiß auch nicht, warum –, nimmt er sich selbst in den Schwitzkasten. Bäuchleinweh und Migräne sind das Resultat, Heiserkeit und Hälschenweh, Hexenschuß und Schluß.

Wenn sie gut drauf ist – und auch das kommt vor –, sagt sie: Wie nett, daß er mitträgt; wie käme ich ohne ihn aus. Oder nur zärtlich: Mein Körper und ich. Fabelhaft, wie sie dann weiß, auf welcher Seite sie steht, wo er hingehört und wo sie. Ein Mirakel.

Wenn es sie aber überfällt, dann steht sie – ein altes Zitat fällt ihr ein – hart im Sturm. Ein Augenblick höchsten Glücks dagegen, wenn sie aus der Narkose aufwacht oder aus tiefem Genesungsschlaf. Oder aus großer Angst. Auch aus großer Angst. Leider dauert der Augenblick immer nur einen Augenblick, und sofort fängt irgendein verfluchter Körperteil wieder an und streikt.

Im Traum besucht sie einen Freund ihres früheren Mannes. Er ist alt geworden. Sie weiß, daß er krank ist. Er lebt mit Pflegerinnen, die sowohl mit seiner Frau als auch mit seiner Tochter Ähnlichkeit haben, aber eleganter sind, mehr schnieke. Da sie beide gekannt hat, weiß sie, daß sie es nicht sind. Obwohl, es ist viel Zeit vergangen, Zeit auch für Frau und Tochter, sich zu ändern. Obwohl er allen Grund hat, ihr böse zu sein, und ihr auch böse war, weil sie ihn nicht richtig gemocht, seine Arbeit nicht ernst genommen, ihren Mann ihm systematisch entfremdet hat und so weiter, umarmt er sie innig, so daß ihr Kopf auf seiner Schulter ruht und sie die Öffnung in seinem Rücken sieht, den atmenden Mund aus rohem Fleisch; da müssen oder wollen die Ärzte noch immer hinein. Sie weiß, daß er an einem seltenen Krebs leidet, der ihn allmählich umbringt. Man hat mir das gesamte Bindegewebe rausoperiert, sagt er klagend, und sie staunt, daß ihn die alte Antipathie so wenig kümmert. Er rückt ihr immer wieder nahe, reibt sich an ihr. Sie merkt, er versucht herauszubekommen, ob sein Glied noch steif wird. Sie weiß, wenn es klappt, dann wird sie für ihn unersetzlich sein. Der Gedanke sagt ihr zu. Leider kommt in dem Augenblick ihr Liebhaber dazwischen, er, der solche Schwierigkeiten nicht kennt, auf andere Weise – oder sagen wir auf einer anderen Grundlage – aber ebenso an ihr hängt wie jener an ihr hinge, wenn sie ihn sexuell zu neuem Leben erwecken würde. Enttäuscht, daß sie den Test vorzeitig beenden muß, gleichwohl energisch befreit sie sich aus den zähen Armen des alten Freundes ihres früheren Mannes. Später gelingt es ihr noch einmal, ein tête à tête herbeizuführen, und jetzt klappt auch der Test.

Goethes Vers fällt ihr ein. Nur daß die anderen Glieder des alten Freundes ihres früheren Mannes nicht gelenkig, sondern zäh, schlaff und klammerig sind; das eine aber ist fest. Das gäbe eine herrliche Krakenliebe. Leider muß sie dazwischengehen.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 138 (2007), 51–55.

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