Ilse Bindseil
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Es war bei monsieur Ibrahim. Die Kaffeemaschine hatte zischend gute Nacht gesagt, und wir konnten jetzt nur noch Wein trinken. Wir standen um einen der hohen, dunkelbraunen Tische herum und tranken die Reste vom Tag, erst Rosé, dann den Weißen, den Roten zum Schluß. Ich erklärte meinen Freunden die Sache mit dem Kreis. Da ich ihnen den Kreis erklärte, mußten sie meine Freunde sein. Ich hätte sonst den Teufel getan.
Ibrahim hatte mir ein Blatt Papier von seinem Block abgerissen und einen Stift dazugegeben.
Es ist ganz einfach, sagte ich und wußte in dem Moment, daß es schiefgehen würde. Es gab keinen klareren Beweis als den Kreis, überhaupt fürs Denken kein besseres Hilfsmittel als die Skizze. Aber wenn es ans Aufmalen ging, war es um die Aussage geschehen. Ein vages Allesmögliche setzte sich an ihre Stelle. Es war, als wäre das Denken in dem Moment, wo es ins Leben treten wollte, vom Leben verschlungen worden. Oder wie man vom geliebten Menschen sagt: Und dann hatten die Dunkelheit, der Nebel, die Menge ihn verschluckt.
Beim Flieger: die Wolken.
Dies ist mein Leben, sagte ich und malte einen Kreis. Ich trennte willkürlich ein Stück ab. Bis hier ist es geordnet, gewollt. Ich kann sagen, es ist mein Leben.
Ich kann den Schnitt auch hierhin legen, sagte ich, und damit sich niemand auf die eine Linie fixierte, malte ich rasch einen weiteren Kreis.
Oder hierhin.
Ich malte noch einen Kreis und schraffierte das abgetrennte Stück.
Dieser Teil hier ist unüberschaubar. Am allerwenigsten hat er mit meinem Willen zu tun. Sonst hätte der ihm doch seinen Stempel aufgedrückt, er müßte Spuren hinterlassen haben. Ich sage nicht, daß dieser Teil mich beunruhigt. Ich erkläre, daß er überflüssig ist. Ich könnte ihn abtrennen, bilde ich mir ein. Er gehört zu meinem Leben nicht mit dazu. Wo ich nicht bin, kann ich nicht sein, sage ich mir.
Das ist wie bei einer Pflanze, die in einem zu großen Blumentopf steckt. Sie hat an zu vielen Fronten zu tun: oben sie selbst, die bis in jedes Blatt atmen muß, unten die Erde, die sie durchwurzeln soll. Die Pflanze muß sich zu sehr anstrengen und bleibt mickrig. Die Erde fault.
Ich schneide das hier ab, sagte ich und fuhr mit dem Stift über den schraffierten Teil. Es beunruhigt mich. Es geht nichts Gutes davon aus. Bei der Pflanze kann ich sagen, ich nehme einen kleineren Topf.
Ich malte wiederum einen Kreis.
Aber bei mir muß ich sagen, ich schneide.
Ich glaubte es zu spüren, daß das Schweigen eine peinliche Wendung nahm.
Nicht daß ihr mich mißversteht, fuhr ich hastig fort. Das hier – ich fuhr mit dem falschen Ende des Stifts über die nichtschraffierte Fläche meines Kreises – ist nicht die Abteilung für gelungenes Leben, auch hier steht nicht alles zum besten. Ich habe durchaus Anlaß zu weinen. Aber die Trauer, versteht ihr, gehört zu meinem Leben dazu. Sie ist, wie man so sagt, kein Meer von Traurigkeit. Das hier – der Stift glitt über die Schraffur – hat sicher seine eigene Klarheit, nur nicht für mich. Was nicht zu mir gehört oder etwas anderes ist, das kann ich abschneiden, ohne daß mein Leben Schaden nimmt.
Ich muß ja nicht immer »abschneiden« sagen, es kann auch »fallen lassen« sein. Was nicht zu mir gehört, das kann ich jedenfalls vergessen.
Ob es zu mir gehört, sagte ich, das merke ich daran, ob ich es abschneiden kann. Ob es überhaupt geht. Anders gesagt, ob ich nach vollendeter Tat noch ganz bin.
So sähe das aus, sagte ich und hielt die Hand über das schraffierte Stück. Ich weiß schon, was ihr denkt. Ihr denkt, ein Blinder sieht, daß ich nicht mehr ganz bin. Und woran sieht er es?
Ich hob sekundenlang den Blick, faßte aber niemanden ins Auge.
Natürlich an der fehlenden Krümmung, sagte ich. Daran, daß das mal ein Kreis war. Auch wenn ich nicht weiß, daß das Abgeschnittene ich bin oder daß es zu mir gehört: der Kreis weiß es.
Ich bin der Kreis.
Ich weiß, was ihr denkt, sagte ich. Höbe man das Innere mit einem flachen Löffel heraus und füllte es in einen kleineren Kreis, dann wäre das Ganze wieder vollkommen. Nichts würde darauf hindeuten, daß der Kreis eine Geschichte hat. Aber wie soll man seine Größe bestimmen? Bei der Topfpflanze kann man sich an die Proportion von Topf und Pflanze halten. Wenn der Topf seinem Wesen nach ein Kreis, vor allem die Pflanze, ihrem Wesen nach, ein Kreis ist, dann müssen die beiden Teile zusammenstimmen. Das Zusammenstimmen hat bekanntlich einen Spielraum. Aber wenn etwas zusammenstimmt, dann sieht es aus, als könnte es nicht anders sein.
Ich wäre gern ein kleinerer Kreis, sagte ich. Aber auf die Größe kommt es gar nicht an. Auf den Kreis kommt es an.
Wir hatten getrunken, anstatt zu Abend zu essen. Ibrahim wanderte in seinem Laden hin und her und räumte die Dinge für die Nacht an ihren Platz. Er schuf die unveränderliche Ordnung, in der wir unseren Gedanken die Zügel schießen lassen konnten. Wenn er sich bewegte, sagte er, konnte er besser zuhören.
Er dimmte das Licht, damit nicht späte Gäste hereinflatterten. Die mischten die Runde auf, wir konnten dann nicht gehen, wenn es Zeit war, und auch nicht bleiben.
Ich ließ den letzten Schluck im Glas kreisen.
Ich will euch natürlich nicht den Kreis erklären, fuhr ich mit ein wenig schwerer Zunge fort, verstehe ich von ihm doch weniger als jeder einzelne von euch. Ich will euch etwas von mir erzählen.
Damit ihr wißt, mit wem ihr befreundet seid, wollte ich hinzusetzen, unterließ es aber. Was, wenn jemand der Sache, nicht der Logik nach widersprach?
Meine Vorstellung von mir, fuhr ich fort, ist die, daß ich ein Kreis bin. Es müßte übrigens nicht unbedingt ein Kreis sein. Nur weil mein Vorstellungsvermögen, was Konturen betrifft, gleichzeitig so stark und so schwach ausgebildet ist, muß es ein Kreis sein. Andere Leute halten es zum Beispiel mühelos aus, daß ihre Lebenslinie sackartig ausgestülpt ist. Oder daß sie ein unregelmäßiges Vieleck bildet. Ihre Vorstellung reicht so weit. Trotz der Unregelmäßigkeit erkennen sie sich. Oder in der Unregelmäßigkeit erkennen sie immer noch sich. Ich kann eine solche Vorstellung nicht fassen. Vielleicht überschätze ich aber auch das Vorstellungsvermögen der anderen Leute. Die halten ihre Ausstülpungen nur deshalb aus, weil sie kein Interesse an der Kontur haben, sage ich mir. Obwohl, ich weiß, es gibt welche, die, um es so zu sagen, ein unregelmäßiges Konturinteresse haben. Aber sie sind nicht zahlreich, und sie sind anders gestrickt als ich. Ich will nur nicht so tun, als wenn es sie nicht gäbe.
Mein Vorstellungsvermögen ist gleichzeitig stark und schwach. Oder einerseits ist es stark, aber was es enthält, ist Schwäche. Ohne Kontur bin ich nicht, das ist natürlich schwach. Aber für meine Kontur gebe ich mein Leben, und das gilt gemeinhin als stark: daß es einem wichtiger ist, erkennbar zu sein, als zu sein. Wenn ihr so wollt, dann bin ich ein schwaches Sein, aber ein starkes Ich. Theoretisch, jedenfalls. In echt mag es umgekehrt sein. Wenn etwas schiefgeht, im Aufprall, merke ich, daß mein Sein erheblich zäher als meine Kontur ist. Aber vielleicht ist das nur so ein orgiastischer Moment.
Das letzte sagte ich nicht etwa laut. Ich dachte es bloß.
Was diesen nutzlosen Teil betrifft – ich fuhr nun schon zum hundertsten Mal über das schraffierte Stück –, so kann ich daher nicht auf ihn verzichten. Sonst erkenne ich meine Kontur ja nicht. Sicher könnte man sagen, daß ich die rohe Erde durchwurzeln muß, um bis zu jener Linie zu kommen, die meine ist. Damit wäre ich in der Tat hinreichend beschäftigt, und an ein Ende käme ich nie. Aber der Kreis, das bin ich, und was er an Rohem und Kultiviertem enthält, das ist mir gleichermaßen unentbehrlich, mögen mir auch andere raten, das eine um des andern willen aufzugeben, weil es nichtswürdig, unmoralisch oder gefährlich ist.
So sehr hatte Ibrahim seinem letzten Rundgang das Licht gesenkt, daß ich mich traute aufzublicken. Unter schweren Lidern hielten meine Freunde den Blick auf die Zeichnung gesenkt. Träumten sie vom erlösenden Heimweg? Vom Kreis?
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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.
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