Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich meinen Freunden vom Katerlieschen erzählte

Wir standen um den dunkelbraunen Tisch im hinteren Teil des Raums und tranken Roten. Ich hatte, gegen meine heiligsten Prinzipien und Gewohnheiten, ein wenig von mir erzählt, und nun wollte ich verstanden werden.

Ich werde euch das Märchen vom Frieder und dem Katerlieschen erzählen, sagte ich.

Frieder hat mit Katerlieschen seine Last. Schickt er sie zur Arbeit aufs Feld, dann setzt sie sich an den Rain, schnuppert an ihrem Leberwurstbrot und fragt sich: Arbeite ich erst, oder esse ich erst? Ach, ich will erst essen. Als sie aufgegessen hat, ist sie müde, starrt träumerisch in das wogende Korn und fragt sich: Arbeite ich erst oder schlafe ich erst? Ach, ich will erst schlafen. Als sie aufwacht, dunkelt es bereits, und das Korn steht immer noch auf dem Halm. Nachdem sie am Markttag durch ihre Dummheit auch noch den gesamten Erlös an die Räuber verloren hat, hat der Frieder endgültig genug von ihr. Als sie, von einem langen Irrgang entkräftet, müde und hungrig zurückkehrt, da weiß sie nicht mehr, wer sie ist. Wie kann sie es herauskriegen? Sie pocht so lange an die Tür, bis Frieder verschlafen ruft: Wer ist da? Ist Katerlieschen zu Hause? fragt sie zurück. Ohne zu zögern antwortet er, der natürlich ihre Stimme erkennt: Ja, sie schläft in der Kammer. So bin ich’s nicht, sagt sie sich erstaunt, dreht auf dem Absatz um, geht über die Dorfstraße, zwischen den Bauerngärten hindurch, an den Feldern entlang bis zum Wald und verliert sich zwischen den Bäumen.

Grimms Märchen, sagte ich, bevor sich noch jemand erkundigen konnte, eins von den weniger bekannten. Oder den weniger harmlosen. Und bevor noch das böse Wort Schizophrenie fallen konnte:

Katerlieschen, das bin ich.

Den Frieder kann ich verstehen, setzte ich der Ehrlichkeit halber hinzu, ich fühle mit ihm, wogegen ich mich Katerlieschen nahe fühle. Was in meinem Kopf einen schönen Salat ergibt, wenn ich mit ihm fühle, wenn er es schilt, denn ich bin das Katerlieschen. Ich finde es aber unerträglich. Wäre es nicht so dumm, würde ich sagen, es ist anmaßend. Obwohl es auf eine rührende Art autonom ist, ist es anmaßend. Würde man es heimlich mit der Kamera verfolgen, man fände es rührend in seiner Autonomie. Aber sobald ein anderer ins Spiel kommt, entpuppt seine Autonomie sich als Anmaßung. Der Eindruck, daß es vom Nichts lebt, verfliegt. Die Katerliese, so scheint es, lebt, und ein anderer zahlt. Oder, da sie nicht nach den herkömmlichen Regeln zu leben scheint: sie träumt, und ein anderer kommt für die Unkosten auf. Was kostet aber ein Traum im Zusammenhang eines nutzbringenden Lebens, was kostet er selbst, und wie hoch ist der kollaterale Schaden? Was bringt es, daß er der Traum eines andern ist? Ressentiment bringt es und aber Ressentiment! Wenn jemand auf Kosten eines andern lebt, ist der Tatbestand der Anmaßung erfüllt. Nicht Hochmut, Stolz und Arroganz, dieses So-Tun, als könnte einem nichts passieren, ich meine vielmehr die materielle oder faktische Arroganz des Überlappens: wenn das Gebiet, das man zur Selbsterhaltung in Anspruch nimmt, die Ressource eines anderen ist – und wenn man sich seiner trotzdem bedient. Wenn das Argument nicht ein psychologisches, sondern ein sachliches Argument ist, das mit vermeintlich realen Unterschieden spielt, ein So-ist-das-nun-einmal-Argument, ein Ich-brauche-nun-einmal-mehr-als-andere-Argument. Es ist die Sprache des Unbewußten, wenn es sich in der Sphäre des Bewußtseins artikuliert. Das Unbewußte hat bekanntlich keine Sprache. Artikuliert es sich in der Sphäre des Bewußtseins, muß es sprechen, aber seine Sprache hat die ganze Power eines Tuns, das keine Sprache kennt. Sie kommt als Arroganz rüber, als pure Anmaßung.

Nun mach mal einen Punkt, sagte jemand.

Ihr seht, ich fühle mit Frieder, sagte ich. Ganz energisch fühle ich mit ihm. Ich teile sein Ressentiment, dieses Gefühl, nur zu bezahlen, nicht zu leben. Dabei könnte auch er leben, wenn er die Größe hätte zu sagen, Katerlieschen, das ist mein Leben. Wenn er die Größe hätte zu sagen: Katerlieschen ist mein Traum. Wenn er zugeben könnte, daß Katerlieschens Leben zu teilen schon damals sein Traum gewesen ist, als das junge Mädchen noch allein über die Felder ging und er sich nichts anderes wünschte, als daß sie ihm von ihrer Ruhe etwas abgab, von ihrem Gleichmut, ihrer unerschrockenen Gleichgültigkeit. Wenn er erklären würde, daß er sich auch jetzt noch kein anderes Leben wünscht, obwohl er mittlerweile weiß, daß Katerlieschens Leben zu teilen das genaue Gegenteil dessen verlangt, was das Wort sagt, den Verzicht auf Teilung nämlich und das Bekenntnis, stattdessen, zu einer ungeteilten Betrachtung, einer ungeteilten Aufmerksamkeit. Ihr könnt auch sagen, das Bekenntnis zu einer ungeteilten Teilung: für ihn die Betrachtung, für sie das unbewußte Leben. Er müßte dann freilich zugeben, daß sich alles um sein Katerlieschen dreht. Zu Recht, gebe ich zu bedenken, sind doch Menschen, deren Autonomie nicht von Dummheit oder deren Dummheit nicht von Autonomie zu unterscheiden ist, wie das Tor zu einer andern Welt. Man muß sich kontemplativ zu ihnen verhalten, will man die andere Welt spüren; man darf sie nicht erziehen, man darf sie unter keinen Umständen manipulieren wollen. Sie, wiederum, müssen dumm, beziehungsweise ihr Leben muß unbewußt sein. Eine Entscheidung für Dummheit gibt es nicht, oder eine bewußte Option für den Traum. Das sei den Klugen gesagt, denen, die stets meinen, sich entscheiden zu müssen. Ich sage, alles, was wichtig ist, ist außerhalb jeder Entscheidung. Nur was ebensogut anders sein könnte, darüber wird sinnvoll entschieden. Bei genauem Hinsehen, freilich …

Komm zurück, ermahnte ich mich.

Aber das ist alles graue Theorie, sagte ich, das mit der Kontemplation und der ungeteilten Betrachtung. Es verrät den Blick ganz von außen. Verständnis habe ich für Katerlieschen nur, solange wie ich mit Frieder fühle und wie er selbst ressentimentgeladen auf seinen Traum blickt, er, wie ein Dritter, auf den eigenen Traum; was machst du da, sagt er zu sich, als wäre er ein anderer, sie träumt, und du zahlst, nennst du das leben? Wenn er auf diese Weise rechtet, kann ich erkennen, was er falsch macht. So sehr fühle ich mit ihm, daß ich sehe, wie er es richtig machen würde. Betrachte, möchte ich ihm sagen, zahle! An meiner Einstellung gegenüber dem Katerlieschen ändert das nicht das geringste. Wenn man so dumm ist, denke ich, dann sollte man sich kleinmachen. Man sollte sich zurückhalten. Und schon fühle ich wie das Katerlieschen, ich weiß, ich bin klein, bereitwillig ducke ich mich und spüre die Erleichterung, das Glück der Übereinstimmung zwischen Bild und Sein. Nicht darum also geht es, auf die andern zu hören, beim Katerlieschen sieht man ja, wohin das führt, wie der Widerstand sozusagen aus dem Gehorsam herauswächst, der eigene Irrsinn aus der Vernunft des andern – oder eben aus dem Gehorchen. Darum, vielmehr, sich zurückzuhalten, kleine Schritte zu tun, aber aus eigener Kraft, die Schwelle vor der Haustür zu kehren, das Unkraut auf der Terrasse zu zupfen, statt das Feld jenseits des Grabens zu ernten.

Es gibt nun einmal Menschen, bei denen erwächst der Fleiß aus der Faulheit, die Klugheit aus der Dämlichkeit. Appelliert man an ihre Intelligenz, sind sie strohdumm, buchstäblich schwer von Kapee. Munterst du sie auf, verfallen sie in Katatonie. Es ist, als stürben sie vor deinen Augen.

Man muß sie bei sich bleiben lassen. Man muß sie beschützen. Man darf sie nicht ändern wollen.

Man darf nichts von ihnen verlangen. Vor allem darf man nicht, wie der Frieder tut, »zuviel von ihnen verlangen«. Man darf sie nicht beurteilen oder sie messen. Man darf sie nicht abschätzen. Nicht einmal das darf man, sich in sie hineinversetzen. Man muß sich an ihnen freuen. Nichts, als sich an ihnen zu freuen, ist erlaubt.

Frank lachte auf, während die andern, schien mir, eher schüchtern ins Glas blickten. Offenbar hatte er schon mehr als einmal mit einer dummen Frau geliebäugelt. Wahrheit erfreut. An das Durcheinander in der Welt war er gewöhnt, und an einer Ungereimtheit ging er noch lange nicht zugrunde.

Die Diagnose Schizophrenie stand immer noch im Raum. Aber nicht wie ein Urteil – genossen wir doch einen ausgezeichneten Wein und eine leichte Plauderei und hatten es nicht nötig, das Innerste der Seele nach außen zu kehren, um dem Abend wie in irgendeiner trüben Kneipe Farbe zu geben –, sondern wie eine Anregung. Ich sagte: Bestimmt bin ich vom korrekten Text ein wenig abgewichen. Am Schluß heißt es bei den Grimms: Und es ging in die weite, weite Welt und ward nie mehr gesehen. Oder so ähnlich. Bestimmt nicht: Es verlor sich.

Übrigens hieß es früher immer »es«, sagte ich zu Ibrahim gewendet, für den Fall, daß er sich wunderte, aber er wunderte sich nicht. Das Mädchen, das Katerlieschen: Logik geht vor Geschlecht, Grammatik geht vor Geschlecht. Ich bin ein Fan davon, gestand ich, für mich ist »es« nicht das Mädchen, sondern seine Logik. »Es ward nie mehr gesehen«, oder »verlor sich« heißt für mich, seine Logik entzieht sich. »Es«, das bedeutet für mich die absolute Autonomie. Auch wenn sie um den Preis der Abspaltung erreicht wird, oder um den Preis der Marginalisierung. Irgendwie merkt man es doch, wenn das Katerlieschen verschwunden ist. Wer wird uns beweisen, daß das Leben keinen Sinn nötig hat, wer kann uns das jetzt noch demonstrieren?

Wie es bei Murakami heißt, wir sind es müde, immer etwas zu verlieren. Wir sind wie verloren. Zufällig habe ich eins seiner Bücher auf französisch gelesen. J’avais perdu trop de choses déjà, heißt es darin, j’étais tellement fatigué.

»Ich war dermaßen müde.«

Ich erzähle euch den Schluß, so wie ich ihn mir vorstelle: wenn die junge Frau sich auf dem Absatz umdreht und geht. Ich habe es mir hundertmal im Geiste vorgestellt. Hungrig und müde, wie sie ist, erweist sich sogar der gewohnte Radius der sonntäglichen Spaziergänge, wenn sie Arm in Arm mit ihrem Frieder durch die Flur ging, jetzt für sie als zu groß, und wenn sie das vertraute Gebiet verläßt, ist sie schon gescheitert. Sie ist zu müde, um für sich Pläne zu machen, und ich, die ich sie zu begleiten mich bemühe, bin zu erschöpft, mir konkrete Vorstellungen zu machen. Keine Vorstellungen bilden zu können ist wie ein kleiner Tod – der große, denke ich, wird nicht auf sich warten lassen. Kann für die Vorstellung die Prognose nur ungünstig sein, so ist sie für die Wirklichkeit alles andere als das: die Wirklichkeit ist die Prognose. Frieder wirft Katerlieschen raus, nicht alle Tage geschieht etwas, was so wirklich ist, und vielleicht ist es das erste Mal in Katerlieschens Leben, daß ihr so Wirkliches geschieht, war doch alles, was ihr bisher zugestoßen ist, die halbherzige Fürsorge, die halbherzige Erziehung, die halbherzige Kritik, verglichen mit diesem Ereignis bloß wie eine halbherzige Vorstellung. Mit einem Fußtritt befördert Frieder sie aus seiner Welt hinaus, und sie landet in der – Wirklichkeit; reibt sich den Hintern und reißt die Augen auf, schaut.

In welchem Nichts Frieder landet, erfährt man übrigens nicht.

Ihr müßt das verstehen, sagte ich, sie, die man, um Freude an ihr zu haben, nur hätte anschauen müssen und nichts als anschauen dürfen, schaut! Blickt auf anderes, spürt, fühlt, daß von ihr nicht mehr die Rede ist. Die Welt ist am Zug, und sie freut sich auf die Welt.

Sie ward nicht mehr gesehen? Kein Wunder, sie sieht die Welt! Sie ward nicht mehr erkannt? Weil sie heruntergekommen, verschmutzt und abgemagert ist, womöglich in schlechter Gesellschaft angetroffen wird? Gut möglich, daß sie in schlechte Gesellschaft geraten ist. Ihr kennt ja das Sprichwort »Wer sich in Gefahr begibt …« Wie soll ihr Kleid rein bleiben, wenn der Weg ein einziges Hindernis ist, wie sie selbst hübsch mollig sein, wenn sie um jeden Bissen kämpfen muß? Habt ihr je einen wohlgenährten Straßenköter gesehen? Wie soll sie ehrbar bleiben, wenn sie mit den Menschen lachen, trinken, huren muß, nur damit überhaupt jemand mit ihr spricht, sie gar bei ihrem Namen nennt, frei nach dem Motto: Am Ende war das Wort! Moralisch gefestigt war sie vorher auch nicht, denke ich, schließlich ist sie ein Geschöpf des Unbewußten. War sie unmoralisch durchaus im Sinn mangelnden Bezugs, so mag es sein, daß sie jetzt unmoralisch im moralischen Sinn ist; irgendwie muß ihre Herkunft sich ja ausdrücken. Oder der Bezug der Wirklichkeit zum Unbewußten muß sich ausdrücken. Schließlich klebt auch an ihr, der Wirklichkeit, ein Makel.

Am Ende des Märchens vom Frieder und dem Katerlieschen darf es also ruhig heißen: Und es ward nicht mehr gesehen, oder genausogut: Es verlor sich. Um die Wirklichkeit zu finden, muß das Katerlieschen sich verlieren. Um zu sehen, muß es aufhören, ein zu Sehendes zu sein. Diese narzißtische Perspektive muß sich verlieren. Was die Aufgabe der fatalsten aller Perspektiven an Perspektive bereithält, ist so unglaublich, wie die Überwindung des Narzißmus klassischerweise als unmöglich gilt. In der Fremde, in die das Katerlieschen von seinem Mann getrieben wird, ist das Unglaubliche und Unmögliche in einer einfachen Tatsache gebändigt, der systematische Einspruch in ein horizontales Bild gebracht, die Fremde entpuppt sich als Nachbarschaft, Ferne. Wenn Katerlieschen vertrieben ist, dann heißt das, sie ist jetzt woanders.

Woanders ist alles möglich und erlaubt. Nur fremdeln darf man nicht.

Als Frieder das Katerlieschen rausschmeißt, da macht er zur Grundlage ihres neuen Lebens den alten Mangel, der ihr ein Leben in sicherer Beständigkeit verdorben hatte, mit einem Mann, der einen hübschen Namen trug: Frieder. Denn, wenn ich einmal von mir auf sie schließen darf, sie war gar nicht dämlich, und noch weniger dumm, aber unbeständig, ohne inneren Halt. Von nun an wird sie in ihrer Unbeständigkeit beständig sein, und daß es um sie herum tost wie je und der Boden unter ihr wankt, das merkt sie lediglich, wenn einer sich zu ihrem Ritter aufwerfen will, zu ihrem Retter, zu ihrem Verwöhner – was nicht selten der Fall ist, da immer wieder jemand von ihrer notorischen Tapferkeit ergriffen ist. Dann sieht sie die Risse unter ihren Füßen und kriegt Angst.

Purer Reflex ist es, daß sie reißaus nimmt, sich irgendwo zwischen Bäumen versteckt. Auf Reflexe ist Verlaß, der Verstand kann einen nur im Stich lassen. Wenn’s drauf ankommt, läßt er einen im Stich. Sonst nicht.

Uns lassen jetzt die Kräfte im Stich, sagte jemand, den wir Sandmann genannt hatten, seiner hellen Aura wegen, seiner Kindlichkeit und zarten Gutmütigkeit. Beschämt hob ich die Augen. Hatte ich die Geduld der Freunde zu sehr strapaziert? Seufzend langte ich nach dem Portemonnaie. Selbstbegrenzung war meine Stärke nicht. Vorsichtshalber schwieg ich deshalb meistens. Als hätte er mein Selbstgespräch belauscht, winkte Ibrahim ab. Wie eine Säule stand er hinter den andern, die Müdigkeit und Trunkenheit gebeugt hatten. Was ist los? sagte sein Blick, ist doch nichts passiert!


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 136 (2007), 29–35.

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