Ilse Bindseil

Chez monsieur Ibrahim oder
Wie ich meinen Freunden den Kreis erklärte

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Wie ich meinen Freunden die Sache mit dem Chi erklärte

Meine Erklärung, daß das eine mit dem andern, also jenes Chi, das die Energie bezeichnet, mit jenem andern in Tai Chi nichts zu tun habe und die Ineinssetzung auf reinen Sprech- und Schreibmißverständnissen beruhe, fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Ebensowenig wie mein Zusatz, daß ich das Chi dennoch nur an Tai Chi erklären könne beziehungsweise an dem, was diese seltsame Übung bei mir bewirkt, ansonsten hätte ich vom Chi oder Qi keinen blassen Dunst. Aber sie sahen mich freundlich an, was bei der Thematik schon viel war, schließlich waren wir, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine reine Männer- und alles andere als eine Selbsterfahrungs- oder Bewußtseinserweiterungs-, schon gar keine Qi-Gong-Gruppe. Da ich oft genug auf dem Weg von der Hasenheide vorbeikam, wo ich »Taiji gemacht« hatte, oder abends nach den Kursen noch vorbeischaute, mußten sie förmlich davon ausgehen, daß ich ihnen Tai Chi erklären würde. Was sonst?

Die Uhr stand nicht auf Sport. Ibrahim hatte nach englischer Sitte die letzte Runde ausgerufen, sie aber nach eigener selbst ausgegeben. Wenn ich meine Botschaft noch an den Mann bringen wollte, mußte ich von hinten anfangen.

Ich wedelte zur Erklärung mit dem Buch, in dem ich draußen auf der Truhe, mit dem Rücken zu Ibrahims Schaufenster, bis weit nach Einbruch der Dunkelheit gelesen hatte, das gelbe Licht nutzend, das von drinnen herausfiel. In die dichte Stadtbeschreibung Istanbuls war hier und da eine Seite über Paris eingestreut, und wie ich da draußen in der Dunkelheit saß, war ich dem türkischen Autor auf seinem oder vielmehr meinem Weg vom jardin du Luxembourg die rue Soufflot hinauf zum Panthéon, am lycée Henri IV vorbei in die rue Descartes, also exakt bis zu meinem abgeranzten Hotel mit der Maus gefolgt. Die rue Descartes, erklärte ich, war die Verlängerung der rue Mouffetard. Sie müßten sie sich wie eine Mischung aus O- und Simon-Dach-Straße vorstellen. An der place de la Contrescarpe hatte ich mich abends an den Zaun gestellt und das Treiben der Touristen und Studenten im gleichnamigen Café beobachtet. Ich wedelte mit dem Buch zum Zeichen, daß es darin vorkam. Ich hatte den Mäusen am Brunnen zugesehen, mein Bier getrunken und die Légende du mont Ararat gelesen, einen Roman, den mir Kemal empfohlen hatte.

Ich erzählte, wie sehr ich bei meinem ersten Aufenthalt gerührt war, weil mein Hotel in der rue Descartes und mein Zimmer exakt über dem café la Méthode lag. Auch wenn ich mich über den Rationalismus lustig machte, ich hatte es nun einmal mit der »leuchtenden Klarheit in meinem Verstand«, und als Frank einmal zu sehr später Stunde und nicht ohne Ressentiment zu mir gesagt hatte, ich hätte »etwas Leuchtendes«, da hatte ich mir das Kompliment ausnahmsweise nicht verbeten. In der rue Mouffetard holte ich mir nach dem Kino mein abendliches Bier, erzählte ich meinen Freunden. »Achtundachtzig rue Mouffetard«, hieß ein Anagramm von Unica Zürn. »Ach, magre Notzucht« hatte sie daraus gedichtet. Nicht wegen dieser Zeile, für die ich sprachlos schwärmte, hatte ich Unica Zürn zu meinem Vorbild erklärt, sondern einer eingebildeten geistigen Verwandtschaft wegen, hatte sie doch, wie es mir vorkam, die leuchtende Klarheit Descartes’ zum Instrument ihres Wahnsinns oder den Wahnsinn zum eigentlichen Ort der Klarheit gemacht. Ich selbst bildete mir von meinen Texten am meisten auf die ein, in denen ich ebenfalls dem Wahnsinn das Steuer überlassen und, wie ich hoffte, ihnen damit zu ihrer natürlichen Klarheit verholfen hatte. Sie waren in der Regel ganz kurz, sagte ich, weiter reichte die Kraft nicht. Seltsamerweise, setzte ich hinzu, traute ich mir über diese Texte am ehesten ein Urteil zu, schließlich ging es um so einfache Gesichtspunkte wie den, ob die »Diskursherrschaft« vollständig an den Wahnsinn übergegangen war und kein kleingeistiger Vermittlungsversuch die Sache entstellte. In dem Fall, erklärte ich, galt mir der Text als vollkommen. Um dem Verdacht zu begegnen, ich wäre übergeschnappt, fügte ich hinzu, ob es gelinge, sei eine Frage der Demut. Die Logik des Wahnsinns in Kraft zu setzen bedeutete, daß man den Stab übergab. Übergeben und gleichzeitig behalten, war bekanntlich unmöglich, ein verdorbener Text war die Folge. Deshalb war in diesem besonderen Fall nicht nur das Urteil leicht, sondern tatsächlich auch Vollkommenheit zu erreichen, war sie doch eher ein moralisches Problem: ob man nämlich die Größe hatte.

Eins geschah nie, daß Ibrahim laut wurde oder sich in irgendeiner Form bemerkbar machte, wenn wir uns nicht an die Ansage hielten. Wenn er wollte, daß Schluß war, war Schluß, und das geschah in der Weise, daß wir, gleichermaßen, nichts mehr zu trinken und zu sagen hatten. Manchmal wurde unserem letzten Schluck ein allerletzter hinzugefügt, der keineswegs kleiner, vielmehr um ein geringes größer war als der letzte. Bei Ibrahim bedeutete Ausklang nicht, daß alles immer weniger wurde. War nämlich die Grenze überschritten, befanden wir uns auf der Seite einer neuen Fülle, und ich, ängstlich ums Gleichgewicht besorgt, begriff nicht, wie man noch aufhören konnte. Ibrahim aber, auf allen Seiten zu Hause, vermochte es jederzeit, und deshalb konnte er uns nachschenken. Wenn dann Schluß war, war Schluß.

Wie um zu testen, ob das Thema genehm wäre und nicht als ein Bekenntnis oder eine grobe Aufforderung aufgefaßt wurde, sich um mich zu sorgen, mich gar zu lieben, fügte ich rasch hinzu, daß Unica Zürn bekanntlich an Schizophrenie gelitten und sich, von Krankheit und Medikation vernichtet, schließlich aus dem Fenster der im sechsten Stock gelegenen Wohnung ihres Mannes gestürzt habe. In meinem Kopf, der den Dingen meistens eine eigene Ordnung gab, hatte sich das Unglück irrtümlicherweise in der rue Mouffetard abgespielt. Erst kürzlich hatte ich mich von meinem Irrtum überzeugt. Als ich entdeckte, daß die rue Descartes deren Verlängerung war, hatte mich ein heiliger Schauder befallen, als wäre ich auf den Ort meines eigenen Selbstmords gestoßen, und ich hatte mich gleich in allerlei technischen Überlegungen verfangen, vor allem der, wie man in einer so engen Straße hinunterstürzen konnte, ohne an der gegenüberliegenden Fassade anzuschlagen.

Natürlich hätte ich auch gleich mit meiner Entdeckung ins Haus fallen können, daß das Chi, jene Energie also, die durch konzentrative Übungen vermehrt wurde, eine im strengen Sinn neutrale Energie war. Was sie sonst sein sollte? fragte ich rhetorisch. Nun, ich war so blauäugig gewesen, sie für eine gute Energie zu halten. Nicht unbedingt im moralischen Sinn, das in der logischen Folge auch, aber für eine positive Energie. Galt sie nicht als Ausdruck des Lebens selbst, geradezu als Synonym? Indem ich seit Jahr und Tag Tai Chi, diese sportliche Form der Meditation, praktizierte, hatte ich tatsächlich meine Energie vermehrt, und niemand fand das erstaunlicher als ich. Aber mit dem dazugewonnenen Schatz an innerer Kraft war ich ebensowohl gerüstet, etwas kaputtzumachen, zum Beispiel mich, wie etwas Schönes fertigzubringen. Jedenfalls hatte ich früher nie so voller Lust an Selbstmord gedacht wie seitdem.

Das liegt daran, daß du für deine Energie keine Verwendung hast, sagte Frank, der nie ruhte und ständig etwas bewirkte, dabei gewiß ebensoviel Böses wie Gutes, das erstere aber nie als etwas Eigenes hätte gelten lassen, allenfalls als eine Folge.

Ungebundene Energie, bemerkte er philosophisch, war immer destruktiv.

Sie war Energie, erwiderte ich eine Spur zu scharf im Ton. Sie als zerstörerisch zu bezeichnen dämonisierte sie unnötig. Sie hatte auch eine harmlose, ja lustige, eine durch und durch lebensbejahende, freilich unbedingt an den Augenblick gebundene Seite. Ich spürte es nicht zufällig an meinem Arbeitsplatz, im Korsett der Bestimmungen, umgeben von Vorschriften und Pflichten, wenn ich durch die nicht endenwollenden Flure des gewaltigen Schulgebäudes rannte, die Treppen hinauf- und hinuntersprang, aus purem Glück, oder aus schierer Freude an der Beweglichkeit von einem Treppenhaus in das andere wechselte, das Gewirr der Aufgänge nutzend. Sollte man sagen, da war die Energie bereits gebunden? Hervorbringen und Verbrauchen schienen mir eins. Ich wußte nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Für mich stellte Bewegung den reinsten Ausdruck von Energie dar, den man sich überhaupt denken konnte.

Aus diesem Blickwinkel mochte Selbstmord bloß als eine Fortsetzung der Bewegung erscheinen, als ein Schritt über den Abgrund hinaus. In ihrer verzweifelten Lage, die Klinik verlassen zu müssen, kein Zuhause zu haben, hatte Unica Zürn ihre Kräfte für den einen entscheidenden Schritt gesammelt. Ich konnte nicht anders, als ihren Selbstmord als Lebensäußerung zu begreifen.

Das ist doch alles existentialistisches Zeug, dachte ich, während Ibrahim die Aschenbecher in die Spüle stellte, so wie wir alle hier überständige Existentialisten sind.

Im Grunde, sagte ich laut, ist Selbstmord ein Ziel wie jedes andere. Ohne den Einsatz von geistiger und körperlicher Kraft wird es nicht erreicht. Der Sprung aus dem Fenster, von der Brücke, vom Turm hat darüber hinaus eine besondere Affinität zur Energie. Wie ich schon sagte, er wirkt wie ihr Ausdruck, nicht bloß wie ihre Anwendung. Er ist ein Schritt in die Freiheit, oder weil er ein Sprung ist, kann sein Resultat und Ziel nichts anderes als Freiheit sein. Daß Selbstmord und Energie einander darum wirklich nahe sind, ist dennoch ein Schein. Energie an sich ist neutral, offen für dies und das, auch für sich selbst. Wer sehr gebunden lebt, staunt, wenn er zum ersten Mal an Selbstmord denkt, über diese Neutralität. Ihm imponiert, wie soll ich es ausdrücken, mehr die Freiheit des Schritts als die unbedingte Verbindlichkeit der Folgen.

Machst du Tai Chi, damit die Kraft zum Selbstmord reicht? fragte der Schwabe ungläubig. Im Ernst?

Natürlich nicht, sagte ich. Seit ich übe, übe ich, um die Kraft zu bekommen, mich nicht umzubringen. Vorher wollte ich lediglich einigen lästigen Wehwehchen beikommen. Den Schlendrian austreiben, ihr wißt schon. Mit dem Unbekannten dem Bekannten zu Leibe rücken. Seitdem ich übe, stellt sich heraus, daß mir das Unbekannte auf den Leib rückt.

Wie von Geisterhänden transportiert, war Ibrahims Jacke von der Garderobe hinter der Gaststube auf einen der vorderen Tische gelangt. Es war Schluß. Der Abend war zu Ende.

Ich konnte nun einmal nichts stehen lassen.

Ihr kennt doch die alte Regel, sagte ich trotzig, mit der Gefahr wächst das Rettende auch. Aber erst mit dem Rettenden wächst die Gefahr.

Das ist meine persönliche Entdeckung, sagte ich noch auf der Schwelle.

Aber das Rasseln der Metalljalousie übertönte die hilflose Stimme.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.

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