Ilse Bindseil
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Es hätte nicht sein müssen; denn jeder kannte es halb. Da ich aber einen nicht geringen Teil meines Lebens darauf verwendete, es zu üben oder zu lernen, empfand ich das heftige Bedürfnis, es zu erklären. Kurz, auch ich war nicht mehr nüchtern.
Eigentlich dürfte ich gar nicht darüber reden, sagte ich und spielte mit dem Glas, in dem der seltsamste Rosé von der Welt perlte: rubinrot wie nur irgendein Roter und wie mit einem Hang zum Moussieren.
Ich verstummte, als hätte mich ein Tabu zum Schweigen gebracht.
Tai Chi, sagte ich, kennzeichnet den Bereich, der durch die Rede nicht erreicht wird. Es ist ein Tun. Selbst wenn du nachts im Bett Tai Chi denkst – wohlgemerkt, nicht an Tai Chi denkst –, tust du es.
Hier hielt ich zum ersten Mal inne; sie glaubten doch nicht etwa, ich wollte es ihnen vormachen!
Es ist nichts Sakrales damit verbunden, ein feierlicher Vollzug oder so, obwohl man bei seinem Anblick genau darauf kommen könnte, daß es ein Vollzug ist, und man sich fragt, was hier eigentlich vollzogen wird. Am allerwenigsten, jedenfalls, hat es mit Esoterik zu tun. Das Schweigen, in dem sich die Übung vollzieht, geschieht weder aus Ehrfurcht noch aus Sprachlosigkeit, sondern aus Konzentration. Es gibt auch die passenden Wörter dazu, ja, sie wirken, als wären sie nicht nur vor allem Tun dagewesen, sondern bezeichneten selbst ein Tun, die Urform allen Tuns, und als könnte man sich ihnen daher nur mit Geduld und eben mit Übung annähern. ›Wolkenhände‹, zum Beispiel, ist im Grunde kein Wort, sondern eine Handlung. Man erfaßt das Wort, indem man die Handlung vollzieht. Unterläßt man es, bildet auch nicht die entsprechende Vorstellung dazu, dann bleibt die Bedeutung von ›Wolkenhände‹ unbekannt, anders ausgedrückt, man hat es mit einem Wort zu tun, fälschlicherweise mit einem romantischen. Da hilft keine Übersetzung, man muß zur Handlung vordringen. Da es sich um die Beschreibung eines Tuns handelt, hilft nur das Tun. Ach so, sagt man, während man es tut, oder: Das ist gemeint. Ist doch ganz einfach, sagt man und merkt, es kann nicht anders sein. ›Das‹ ist der logische Ablauf der Bewegung. Die Logik der Bewegung ergibt sich sowohl aus der Logik wie aus der Bewegung. Sie ergibt sich aus dem Stoffwechsel zwischen Himmel und Erde oder umgekehrt: ohne Bewegung kein Stoffwechsel, also auch nicht zwischen Himmel und Erde. So wie ohne Himmel und Erde: keine Bewegung. Wenn ihr die Wolkenhände ausführt, habt ihr für das Kleine wie für das Große gesorgt.
Allein deshalb lohnt es sich, Tai Chi zu üben: um zu begreifen, daß es um Stoffwechsel geht.
Ich sah mißtrauisch in die Runde. Hatte ich mich verständlich gemacht?
Was meinst du mit Erde? fragte Ibrahim, denn der Himmel interessierte ihn nicht. Er war mit dem Geschirrtuch nähergetreten. Die Gläser spülte er ohne Spülmittel. Er spülte sie eben, und den Lippenstiftspuren, falls welche am Rand klebten, kam er auch mit dem Daumen bei. Ich versuchte zu begreifen, welche Wichtigkeit er uns, seinen Kunden und Freunden, beimaß, unserer Kommunion mit seinem Wein, daß er uns den Geschmack des Spülmittels ersparen wollte. Bei dem bloßen Gedanken an Wichtigkeit geriet ich ins Schleudern.
Die Erde, sagte ich, schwenkte das Glas und sah zu, wie der Wein mit dem Horizont spielte, die Erde stelle ich mir wie meinen Körper vor. Er vertritt sie, und sie vertritt ihn, und wenn wir zu ihm keinen Zugang haben, dann sind unsere Chancen, daß wir zur Erde einen Zugang bekommen, schon erheblich gesunken. Was den Körper betrifft, geht es mir um den mir entzogenen Teil, das, was ich im Spiegel sehe, wenn ich mich schnörkellos betrachte, ohne mir œillades zuzuwerfen, mir zuzublinzeln, nach dem Motto: Ich weiß doch, wer ich bin! Weiß ich nicht, oder wer das ist, weiß ich nicht! Und wenn ich nicht weiß, daß ich das bin oder daß das mein Körper ist, dann sage ich in der guten alten grammatischen Form: Wer oder was ist das? An dem da, jedenfalls, erkenne ich mich nicht, woran, bitte, soll ich dann ihn erkennen? Auch die Erde kann ich nur in einem Augenblick vollkommener Erschöpfung, ich denke es mir so, im Zustand unfreiwilliger Uneitelkeit oder zufälliger Abwesenheit meiner selbst sehen, wenn die Apperzeptionsinstanz in meinem Kopf ausgeschaltet ist, das ermüdende ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen, na, ihr wißt schon, begleiten können muß. Natürlich kommt das so gut wie nie vor. Aber in Extremsituationen, wenn man, aller Orientierung beraubt, die vertraute Umgebung, das eigene Zimmer, das Bett, den Blick zum Fenster für Bruchteile von Sekunden nicht wiedererkennt, bekommt man einen glimpse auf die Welt, wie sie ist, wenn sie nicht auf uns, sondern auf gar niemanden hin ausgerichtet ist.
In einem chinesischen Krimi habe ich von einer alten Frau gelesen, die ihr tägliches Tai Chi machte, um ihren Körper mit der Welt in Harmonie zu bringen, elle pratiquait son tai chi, hieß es im schönsten Besitzer-Französisch. Da wir unseren Körper nicht kennen, ist uns auch die Seite von ihm fremd, die sich mit der Welt in Artikulation befindet und über die wir uns mit der Welt in Artikulation befinden. Tai Chi bearbeitet diese Seite.
Ich habe dich einmal gesehen, sagte Frank, der vor nicht allzu langer Zeit auf die andere Seite des Parks gezogen war. Die Form war tadellos, aber das Gesicht verkrampft. Ich dachte, ihr lächelt, du weißt schon, das buddhistische Lächeln, das sich von selbst ergibt.
Dachte ich auch, sagte ich.
Darauf warte ich heute noch, sagte ich, daß es sich ergibt.
Die Artikulationsstelle zwischen meinem Körper und der Welt kenne ich nicht, fuhr ich fort; dazu müßte ich meinen Körper oder die Welt kennen, und beides erscheint mir aussichtslos, müßte ich doch das kennen, was nicht ich ist; wohlgemerkt nicht mein Gegenüber, mein Partner, mein Objekt, sondern die Welt, so wie sie ist, wenn sie nicht gedacht wird, die Erde, der Körper, die Materie ohne Denkbestimmungen. Die Artikulationsstelle zwischen der Welt und meinem Geist kenne ich dagegen wohl. Er ist ja nichts anderes als diese Artikulation. Wobei die Artikulationsstelle verdammt etwas von einer Ursache hat, und in dem Fall stellt sich natürlich die Frage, ob unser Geist aus der Welt oder umgekehrt die Welt aus unserm Geist quillt. Ich muß gestehen, daß mein Interesse an dieser Frage sich in Grenzen hält.
Ich mußte lachen. Eures, sagte ich, sicher auch.
Ich meinte das nicht böse, nur, das Leben war so schwer, ihres noch mehr als meins, daß die Frage nach seinem Wie und Woher gar nicht aufkam, es sei denn, man hätte es ändern können.
Wenn herauskäme, daß die Artikulation in Wirklichkeit Produktion ist, sagte ich, dann wäre ich so enttäuscht, daß es mir gleichgültig wäre, wer wen produziert.
Sagen wir es so: Um die Artikulation zu spüren, mache ich Tai Chi.
Ich dachte, um ewig jung zu bleiben, sagte der Schwabe.
Das auch, sagte ich.
Ibrahim nahm ein Glas nach dem andern aus dem Regal, hauchte es an, polierte und stellte es wieder zurück.
An meinem Körper ist mir alles fremd, sagte ich. Ausgenommen natürlich das Bild, das ich von ihm habe. Es kommt mir so vor, als läge auf Seiten meines Geistes so etwas wie eine böse Absicht vor: Er will nicht, daß ich meinen Körper als Körper sehe. Er will, daß ich ihn mit den Augen des Geistes sehe. Ihn mit den Augen des Geistes sehen heißt soviel wie ihn als beseelten Körper sehen. Er will auch nicht, daß mein Körper, den er für seinen Körper hält, sich auf die Seite anderer Körper schlägt. Er will nicht, daß es zu einer Artikulation zwischen Körper und Körper kommt.
Recht hat er, murmelte Frank.
Er will, daß es stets und nur zu einer Artikulation zwischen Körper und Geist oder Geist und Körper kommt, sagte ich. Er will um jeden Preis beteiligt sein.
Ich hab schon verstanden, Frank, sagte ich, du denkst, Körper und Körper, das artikuliert nicht, das ist sowieso eins, wie soll es artikulieren. Irgendwo muß der experimentierende Geist stecken, der sagt: Wollen mal sehen, wie das artikuliert.
Ich sage, es geht ihm um die Seele, sagte ich. Du sagst, es geht ihm um das Experiment.
Frank sagte gar nichts. Er saß im Lotussitz auf dem Barhocker, und ich beneidete ihn um die Dehnung.
Er wird runterfallen, Ibrahim, sagte ich. Ibrahim schüttelte stumm den Kopf. Frank fiel nie, und wenn, dann war ich nicht dabeigewesen. Manchmal hörte ich, wie sie Ungeheuerliches berichteten, und war eifersüchtig, weil ich es nicht miterlebt hatte und weil das Bezugssystem auch ohne mich funktionierte.
Ich bin der felsenfesten Überzeugung, daß sich niemand mit dem Körper so schwer tut wie ich, sagte ich.
Mit meinem Verhältnis zu Körpern ist es so, sagte ich, ich spüre nicht die Welt. Es wäre vermessen, wenn ich behaupten würde, beim Tai Chi würde ich sie spüren. Damit würde ich nur zugeben, daß ich gar nichts verstanden habe. So begnüge ich mich mit der Feststellung, daß ich es beim Tai Chi mit meinem Körper zu tun habe. Wenn ich über meine – oder seine – Beine stolpere, spüre ich ihn. Ich bekomme es spüren, daß er Körper ist. So widerständig ist er, als läge ich nicht bloß mit ihm, sondern mit der ganzen Welt im Clinch. Das verstehe ich nicht, sagte Yang interessiert. Niemand konnte mir sagen, warum er so genannt wurde. Aber Sport ging ihn an.
Stell dir vor, sagte ich, du willst von a nach a. Nichts leichter als das, dein Lehrer hat es dir vorgemacht. Nur um eine winzige Sequenz aus der ganzen komplizierten Form geht es, um die kleinste herauszulösende Einheit. Du mußt dich nur an das halten, was dein Lehrer gesagt hat. Wo immer du hin willst, hat er gesagt, du mußt den Weg zuerst im Kopf gehen. Er sagt das, weil er weiß, was für Ansichten über Tai Chi zirkulieren: dem Körper vertrauen, den Kopf ausschalten. Darum sagt er: Auf den Kopf kommt es an. Aber du verstehst ihn nicht. So hast du es doch immer gemacht, kopflastig, wie du nun einmal bist. Du hieltest das für normal, sozusagen für den Gang der Natur. Wenn du spontan handeltest, hast du deinen Kopf handeln lassen.
Und so machst du dich auf den Weg, sagte ich, mit dem Kopf voraus. Von a nach a, flüsterst du dir zu. Kann nicht so schwer sein. Klingt verdammt nach dem, was du schon immer gemacht hast. Aber wenn du einen Blick zurückwirfst, ob der Körper dir leichtfüßig auf dem gebahnten Weg folgt, stellst du fest, so einfach ist das nicht. Für den Körper jedenfalls nicht, er ist nicht leichtfüßig, sondern schwerfällig. Kein Wunder, er ist eben nicht Geist. Wenn man deine Bewegung wenigstens bedächtig nennen könnte, aber um der Ehrlichkeit willen muß man sie eher als verwirrt bezeichnen oder als verlassen. Handelte es sich um eine militärische Abteilung, aufgerieben wäre das richtige Wort. Womit du es zu tun hast, das sind die auseinandergesprengten Teile von dem, was einmal ein Körper war. Du koordinierst die Reste, setzt ungeschickt zusammen, was einmal ein Ganzes war. Du gehst nicht, du stolperst. Du fällst nicht einmal, das wäre wenigstens konsequent. Hat der Lehrer nicht erzählt, daß die Augen sich nicht kontinuierlich, ruckartig bewegen, es sei denn, man zieht sie? Genauso ergeht es dir jetzt, wie wenn du nicht mehr gezogen wirst. Sämtliche Verbindungen sind unterbrochen. Was nun? So wie der Blick durch einen beweglichen Gegenstand gezogen wird, so zieh jetzt den Körper. Aber zieh ihn nicht mit dem Kopf, sondern zieh ihn mit dem Ziel. Von a nach a heißt: Laß den Körper vom Ziel ziehen. Sein Ziel ist ein Körper, so wie dein Körper ein Körper ist. Das heißt, den Weg zuerst im Kopf gehen. Von a nach a heißt, von Körper zu Körper.
Jetzt fängt der Kopf an zu denken, sagte ich. Wie geht er körperlich, dieser Weg von a nach a? Ganz einfach, hat der Lehrer gesagt, du mußt die Hüfte öffnen. Mein Hüftgelenk ist steif, sage ich, da öffnet sich nichts. Schade, sagt der Lehrer und führt vor, wie sich bei ihm die Hüfte öffnet. Jeder nach seinen Voraussetzungen. Aber die Bewegung, sagt er, geht von dort aus.
Wenn ich müde werde, irrt mein Geist ab. Wenn der Geist abirrt, wird der Körper beweglich. So findet er seinen Weg. Kehrt der Geist für Sekunden zurück, ist ihm, wie wenn er im Schlaf einen Fortschritt gemacht hätte. Aber wenn er etwas falsch macht, dann bin ich für Bruchteile von Sekunden aus der Weltordnung herausgefallen.
Ach, Ibrahim, sagte ich, ich habe es vermasselt. Ich wollte euch Tai Chi erklären, und was mache ich, ich rede und rede.
Ibrahim hatte längst das letzte Glas gespült und die Markise hereingeholt.
Ich kann es morgen ja noch mal versuchen, sagte ich. Weißt du noch, fragte ich Frank als den Ältesten von uns.
Tabakreklame, nickte Frank. Batavia.
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