Ilse Bindseil
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Ich nutzte es rigoros aus, daß der restaurierte Film lediglich mit französischen Untertiteln zugänglich war, und schilderte ihn so, wie ich ihn erlebt hatte, und fühlte mich mächtig dabei, auch ein bißchen schuldig. Wer hätte mir Einhalt gebieten sollen, niemand konnte mich kontrollieren. Obwohl, das taten schließlich alle, einen Film aus ihrer Perspektive erzählen, und in der Regel Leuten, die ihn nicht gesehen hatten, warum hätten sie ihn sonst erzählt. Das Ganze lebte von der Annahme, daß der Film stark genug war, um dem unterschiedlichen Erleben standzuhalten, oder das Erleben authentisch genug, den Film widerzuspiegeln. Daß ihn jemand willkürlich änderte und ihn nach seinem Belieben ummodelte, davon hatte ich noch nie gehört.
Ich vermied es, den Titel zuzuordnen, das heißt den Engel zu identifizieren. So mußte jeder davon ausgehen, daß »L’ange ivre« den jeune gangster bezeichnete, wie es im Flyer hieß, den Adepten einer rührend altmodischen Mafia, die im Nachkriegs-Tokio Glücksspiel, Alkohol und Prostitution kontrolliert. Ein Engel, sagte ich, ist er dem Alter, der Schönheit, der Unbewußtheit nach. Arrogant et violent am Beginn des Films, malade et brisé, krank und zerbrochen, à la fin, darf er, um die Größe und Kleinheit des Menschen zu verkörpern, kein Quentchen Psychologie, kein Gramm Moral aufweisen. Er ist das heroische Individuum par excellence, sagte ich, das in seiner Äußerlichkeit enthält, wofür wir Innerlichkeit, in der doppelten seelischen Ausprägung als Denken und Fühlen, benötigen.
Ein Engel, sagte ich, besitzt ja nicht größere Eigenschaften als wir. Nur geht er in ihnen auf, an keiner Stelle ist er etwas anderes als sie. Er verdunkelt sie nicht, und sie verdunkeln nicht ihn. Bei den Engeln ist es nicht so wie bei uns, die wir mit einem Wort geben und mit dem andern nehmen, so daß wir das Schöne eigentlich nur als verdorben kennen, in Widerrufsform, als ein Entbehrtes oder einen Ausgleich; wenn wir etwa von innerer Schönheit sprechen, um über das Häßliche etwas Tröstliches auszusagen oder um der Schönheit zu bestreiten, worin sie nun mal besteht. Oder wenn wir das große Herz von jemandem rühmen, der nicht hübsch ist, und wenn wir im gegenteiligen Fall nicht zögern, Schönheit als seelenlos zu bezeichnen, oder so tun, als gäbe es nicht beides zusammen und als könnte man nun mal nur entweder schön sein oder ein Herz haben.übsdvhrn Oder wenn wir jemanden als quicklebendig rühmen, den wir unter weniger glücklichen Umständen nicht zögern würden, als nervig zu bezeichnen. Wie wir überhaupt für alles, was einer Bewertung unterliegt, einen guten und einen bösen Namen haben, gar eine Diagnose, und je weiter das Pendel ausschwingt, je mehr wir nicht nur erfreut, sondern bezaubert sind, desto verheerender wird die böse Fassung des Urteils ausfallen, wenn der Bann bricht. Manisch, heißt es dann, narzißtisch und so weiter, autistisch und so fort.
Engel unterliegen nicht dem Zwang, sich zu ihren Eigenschaften noch einmal ins Verhältnis setzen zu müssen, bloß damit sie existieren. Da es sie lediglich in unserer Phantasie oder dank unserer Gestaltung gibt, existieren sie nur innerhalb dieses Verhältnisses, oder sie existieren eben nicht. Engel sein heißt Träger einer Eigenschaft sein. Sprechen wir nicht vom Racheengel? Oder vom Schutzengel? Je mehr Rache, je mehr Schutz, desto mehr Engel.
Auch der gefallene Engel, setzte ich hinzu, ist ein Engel. Auch für ihn gilt: Je tiefer der Fall, desto mehr Engel.
In L’ange ivre ist der eigentliche Engel der versoffene Arzt. Der trinkt noch den Desinfektionsalkohol weg, den er für seine Patienten ergattert, aber im Vergleich mit dem Yakusa erscheint er als Ausbund von Gesundheit und moralischer Kraft. Mit der Sucht hat er seinen Frieden gemacht, demütigt sich bereitwillig um ihretwillen, sieht zu, daß das Tier in ihm zu fressen hat, kümmert sich um den Stoff für sich und um das Wohl seiner Patienten. Den jungen Kranken, den er als Verkörperung der moralischen Verkommenheit seines Viertels haßt, konfrontiert er mit einer verheerenden Diagnose, und von dem Augenblick an, wo er ihn mit seiner Krankheit zusammengeführt hat, liebt er ihn als die Verkörperung eines kämpfenden und leidenden Menschen.
Im Flyer, erzählte ich, wird aus einem Bericht Kurosawas zitiert. Er habe den Film um den Arzt zentrieren wollen, aber feststellen müssen, j’ai découvert, daß er nicht imstande war, Mifune, den Darsteller des Yakusa, zu zügeln: que je ne pouvais pas contrĂ´ler Mifune … je ne pouvais pas amoindrir sa vitalité. Ich erzählte, daß ich gleich zweimal hintereinander in den Film gegangen war und mich mit Macht an einem dritten Mal hindern mußte, aus dem dann leicht ein viertes oder fünftes Mal geworden wäre. Was hätte nach soviel Wiederholung noch ein Ende setzen können. Zumal ich allein in Paris war und der Abend früh hereinbrach. Was konnte man an der Grenze zum November anderes erwarten. So war das eben mit den Herbstferien.
Ich fand den Darsteller des Yakusa zurückhaltend, sagte ich, diskret, fast ein bißchen blaß, alles andere als außer Kontrolle. Meiner Ansicht nach gehörte er durchaus in die Geschichte eines andern. Allenfalls, daß er in der dramatischen Todesszene, wie Kurosawa sagt, außer Kontrolle gerät. Aber selbst da fand ich ihn bemerkenswert wenig in Szene gesetzt oder das Leiden wenig ausgespielt. Oder wenn, so in einer Weise, die den Zuschauer nicht mitnimmt. Das mag am Vorrang des Szenischen liegen, sagte ich, oder daran, daß, je dramatischer die Sache sich zuspitzt, desto weniger Psychologie zum Ausdruck kommt. Während der Held vom Bett aus, unter dem schneeweißen Laken, die Bewegungen seiner Geliebten verfolgt, die dem Dunstkreis der Tuberkeln und der Niederlage entflieht und zu einem neuen Beschützer zieht, da ist sein Gesicht, auch von Farbe, leer. Die schwarzen Augen reden nicht. Aber sie sind nicht traurig, bloß ohne Ausdruck, wie die eines Neugeborenen, beziehungsweise reiner Schrecken, ohne Verbindung zum Gefühl. Kommt noch, möchte man denken, befände er sich nicht am andern Ende des Lebens. Er trägt Maske, bin ich versucht zu sagen, die Maske der commedia dell’arte, der Kunst. Oder jedenfalls schien mir die Bedeutung der Maske zum ersten Mal klar. Nicht kann sie so aufgefaßt werden, sagte ich mir, daß hinter ihr die Individualität sich versteckt. Obwohl, davon geht der Arzt aus, wenn er dem jungen Mann die Maske des Gangsters vom Gesicht reißen und ihn zu einer Auseinandersetzung mit der Krankheit zwingen will. Aber Mifune, der Darsteller des Yakusa, oder, in einem prekären Bündnis mit ihm, Kurosawa, zeigt, daß hinter der Individualität die Maske zum Vorschein kommt.
Das mag abfällig klingen, sagte ich, und so ist auch das konventionelle Urteil. Aber ich sage euch, es gibt nichts Schöneres als dieses Gesicht, aus dem der wirre Ausdruck des Wollens geschwunden ist.
Auch das ist eine Art, die Kontrolle zu verlieren, sagte ich.
Ich wollte sagen, schloß ich unbeholfen, daß es nichts Menschlicheres gibt als die Maske; nichts Individuelleres, sofern es um die Individualität des Menschlichen, nicht des Individuums geht.
Nichts Schöneres, kurzum.
Wo kommst du eigentlich in der Hölle vor? fragte der Schwabe.
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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt22.html.
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