Ilse Bindseil

Selbstporträt

und Scheinlogische Nachträge zum Selbstporträt


Was für eine zweifelhafte Bewandtnis es mit ihr hat, stellt sie fest, wenn sie jemandem einen Tip oder eine Empfehlung gibt. Nicht nur bleibt die Resonanz aus, in wichtigen Dingen fragt man sie gar nicht erst. Man wendet sich nicht an sie. Vielleicht erwartet man nichts von ihr. Jedenfalls wird ihr ein Rat öfter erteilt als von ihr erbeten. Daß sie durch und durch unpraktisch, womöglich von einer Aura der Hilfsbedürftigkeit umgeben ist, kann sie nicht abstreiten. Aber sie hat ihr Leben wie alle gelebt. Die eine oder andere Erfahrung hat sie durchaus gemacht, unfreiwillig, wie das so ist. Sie hat sich notgedrungen professionalisiert, auf mehr als nur einem Gebiet. Hat sie, ohne es zu merken, einen hochspeziellen, gar esoterischen Weg gewählt? Oder ist auf sie bloß kein Verlaß? Letzteres würde sie bedenkenlos unterschreiben.

Sie verfügt nicht gerade über das, was ihre Freunde ein Netz nennen. Dazu ist sie zu genügsam, auch zu mißtrauisch. Schnell wird ihr etwas zuviel, eine Bindung zu eng. Aber der eine oder andere Knoten hat sich über die Jahre doch geknüpft – und siehe, es ist ein Netz daraus geworden. Kein persönliches, Gott bewahre, eher ein strukturelles; sagen wir die Infrastruktur steht. So hat sie eine Autowerkstatt, einen Arzt und einen Apotheker, und das Leben scheint ihr unerhört gesichert. Aber als sie den Text überliest, hat ihr Arzt bereits schlappgemacht, ihr Apotheker ist in Rente gegangen, und der Mechaniker zeigt Spuren von Ermüdung. Eigentlich ist er ja an Oldtimern interessiert, außerdem ist sie unselbständig und überängstlich, was Autos betrifft, wer weiß, wie lange er sie noch erträgt.

Auch einen Klamottenladen hat sie, einen Turnverein, sogar einen Fußpfleger. Aber als sie neulich über den Kudamm ging, war das Geschäft nicht mehr da, der Turnlehrer hat sie wegen ungebührlichen Betragens rausgeschmissen – Gott sei Dank nicht wegen Unfähigkeit –, und das entzündete Nagelbett ist geheilt. Nur sie selbst und ihr Zahnarzt sind ihr geblieben. Da er aufs Jahr so alt ist wie sie, wird sie auch das nicht mehr lange sagen können.

Über den Laden hat sie nicht gern geredet. Wer will schon den eigenen Klamotten begegnen. Bloß keine Reklame, hat sie sich gesagt. Prompt hat er dichtgemacht. Vom Sportkurs konnte sie dagegen unbesorgt erzählen; keiner von ihren Freunden käme auf die Idee, sich bei der Volkshochschule anzumelden, noch dazu in Neukölln. Die einen fänden es zu prollig, die andern zu spießig. Jedenfalls wäre es nicht das, was sie unter Wellness verstehen. Das Leben ist schwer, sagen sie, zumal wenn es aus Arbeit besteht. Das Vergnügen soll der Seele schmeicheln, das Herz erfreuen. Freizeit soll trösten. Sie selbst sieht das umgekehrt. Die Arbeit tröstet sowieso, der Sport darf hart sein – wenn keine Arbeit da ist, kann er nicht hart genug sein. In verbrauchter Umgebung atmet sie auf. Sie liebt den Geruch der alten Turnhalle, das abgenutzte Inventar, den Plausch unter Fremden. Wenn sie von den andern hoffnungslos verschieden ist, spürt sie die Gattungszugehörigkeit nicht nur, sie kann sie mit Händen greifen!

Unter ihresgleichen verliert sie sich aus den Augen. Sie spürt sich nicht mehr. Eben hielt sie sich noch. Schon weiß sie nicht einmal, daß sie existiert. Nicht nur das Wissen, auch die Voraussetzung dafür hat sich verflüchtigt. Der Ort, an dem es stattfinden könnte, ist verschwunden. Als hätte er nie existiert. Existieren, überhaupt, was soll das sein? Selbst wenn der Verstand sich der Konvention beugt, türmt sich um so unüberwindlicher das praktische Problem: Wie soll das gehen? Bei den andern ist es offenbar einfacher. Sie haben einen gangbaren Weg gewählt. Sie leben sagen wir für ihre Arbeit, den Verein, ihre Familie. Aus der Vielfalt ergibt sich die Ordnung, es ergibt sich die Anforderung. Der Rahmen ist immer schon da, so kann er nie fehlen. Sie ist schlechter dran. Als müßte sie aus den Andeutungen der andern die Person zusammenbauen, von der sie offenbar überzeugt sind, daß sie existiert, so kommt es ihr vor.

Jeder im Leben hat eine Aufgabe, und diese scheint ihre zu sein. Obwohl das Problem sich wiederholt. Denn nicht nur mit sich, auch mit der Aufgabe muß man sich identifizieren können. Was sie betrifft, so hat sie den Eindruck, sie muß immer nur arbeiten. Durch Fleiß ersetzen, was an natürlicher Begabung fehlt, sie selbst zu sein.

Davon abgesehen, was nützt das beste Wissen, wenn es sich nicht bestätigt. Und nicht nur das, ohne es wäre man besser dran. Erstens entbehrte man nichts, und zweitens wäre man offen für Neues. Man klebte nicht am Mangel. Hungrig wäre man, aber nicht bedürftig; das ist etwas anderes. Hungrig, verglichen mit bedürftig, das ist ein Reichtum, es ist wie satt; bedürftig, verglichen mit hungrig, da fehlt etwas. Hungrig ist, ja, auch irgendwie lustig, was bedürftig überhaupt nicht ist. Oder ist es nicht lustig, wenn man eine Dankbarkeit für seine Nase entwickelt – nur so als Beispiel gesagt. Schließlich orientiert sie einen nicht nur, unter ihrem Einfluß entfaltet sich auch die Welt; oder man selbst entfaltet sich in der Welt, wie es heißt als Wille und Vorstellung, zugleich sie sich in einem als Geruch. Riechen ist wie Atmen; man selbst oder die Welt atmet. Man kann sich das gar nicht konkret genug vorstellen.

Man entwickelt auch eine Dankbarkeit für den Mund. Es heißt ja, daß man ist, was man ißt; hier kann sie schlecht mitreden. Sie will nicht sagen, sie ißt nicht, aber Essen gehört für sie zu den Strategien, die die Existenz vernichten; wenn sie sich nicht spürt, ißt sie, und sie spürt sich nicht, wenn sie ißt. Dagegen erinnert sie sich sehr wohl an ihre Verwunderung, als sie sich einmal plaudern hörte. Auch wenn es kaum glaublich war, das war sie! Plaudern, ihrer felsenfesten Überzeugung nach, ist das Monopol der andern, ihr Ressort der Drang zum Bekenntnis, zum Geständnis. Kein Wunder, daß bei ihr Wörter und Tränen nahe beieinanderliegen und der Funke jederzeit überspringen kann. Ihre Rede ist am Wasser gebaut. Um so mehr wundert sie sich, wenn sie sich plaudern hört. Das bin ja ich, denkt sie. So klingt man offenbar, wenn man gehört werden will. Normalerweise hört sie sich nicht. Sie und ihr Bekenntnis sind eins; wie soll sie sich hören. Sie mag auch ihren Ton nicht. Was sie sagt, hat keine Melodie, da ist nichts, was der Stimmführung unterliegt, nur die heisere Selbstbehauptung der Moral, der unsublimierte Trieb. Wie sie sich plaudern hörte, war sie baß erstaunt. Ihre Stimme klang vielleicht ein bißchen heller als sonst, aber alles andere als brüchig. Keine Spur von den üblichen Schluchzern.

Sie muß zugeben, manchmal vergreift sie sich noch im Ton; es fehlt die Übung. Der gesamte Bereich der Stimme ist ihr fremd. Sie hatte keine, bislang, so konnte nichts schiefgehen; blamieren war nicht. Ihre seltsame Heiserkeit oder künstliche Stimmlosigkeit mochte alles mögliche sein, lächerlich war sie nicht. Als sie sich einmal verstellt hat, ist jemand in Lachen ausgebrochen, schlimmer, er hat sie nachgemacht. Tobias, Liebster, gibst du mir auch ein Glas, hat er mit spitzen Lippen geflötet. (Liebster hatte er eingefügt.) Eigentlich war es die ganz normale Hysterie, nur bei ihr klang sie verkehrt. Er, jedenfalls, der Nachbar mit dem unbestechlichen Gehör und der unendlichen Erfahrung, hat ihr den neuen Ton nicht abgenommen und sie ihm innerlich dafür die Freundschaft aufgekündigt.

Wahrscheinlich war es so gewesen: Sie hatte versucht, Bestellung und Bekenntnis zu verbinden, hatte Liebe gewollt und Wein bestellt. Prompt hatte sie die Kontrolle über den Ton verloren. Liebster, flötete sie erbittert, gibst du mir auch ein Glas?

Unter ihresgleichen muß sie beweisen, daß sie existiert. Sie tut es durch ein Bekenntnis. Wer jetzt erwartet, daß sie etwas Außerordentliches bekennt, ist freilich auf dem Holzweg. Nichts anderes bekennt sie, als daß sie ist, wie sie ist. Aber weil sie anders ist als die andern, nimmt ihre Rede unweigerlich die Form des Bekenntnisses an.

So wird das traurige Wunder vollbracht, daß sie redet, ohne sich zu vermitteln.

Wenn sie aber zugeben könnte, daß ihresgleichen Menschen wie alle andern sind – wenn es ihr schon keinen Halt gibt zu sagen, daß es Menschen sind wie sie –, könnte sie vielleicht mit ihnen plaudern, und dann würde sie merken, daß sie sich alle unterscheiden, und auf diesem Umweg käme sie vielleicht sogar zu der Feststellung, daß auch sie ein Mensch mit einem eigenen Geruch und einer Plauderstimme ist; es kann ja nicht anders sein, und damit wäre auch noch gar nichts riskiert. Aber das alles ginge eben nur, wenn die Elemente der Gleichheit, sprich Bildung, Herkunft, Einkommensklasse und das, was man eben so Interessen nennt, nicht eine geradezu existentielle Unsicherheit hinsichtlich alles übrigen bewirken würden, was durch sie nicht gedeckt wird, und dessen man sich folglich nur in der Plauderei mit möglichst Ungleichen vergewissern kann: daß man ein Mensch ist, zum Beispiel, oder daß man wie gesagt existiert.

Daß der Mensch ein Wesen ist, dessen Existenz an der Existenz von seinesgleichen hängt; womit noch nichts gesagt ist, nur eben dies.

Einmal hat sie ihren Liebsten zu ihrem Fußpfleger geschickt. Das ist ein Mann mit Verstand, hat sie zu ihm gesagt, von ihm kannst du ein klares Urteil erwarten.

Als ihr Freund zurückkam, hat er ganz fremd getan. Als wollte er sagen, zu wem hast du mich geschickt, und wer bist du selbst, daß du mir diesen Mann zumutest. Kenne ich dich überhaupt?

Die Befremdung hatte übrigens auf Gegenseitigkeit beruht, und was mochte ihr Fußpfleger jetzt von ihr denken? Für das Problem ihres Liebsten hatte er sich nicht zuständig erklärt. Er hatte ihn an einen Arzt verwiesen. Nicht, als ob er die Dringlichkeit gesehen hätte. Es klang wie, den können Sie zwingen, mich nicht.

So hatte ihr Liebster ihr getreulich, aber verständnislos berichtet. Prompt verstand sie die Welt nicht mehr. Für sie war der Fußpfleger der ideale Ansprechpartner, für ihren Liebsten war sie – nicht müde wurde er, es zu beteuern – die ideale Frau. Warum gelang es ihr nicht, die losen Enden zu verknüpfen: daß der Fußpfleger auch ein Ansprechpartner für ihren Liebsten wurde; nicht der ideale, die Eigenschaft des Liebsten war eben nicht übertragbar, dafür real.

Wenn sie sich aus der Kette löste, mußten die frei gewordenen Hände ineinanderpassen. Der eine war dem andern ein anderer, okay. Aber sie, das Verbindungsglied, war doch ein und dieselbe und ihre rechte Hand nicht anders als die linke. Aber selbstverständlich schlief sie nicht mit ihrem Fußpfleger, und sie sagte auch nicht Liebster zu ihm, und wenn, dann hätte sie schon sagen müssen: liebster Fußpfleger.

Wenn ihre Linke in die Rechte des linken Nachbarn paßte, dann mußte auch die Linke ihres rechten Nachbarn in die Rechte ihres linken Nachbarn passen; Nachbar mal substantiell aufgefaßt, passen dagegen in einer schon utopischen Weise entmaterialisiert.

Kurz, wenn ihr Liebster ihr nahestand und ihr Fußpfleger auf eine selbstverständlich andere Weise auch, dann mußten sich doch auch ihr Liebster und ihr Fußpfleger etwas zu sagen haben. Aber wenn ihr an ihrem Liebsten irgend etwas verflucht fremd war, und an ihrem Fußpfleger natürlich auch, dann, ja dann standen sich in den beiden zwei Fremde gegenüber, um nicht zu sagen Feinde, und der Ausgang dieser von ihr angebahnten Beziehung war leider nicht nur völlig offen, die Prognose, da es um die Verbindung zweier Widersprüche in ihrer eigenen Person – die Fremdheit des Liebsten und die Nähe des Fremden – ging, vielmehr denkbar schlecht.

Warum taugte sie so gar nicht zum Vermittler? Andere taugten doch auch, und sie waren nichts weniger als vollkommen. Daß ihre Freunde es vermieden, sie mit ihren anderen Freunden bekannt zu machen, das war ihr freilich aufgefallen; zunächst, da ihr Sozialstreß verhaßt war, eher angenehm, später, als die Freundschaft langweilig wurde, hatte sie Verdacht geschöpft. Sie hatte ihren Freunden krankhafte Eifersucht oder Geiz unterstellt. Was sie hatten, wollten sie ganz allein für sich haben. Sie weigerten sich zu teilen. Vielleicht aber war auch ihnen die Kalamität mit der rechten und der linken Hand bekannt, und womöglich sahen sie die Sache realistischer als sie und verzichteten von vornherein auf die Vermittlung.

Zumindest in ihrem Fall; sonst war ihr das nie aufgefallen. Sie war wahrscheinlich schwer zu vermitteln.

Eine Freundin hatte ihr das rundheraus gesagt. Bei ihr schäme sie sich ihrer anderen Freundinnen. Auch wenn das wie ein Kompliment klang: deutlicher konnte man nicht werden.

Zu ihrem geliebten Doktor hat sie einen ihrer Arbeitskollegen geschickt; um genau zu sein, zwei. Hinterher beschwerten sie sich, daß er nicht auf sie eingegangen war. Dem einen war er nicht gesprächig, dem andern war er nicht beweglich genug gewesen. Und sie hatte sich eingebildet, bloß hingehen müßten sie, dann wären sie schon so gut wie gesund. Daß sie sich dem spröden Charme des Arztes entziehen, das von ihm vorgelebte Ideal schonungsloser Aufrichtigkeit, das da lautete, die Lebenslügen beiseite zu tun, ablehnen, seine ausgestreckte Hand zurückweisen könnten, schien ihr unmöglich.

Hingehen mußten sie freilich.

Sie waren hingegangen, daran fehlte es nicht, auf ihre Unkenntnis konnte sie sich nicht hinausreden. Wie oft hatte sie sich nicht gesagt, erst einmal kennenlernen müßten sie ihn! Sie kannten ihn jetzt, und was war? Sie waren alles andere als entzückt.

Dabei war er schon recht, das wollten sie nicht bestreiten, nicht weniger recht, zumindest, als andere, auf keinen Fall mehr. Am allerwenigsten war er fehlerlos, was sie auch gar nicht behauptet hatte. Sie hatte ihnen versprochen, daß er anders war als die andern, ernsthafter, aufrichtiger, entschlossener, feinfühliger, also alles wie gewöhnlich, nur mit jener Unbeirrbarkeit versehen, die aus einer Beiläufigkeit eine Absicht, ein Ziel, ein Projekt oder einfach etwas macht, was existiert. Sie wußten freilich nicht, was das hieß: anders. Anders war für sie so gut wie nicht, schlimmer, da kippte das Nicht ins Nichts um. Den von ihr gemeinten Sprung hatten sie sich als Makellosigkeit übersetzt. Sie selbst standen auf Relativität.

Kurz und gut, für einen wie ihn mußten sie sich doch nicht von Wilmersdorf nach Kreuzberg bequemen, und vielleicht war das ja der Gag dabei, daß sich diese Fahrtrichtung wieder einmal nicht bewährt hatte; wer hätte das auch behaupten wollen, wenn es um Fragen der ärztlichen Versorgung ging. Von Wilmersdorf oder Steglitz nach Kreuzberg! Dabei war sie sich ihrer Sache sicher gewesen. Klar, die Variationsbreite in den Behandlungsschemata war nicht so groß, daß man von der individuellen Behandlung allzuviel erwarten konnte. Aber vom Individuum, das behandelte, durfte man gar nicht genug erwarten. Ihn aufzusuchen, hatte sie geglaubt, würde ihnen bereits mehr helfen, als von ihm geholfen zu kriegen. Für sie – jetzt einmal von ihr gesprochen – verkörperte er einen Bruch mit der Relativität und war ihr darin eine beständige Richtschnur, ein Vorbild, ein Held.

Ein Held, das war für sie ein Partner, jemand, mit dem der Umgang keinen weiteren Sinn haben mußte.

Hinterher hatte sie sich Vorwürfe gemacht und hätte sich am liebsten entschuldigt, bei den enttäuschten Patienten und bei ihm, dem betrogenen Arzt; immerhin hatte sie ihm ihre Kollegen auf den Hals geschickt, nicht ohne ihnen einzuschärfen, beruft euch auf mich, und was sollte er nun von ihr denken, ganz abgesehen davon, was sie von ihr denken mochten. Wie ein Hase wäre sie am liebsten vom einen zum andern gerannt, um sich zu erklären, und hätte nicht gewußt, bei wem anfangen, wer war schließlich schwerer gekränkt? Wie konnten sie ihn würdigen, sagte sie sich, wenn sie ihn gar nicht wahrnahmen oder umkehrt: wahrnehmen, wenn sie gar nicht imstande waren, ihn zu würdigen. Würdigen, das hieß seine helle Freude an jemandem haben, mit der Betonung auf hell. Gottes Wohlgefallen mußte so etwas Ähnliches sein. Nicht das Resultat der Wahrnehmung war es, sondern die Ursache.

Konnte sie nur hoffen, daß die Freude ihres Arztes gar nicht erst aufgegangen war. So würde er sie rasch wieder vergessen.

Sie hatte sich schon immer eingebildet, es fehle ihren Kollegen an Statur. Um das zu merken, müßten sie bloß einmal einem richtigen Menschen konfrontiert werden wie ihrem Arzt. Die Begegnung würde sie aus ihrem verlogenen Seelenfrieden reißen, hatte sie gemeint. Sie würde ihnen klarmachen, daß sie nicht an Migräne oder Rückenschmerzen, sondern an den uneingestandenen Widersprüchen ihres Lebens litten. Daran, daß sie sie sich nicht eingestanden, wohlgemerkt, nicht an ihnen, den natürlichen Elementen des Lebens; manchmal fühlte sie sich schon selbst wie ein Therapeut.

Die Widersprüche würde er auch nicht lösen können, selbst wenn er seinen Beruf von der Pike auf gelernt hatte. Nicht einmal in seinem eigenen Leben konnte er sie ändern, und womöglich verleugnete er sie ganz ebenso wie seine Patienten, was freilich nicht hinderte, daß er als Arzt die Vorbehaltlosigkeit und Offenheit in Person war; Vorbehaltlosigkeit in der Aufnahme, Offenheit in der Wiedergabe. Als Privatperson war er sicher nicht besser dran als seine Patienten, im Format eher kleiner als sie, was ein Licht darauf warf, wer es sich zur Ehre anrechnete, seine Dienste in Anspruch nehmen zu dürfen. Aber das Prinzip, das er verkörperte, war unvergleichlich, die Art, wie er es verkörperte, unübertroffen. Keinesfalls war es diskreditiert durch den Mist, auf dem es unvermeidlich gewachsen war – sind wir nicht alle Menschen, und kann eine erhabene Schweigsamkeit, zum Beispiel, nicht Überbleibsel einer Unfähigkeit sein, sich auszudrücken, und Stoa nicht die ins Gefaßte gewendete Gefühllosigkeit sagen wir eines alten Soldaten, vorbehaltlose Ehrlichkeit, wiederum, der bleibende Rest einer kargen Herkunft, an der es nichts zu beschönigen gibt und für Verlogenheit einfach die materiellen und geistigen Voraussetzungen fehlen? So wußte sie zum Beispiel, daß ihr Arzt aus der schweigsamsten Gegend Deutschlands stammte, wo nicht einmal das überbrückende »hm« in Gebrauch war. Aber es konnte auch alles einen ganz andern Grund haben, die bewunderte Fasson zum Beispiel eine Reaktion auf die überschäumende Gefühligkeit einer nervigen Familie sein, die unkorrumpierbare Ehrlichkeit gar ein Versuch, ein moralisches Prinzip als Erkenntnisinstrument zu mißbrauchen, um einer Realität habhaft zu werden, die sich einem beharrlich entzog, und in den Dschungel der Versionen eine Bresche zu schlagen. So konnte es auch sein, oder noch ganz anders.

Vor allem beeindruckte an ihm der praktische Elan, der um so leuchtender hervortrat, als er wie gesagt durch Schweigsamkeit, ins Innere verbannte Empfindsamkeit und nach außen gekehrte Skrupelhaftigkeit von der Praxis wie abgeschnitten wirkte, zum Grübeln verurteilt, ja zum Nichtstun, und aus der ausgeloteten Tiefe dieses Nichts sich aufschwang zur konkretesten Tat, die man sich denken konnte, einer Krankenhauseinweisung, einem Reha-Antrag, einem kämpferischen Gutachten zur Vorlage bei Gericht.

Sein Mut zur Entscheidung, seine Entschlossenheit, eine Therapie anzubahnen, die man bloß noch fortzusetzen brauchte, machten zu eben dieser Fortsetzung Mut.

Auch wenn er im Umgang eher spröde war und seine Zurückhaltung eine Affinität zur Unfreundlichkeit, seine Ernsthaftigkeit eine verdammte Ähnlichkeit mit schlechter Laune hatte: man brauchte sich ja nicht sklavisch an ihm zu orientieren. Abkupfern war nicht, dafür fehlten schlichtweg die Voraussetzungen, das heißt grundlegenden Kenntnisse. Aber die eigenen Maßstäbe, das eigene Schema zu überprüfen, sich gewissermaßen nachzumessen und die Schlußfolgerungen in ein kritisches Licht zu rücken, kurz die Beweglichkeit in der Beziehung zu sich selbst wiederherzustellen, darauf kam es an.

Sie hatte geglaubt, einmal mit einem durch und durch aufrichtigen Menschen konfrontiert, würden ihre Kollegen, wie der Philosoph sagt, Geschmack an der Wahrheit finden. Ihre diffusen Beschwerden verlangten nicht nur förmlich nach Akupunktur. Sie würden auch dem klaren Geist der Aufklärung nicht standhalten. Sie würden, als die Lügen, die sie waren, bloßgestellt, sich in Windeseile davonmachen.

Freilich würden die Kollegen womöglich ihren Beruf aufgeben oder ihre Frau verlassen müssen – was hatte sie bloß alles gedacht! Jedenfalls betraf die Lüge nur den Umgang mit der Wahrheit. Die Sache war immer wahr. Sie hatte gedacht, einmal mit der Sache konfrontiert, würden sie sich nicht mehr mit Rezepten abspeisen lassen. Interesse an der Sache, das war für sie Geschmack an der Wahrheit.

Sie hatten sich übrigens tapfer nadeln lassen; kneifen war nicht. Aber am Ende der Kur waren sie zu ihrer alten Lebensweise zurückgekehrt, hatten auf einen andern Doktor und auf dessen Ratschläge gehört; hören hieß hier soviel anhören, es erinnerte an Begleitmusik. Sie hatte sich gefragt, wenn sie schon keinen Sinn hatten für die schroffe Art ihres Arztes, für das Kompromißlose an ihm, auch das Abweisende, warum hatten sie sich dann nicht wenigstens für das Gebrochene an ihm begeistert, sich vom kindlichen Ernst im männlichen Gesicht nicht rühren lassen, über die Naivität, die seiner Tatkraft zugrunde lag und die die Welt in Gut und Böse teilte, nicht wenigstens gelächelt! Ironie kannte er nicht, da wo er herkam, war sie nicht in Gebrauch, und wenn er sich doch einmal darin versuchte, wirkte er ungelenk, beinahe spießig. Immer war er unvorstellbar ernst, auch dann, wenn er Späße machte, sich gar zu einem Witz verstieg. Er selbst hätte Anlaß für jede Menge Ironie gegeben; von der kostbaren Art, die das Herz wärmt und das Begreifen fördert, um nicht zu sagen das Verständnis.

Daß ihre Kollegen nicht mitzogen, hatte sie ihr entfremdet. Schade; immerhin arbeitete sie schon über zwanzig Jahre mit ihnen zusammen, und was war die Nähe eigentlich wert, die in dieser Zeit entstanden war, wenn sie offenbar keine Übereinstimmung geschaffen hatte, keinen – wie sagt der Dichter – Gleichklang der Seelen. Andererseits, war die Sache den Verlust wert? Irgendeine Nähe war ja entstanden, oder sagen wir eine Gewohnheit, und vielleicht war sie haltbarer, auch begründeter als die Verschmelzung mit dem Doktor, der, bei aller Liebe, doch ein Fremder blieb, selbst wenn sie ihn schon eine gehörige Zeit kannte, fast so lange wie die Kollegen, und sie einiges miteinander durchgestanden hatten. Vielleicht bestand der Haken einfach in der Symbiose; die war nirgendwo am Platz, weder beim Arzt noch bei den Kollegen. Letzteren hatte sie sie denn auch konsequent verweigert, Gott sei Dank, wenn die Konsequenz auch genau der Tick zuviel war. Ihren Arzt hatte sie damit beschenkt oder sie ihm zugemutet, in der irrigen Überzeugung, sie müsse das ungleiche Verhältnis ins Lot bringen, von den schamvolleren Bereichen dieser Ungleichheit einmal abgesehen und auch davon, daß seine eigene Hilfsbedürftigkeit auf irgendeine Weise in die Beziehung hineingeholt werden mußte, und sei es durch eine haltlose Vorgabe an Nähe.

Indem sie sie zu ihrem Arzt schickte, hatte sie ihre Arbeitskollegen in die Symbiose mit hineingenommen, dabei waren sie allerhöchstens Freunde. Und nicht einmal das: indem sie sie in die Symbiose hineinnahm, hatte sie versucht, die vertrauten Kollegen zu Freunden zu machen und hatte sie damit prompt zu – Fremden gemacht. Es sei denn, sie hätte bloß ihre eigenen Beziehungen testen wollen, wie normal waren sie eigentlich noch, und konnte man zum Beispiel die eine mit der anderen verbinden? Zugleich hatte sie damit, der Dramatiker würde sagen, die nötige Fallhöhe für den tragischen Ausgang geschaffen; denn wenn bloß Fremde sich verächtlich über eine ihr nahestehende Person äußerten, dann äußerten sie damit ja nur ihre eigene Fremdheit. Aber wenn es Freunde waren, die sich in dieser Weise über sagen wir abgekürzt einen Freund äußerten, dann wurden entweder sie selbst oder jener andere Freund wurde fremd. Der Kasus war heikel – hier war ein wenig Ironie angebracht, um die Sache erträglich zu machen –, da sie zwar ihren Kollegen freundschaftlich, ihrem Arzt aber symbiotisch oder, um es im Klartext zu sagen, nicht real, sondern halluzinativ verbunden war. Es fehlte wahrhaftig nicht viel, daß sie sich ebenfalls fremd wurde.

Womöglich wäre der Neubeginn, den sie den andern zugedacht hatte, bei ihr selbst ungleich dringlicher gewesen. Aber sie hätte nicht Halt noch Helfer dabei gehabt und auch keine Freunde.

Der Imperativ stand dennoch im Raum.

Einmal ist es ihr passiert, daß ein Bekannter ihr einen anderen Bekannten madig machte, und sie mußte sich entscheiden. Keiner von beiden hätte es übrigens gemerkt, wenn sie es nicht getan hätte, hatten sie doch so gut wie nichts miteinander zu tun. Nur sie sah sich im Fokus quälender Fragen, die sie sich im übrigen selbst stellte: Wie ertrug sie den andern? Hatte sie keine Selbstachtung? Oder war sie vom gleichen Kaliber wie der Kritisierte und hätte es deshalb eine Ewigkeit bei ihm ausgehalten, man weiß ja, gleich und gleich gesellt sich gern, und in dem Fall hätte sie ja auch nichts merken können. Wenn sie aber um keinen Deut besser war als er, dann war es bloß eine Frage der Zeit, bis es jenem andern auffiel, der ihn kritisiert hatte und auf dessen Urteil, weil es aus dem Gefühl kam, sie blind vertraute. Gewundert hatte er sich schon, als sie voller Zuversicht vom andern erzählte, und sich bald darauf selbst ein Bild gemacht. Er behauptete, er wäre enttäuscht gewesen. Was konnte ihr an ihm gefallen, hatte er sich gefragt, wenn sie doch ihn schätzte? Beinahe griffen ihn Selbstzweifel an, und von da wäre es nicht mehr weit bis zum Zweifel an ihr gewesen. War sie so frei und großartig, wie er geglaubt hatte, oder nicht vielmehr engherzig und bourgeoise wie der famose Bekannte? Ohne ihr Zutun spitzte sich die Situation zu. Eine Entscheidung war fällig. Wenn sie nicht klare Verhältnisse schuf, dann würde er es tun. Bislang wunderte er sich bloß über sie, bald würde sie ihm verdächtig werden. Er hatte sie mit einem erheblichen Vertrauensvorschuß bedacht, sonst hätte er sich mit ihr gar nicht anfreunden können, und auch sie hätte sich mit ihm nicht anfreunden können, was er doch einer, vor dem man sich der emotionalen Verstörungen wegen, die er bewirken kann, hütet.

Vertrauensvorschuß, was ist das schon? Eine Geste, die aus der Fülle kommt, mehr nicht. Daß auch die äußerste Not großzügig macht, war ihr damals noch nicht so bekannt, und es ändert ja auch nichts an der Herrlichkeit des Geschenks.

Aber immer gibt es etwas, was die Sache in Bewegung bringt.

Durch Geschenke, zum Beispiel, ist sie leicht zu entwurzeln. In ihrem Leben hat sie selten etwas geschenkt bekommen; gar nicht mal, weil sie unbeliebt wäre, sondern weil sie in einem sparsam-stoischen Sinn so etwas wie Fülle verkörpert und deshalb noch weniger bekommt, als sie vielleicht wollte. Prompt weiß sie, wenn sie doch etwas bekommt, mit dem Geschenk nicht umzugehen. Sie verliert den Boden unter den Füßen, was ja nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß die Sache in Bewegung gerät; für sie ist es freilich, als würde sie taumeln und stürzen. Dringend bräuchte sie es dann, daß der Geber sich um sie kümmert, wie er sich um das Geschenk für sie gekümmert hat. So als wäre sie eine Gabe für ihn!

Sie kann sich das Ganze nicht klarmachen, wenn sie nicht zugibt, daß die Verwandlung ihrer in ein Geschenk der Grund für den voraussetzungslosen Vertrauensvorschuß ist, mit dem sie sich gelegentlich bedacht fühlt. Sie revanchiert sich, indem sie anderen das Vertrauen aufkündigt, von denen sie freilich auch etwas bekam, mit denen sie insgesamt aber auf einer weniger imaginären Basis verkehrte.

Normalerweise ging die Kündigung auf einer imaginären Basis vonstatten, und es störte niemanden, niemand litt darunter, höchstens, daß man sie etwas merkwürdig fand. Aber diesmal, wo die Beziehung besonders halluzinativ war, meinte sie sich mit realer Münze bedanken zu müssen; nur die lautere Wahrheit schien ihr die angemessene Währung für ein Unternehmen, das mit nichts als Lügen handelte, das wie gesagt aber ehrlich. Sie verzichtete auf jenen anderen Bekannten, wurde aber mit dem Verlust nicht fertig; die unleugbare Realität ihrer Handlung setzte ihr zu. Bereits so und so lange hatte sie ihn nicht mehr aufgesucht, rechnete sie nach. Erst hatte er sich noch gewundert, dann Gründe gesucht, schließlich war er enttäuscht. Dabei, wiederanknüpfen hätte sie gar nicht gewollt, etwas erklären zu müssen war ihr schon als Gedanke zuwider, für Wiedergutmachung fehlte der Anreiz, um es deutlich zu sagen, sie vermißte nichts. Aber viel hätte sie dafür gegeben, hätte sie sich nicht des Verrats schuldig gemacht. Der eher zurückhaltende Bekannte, der ihr indessen auch das eine oder andere kleine Geschenk zu machen pflegte – und in ihr damit die Gier weckte, glaubt sie heute, sich ihm zum Geschenk zu machen –, er empfand es nämlich, von Freunden wurde es ihr hinterbracht, durchaus als Verrat. Sie dagegen meinte, sie wäre einfach nicht mehr hingegangen.

Diese Fehleinschätzung, daß sie woanders eine Realität hatte und sich ihrer nicht bewußt war, schmerzt sie heute noch. Wenn sie nicht merkt, daß man sie vermißt, was sucht sie dann in echt?

Die Frage muß sich einem doch stellen.

Er ist verschroben, hatte ihr neuer Bekannter verächtlich über den alten geäußert, und darin hatte er natürlich recht, und deshalb war ja auch die Zuwendung so dezent ausgefallen, daß sie sie gar nicht bemerkt und noch weniger gewürdigt hatte. Kommentarlos hatte sie sich verabschiedet, ja sich der alten Gewohnheit geschämt, sah es doch so aus, als begnügte sie sich mit Konvention anstelle von Liebe. Als sie dies Gespinst der Täuschung und Selbsttäuschung zerrissen hatte, erfuhr sie mehr oder weniger zufällig von ihrer Realität in der bedauernden Vorstellung des andern, und immer wieder, wenn sie daran denkt, ist ihr, als hätte sie etwas verloren.

Und dabei war dieser andere ihr gar nicht wichtig.

Du warst mehr involviert, als du zugibst, sagt sie sich. Bestimmt hat er dich irgendwie enttäuscht, sonst hättest du ihn ja nicht im Stich gelassen. Aber nicht auch nur eine einzige Minute ist er dir gleichgültig gewesen.

Das Schuldgefühl, das sie ihm gegenüber empfindet und von dem sie sich hundertmal sagt, daß sie es sich zu Recht eingehandelt hat und sich also beruhigen könnte, denn andere Leute machen sich auch schuldig, noch und noch – es verdankt seine befremdliche Frische der Tatsache, daß ganz allein sie am ominösen Anfang zuviel gewollt hat, und es war nur richtig, daß sie enttäuscht wurde und unrecht von ihr, in einem Rachefeldzug ohnegleichen die realen Beziehungen, die sich unterdessen geknüpft hatten, zu kappen, nicht nur in kindischer Treue zu sich selbst, auch auf das nächstbeste Glücksversprechen hin, mit dem es ihr nicht anders ergehen würde als mit diesem.

So ist es doch gewesen, daß sie das Glück wieder einmal an der falschen Stelle gesucht, daß sie die Abgrenzungen, die die Gesellschaft mit Bedacht vorgenommen hat, mit Aufforderungen zur Überschreitung verwechselt, die Verbote, die einen gedeihlichen Umgang ermöglichen sollen, als Hinweise auf vorhandenes Glück mißdeutet hat.

Das Schuldgefühl wäre also höchst angebracht, und daß es nicht altert, auch. Sie wird ja nicht klug. Im Gegenteil, ihre ganze Klugheit ist auf Dummheit gebaut.

Sie kann sich immer noch nicht vorstellen, jemanden aufzusuchen, irgendeinen Menschen von Gewicht, in der einzigen Absicht, etwas von ihm und nicht zugleich ihn zu bekommen. Und sie kann auch nichts wollen, ohne daß sie gewollt wird! Wie soll sie zum Beispiel die Einschränkung, krank zu sein, aushalten, wenn nicht dadurch, daß sie sich etwas davon verspricht. Indem sie sich vom Weniger ins Mehr schwingt, bringt sie die Kraft auf, gesund zu werden. Und außerdem gewinnt sie jemanden, der ihr hilft. Wer dagegenhalten möchte, daß es keinen Sinn macht, gesund zu werden, wenn die Krankheit im Grunde interessanter ist, der sei auf die Natur des Paradoxons verwiesen. So nämlich, wie man es nur schafft, gesund zu werden, wenn man, sagen wir in sträflicher Vereinfachung, sich in seine Krankheit verliebt, so lohnt es sich auch nur, krank zu sein, wenn man gesund werden will; ohne diese in überwältigende psychische und physische Abenteuer und Anstrengungen führende Absicht, erlebt man nämlich nichts, bleibt die Krankheit ein höchst flaches Ereignis.

Sie könnte noch tausend Tatsachen anschließen, die weit in die Philosophie hineinführen. Ohnehin hat sie den rabenschwarzen Verdacht, daß sie selbst eine wandelnde Philosophie ist, nicht im Sinn handfester Kenntnisse, leider nicht, o nein, sondern in dem, daß sie lebt, was man nur denken kann, kurz, was in die Welt der Gedanken gehört. Kein Wunder, also, wenn sie es immer wieder mit Abbildern zu tun hat, und wenn man berücksichtigt, unter was für unauthentischen Bedingungen sie ihr im übrigen auf bedingungslose Authentizität gegründetes Leben lebt, dann ist das Ergebnis geradezu erstaunlich; im positiven Sinn.

Zu den tausend Tatsachen könnte man das weite Feld der Dualität rechnen, auf dem Solidarität und Liebe gedeihen und das in der Tat ein reales Weniger voraussetzt, damit sie, die Dualität, als ein reales Mehr in Erscheinung treten kann. Was hat sie als gesunder Mensch, sozusagen im Normalzustand, nicht alles unternommen, um sich allein zu behaupten, die Bestimmungen des Einzelwesens, das sie ist, zu entfalten und nicht zuzulassen, daß es zu einer Kümmerform wird, zum Beispiel indem sie sich auf andere stützt und dadurch schief wird und so weiter. Aber jetzt, wo sie krank ist und damit Hilfe in ihren Gesichtskreis tritt – diese beiden Dinge rutschen ihr so zusammen, daß sie wahrhaftig nicht weiß, was ausschlaggebend fürs jeweils andere ist –, sieht sie die Sache doch ein wenig anders, um nicht zu sagen, sie begegnet einem anderen Modell. Sie existiert, okay, sonst wäre sie nicht krank. Man kann auch sagen, sie ist eins. Aber auch die Krankheit ist eins. Sie und der Doktor zusammen bilden die Krankheit. Also wäre sie als einzelne gegenüber der Krankheit weniger; denn diese enthält zwei. Gegenüber dem einzelnen, das sie als Gesunde wäre, ist sie als Kranke nun aber nicht mehr, das kann ja nicht sein; die Vergleichbarkeit ist nicht mehr gegeben, oder ihr Vorstellungsvermögen trägt den Vergleich nicht mit, schon immer hat sie an einer gewissen Konstruktionsschwäche gelitten. Alles, was sie sagen kann, ist, daß sie als Kranke zwar nicht unbedingt mehr, aber jedenfalls nicht mehr allein ist. Gegenüber der Krankheit ist sie somit in einer besseren Position denn als Gesunde gegenüber dem – Leben. Freilich ist sie in der letzteren Konstellation nicht krank.

Aber das nur als Beispiel, sozusagen als ein Auszug aus den Tatsachen, die sich hier anfügen ließen.

Einer der beiden Kollegen, der ihr näher stand, hatte übrigens etwas von dem komplexen Zusammenhang geahnt, von der Größe des Geschenks, das sie ihm mit der Adresse ihres Arztes überreichte und indem sie ihm noch Grüße an ihn auftrug, damit er es möglichst gut bei ihm hatte; sie, deutete sie damit an, hatte es nämlich gut bei ihm. Er verstehe schon, sagte er, weshalb sie ihn zu ihm geschickt habe, und lächelte dabei, als wollte er ihr zu verstehen geben, daß sein Verständnis größer sei als seine Fähigkeit, es in Worte zu fassen, vielleicht aber auch, weil er ahnte, daß da etwas faul war. Alles in allem war ihm der Ton doch zu bündig gewesen, und wenn man sich dann auch noch auf die Couch legen mußte und sozusagen von unten nach oben reden, während der andere auf einen heruntersprach!

Ich bin nicht gerne hilflos, sagte er lachend, du kennst mich ja!

Beinahe hätte sie »schade« gesagt.

Damals, als ihr Liebster vom Fußpfleger kam und sie mit dem Blick dessen ansah, der aus der Ferne heimkommt in die Fremde, da hatte sie sich gleichermaßen ihres Liebsten und ihres Fußpflegers geschämt, und die Bezüge waren ihr durcheinander gegangen, und sie hatte sich selbst nicht mehr gespürt. Das biblische Sprichwort war ihr eingefallen: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

An ihren Früchten, nicht an ihren Füßen!

Hatte sie dem Fußpfleger Vorzüge angedichtet, nur um es bei ihm aushalten zu können? Sie wechselt nun mal nicht gern. Da würde sie besser gleich sich auswechseln. Alles andere wäre ohnehin bloß ein Ersatz. Entsprechend nutzlos ist es. Auch mit Kritik kann sie nicht leben. Sie erscheint ihr wie Vernichtung. Immer ist die ganze Person im Visier, nie, wie sie es bei andern erlebt, die einzelne Eigenschaft, die, herausgepickt, Qual bereitet, aber nur peinlich ist. Auch die aufgespießte Handlung mag, aus dem Zusammenhang der Person gerissen, wie die Tat eines Irren wirken, und das ist zweifellos vernichtend, aber nur für die Tat, der Täter bleibt ungeschoren. Bei ihr ist es, als lebte sie in Symbiose mit allem, was sich zu ihr nur wie ein Beiwerk oder eine Beiläufigkeit verhalten sollte, was man an- und ausziehen kann wie seine Kleider, mit denen sie ja, Gott sei’s geklagt, auch in einer Symbiose lebt; nicht »meine Hose«, sondern »ich, die Hose« – uff, jetzt hat sie doch einmal etwas Peinliches gesagt!

Dabei hat sie einen ausgesprochenen Hang zur Zweideutigkeit, auch zu zweifelhafter Gesellschaft. Soll mal dahingestellt bleiben, ob sie Gleichrangigkeit nicht erträgt, unter Konkurrenzdruck förmlich erstickt, oder ob sie das Unpassende ihres Innern, von dem die andern keine Ahnung haben, in unpassender Gesellschaft weniger drückend empfindet, sie ganz allein für sich selbst; ob sie es ein wenig integrieren kann. Möglicherweise kann sich die Mittelmäßigkeit – zumal die eigene, von der ihr schon der eine oder andere saftige Beweis untergekommen ist – erfolgreich dahinter verstecken. Vielleicht war ja der Doktor, seine Finsternis und Rechthaberei, seine düstere Verschlossenheit einmal abgezogen, die Inkarnation der Mittelmäßigkeit, und daß sie bei ihm blieb, warf ein schlechteres Licht auf sie als umgekehrt die Unzufriedenheit und Undankbarkeit auf ihre Bekannten; die wiederum, wenn man sie einmal für sich betrachtete, auch nicht das verkörperten, was man so passend nennt, und man sich durchaus fragen kann, was für ein Licht es auf sie selbst warf, daß sie ausgerechnet sie mit der sonst streng gehüteten Adresse ihres Arztes beglückt hatte. Da war doch der Hang zum Mittelmaß in Leidenschaft umgeschlagen.

Normalerweise denkt sie nicht so kompliziert, nicht, wenn es um sie geht, das heißt, sie interessiert sich eigentlich nicht für sich, jedenfalls nicht im Modus der Analyse, eher im Modus des Gefühls, idealerweise im Modus des Handelns. Dafür wird ihr alles andere zum Anlaß komplexer Überlegungen, die sie stets tatkräftig, ja fröhlich beginnt, unter deren Gewicht sie jedoch bald darauf ächzt, an denen sie gleichsam physisch trägt, kommen sie ihr doch wie vielstöckige Bauwerke, und sie selbst kommt sich wie ein Gerüstbauer, recht eigentlich ein Gerüstträger vor – erst muß man es aufstellen, dann muß man es einziehen – , kurz, die Struktur hat sich ihr gewissermaßen verselbständigt. So lange grübelt sie jeweils über der Konstruktion, bis sie das Architektonische daran sieht, in den Widersprüchen die Gliederungen erkennt. Vielleicht ist es auch umgekehrt, daß sie, angestachelt von einem unklaren, das heißt eigentlich superklaren, aber in seiner Bildhaftigkeit unklaren Bild – wozu gehört es, wo kommt es her, wo will es hin – vor lauter Begierde ein aufs Abstrakte gerichtetes Schauen entwickelt, eine Art technischen Sinn fürs Unsichtbare. Sie, die doch ihre Augen noch nie zu gebrauchen wußte und den Hammer vom Nagel nicht unterscheiden kann, sie fängt an, Räumlichkeit zu spüren, um nicht zu sagen Evidenz zu fühlen! Wenn das ihr Vater wüßte, denkt sie. Auch wenn es bei ihm vordergründig um etwas anderes, um die Teilbarkeit der Zahlen nämlich ging, hat er es auf eine ebenso abstruse Weise mit dem Abstrakten gehabt, nämlich mit dem Bild hinter dem Bild. Wenn er sie an den Wagen begleitete – und das war ein Augenblick voll Ach und Weh –, dann fiel sein Blick schon von weitem auf das Nummernschild; sie hatte sich die einzelnen Ziffern gemerkt, er ging von der vierstelligen Zahl aus, die zerfiel ihm in Primzahlen. Sind sie nicht schön, sagte er nach einem Schweigen. Ehrfürchtig zählte er sie auf: die Sieben oder die Drei, die Elf oder die Dreizehn. Wie hast du das gemacht, fragte sie beim ersten Mal erstaunt. Ich sehe sie, sagte er, bescheiden auf den Ruhm der Rechenfertigkeit verzichtend, stolz, daß ihn die Primzahlen aufsuchten. Sie verstand nicht, daß man sehen konnte, was man rechnen mußte.

Sie hat es auch mit der Evidenz, aber die muß aufs Papier; das ist ihre Art zu rechnen. Am Anfang war das Bild, nun muß sich seine Richtigkeit erweisen, sie muß nun seine Wirklichkeit beweisen. Ist es echt, denkt sie, bekommt der Gedanke seinen Stempel. Aber wenn sie sich ans Aufzeichnen macht, stolpert sie prompt über eine verräterische Stelle, da hakt es, hier hat sie nicht gedacht und stattdessen gesehen, prompt sieht sie es nicht mehr. Sie ist enttäuscht, aber auch irgendwie befriedigt, und auch das Bild hat seine Schuldigkeit getan. Sie hat sich ehrlich bemüht, zur Harmonie der Welt beizutragen, wenn sich das Ganze auch als untauglicher Versuch herausgestellt hat, als Operation gewissermaßen am falschen Objekt. Dafür hat es die Wirrnis ihrer Seele beseitigt, denn jetzt ahnt sie wenigstens das Wozu des Bildes, das ihre Seelenordnung als die der Welt präsentierte, und wenn sie selbst ernsthaft Welt werden will, muß sie sich das unlautere Begehren nachweisen, und steckt nicht dieser Nutzen hinter dem Gefühl, die Konstruktion habe, indem sie sich in nichts auflöste, ihre Aufgabe doch irgendwie erfüllt?

Freilich war sie nie echt, immer erwies sie sich als aus Wunsch und Gedanke gemischt, womöglich ergab die das Bild, und dann wäre es genau umgekehrt, die Existenz des Bildes nämlich das sicherste Anzeichen für die Nichtexistenz des Gedankens oder die Evidenz das sicherste Anzeichen dafür, daß nicht der Gedanke, sondern der Wunsch regiert.

Ihrem Vater lag nichts an ernsthafter Beweisführung. Er war ja sonst mit lauter Nützlichem beschäftigt, mit Heroischem; indem er Ungeborenen ans Licht der Welt half, brachte er Leben hervor. Auf eine höchst konkrete Weise hatte er es mit Ursache und Folge zu tun, und da er ebenfalls grüblerisch veranlagt war, entstand ihm daraus ein erhabenes Gebäude. Das Abstrakte kannte er nicht und vermißte es nicht. Er witterte Lebensuntüchtigkeit und Herrschsucht darin. Dabei, lebensuntüchtig war er in gewisser Weise selbst, beim Gedanken an Umsturz wurde ihm angst. Seine Herrschaft war auf Harmonie gebaut.

Für sie ist Denken alles andere als persönlich. Kaum versteht sie, was in ihrem Kopf zustande kommt, und nie für lange, sie vergißt es sofort und erinnert sich dann nicht. Es ist eben nicht ihr Denken. Der Bezug ist zu flüchtig, um tiefergehende Spuren zu hinterlassen. Eine Prägung bezieht sich überhaupt nur auf die Gewohnheit, sich dem Denken zur Verfügung, sich ihm nicht in den Weg zu stellen. Ist die Prägung vollzogen, läuft die Maschine wie geschmiert. Um so weniger hat sie mit ihr zu tun.

Über sich denkt sie überhaupt nur in der einfachsten Weise nach, das heißt, sie träumt. So hat sie sich wahrhaftig vorgestellt, alle diese Menschen, die sie verknüpfen soll, hätten einen Bezug nur zu ihr. Trabanten, nicht ihrem Wesen nach, oh, beileibe nicht, aber in ihrer mangelnden Verbindung, kreisten sie nur um sie. Sie ahnten nichts von dem reizenden Muster, das sie bildeten. Schließlich kannten sie sich nicht, und es hatte sich ja auch nicht bewährt, sie zusammenzubringen. Keiner von ihnen wollte etwas vom andern, aber jeder, bildete sie sich ein, wollte etwas von ihr.

Es müßte sich bei ihr einerseits also um eine besonders vielfältige, andererseits um eine besondere zerrissene Persönlichkeit handeln, und je weniger ihre Bezugspersonen miteinander anfangen können, desto reicher und zerrissener wäre demnach ihre eigene Persönlichkeit.

Freilich, mit ihrer Ausstrahlung kann es nicht so weit her sein, oder ihr Eindruck trifft zu, daß ihre Freunde von einer unüberbietbaren Sparsamkeit in allen Lebensäußerungen sind, so als hätten sie Angst, zu sehr zu leben. Sonst müßte ihretwegen der eine ja neugierig auf den andern sein. Reichtum erschließt sich nicht von selbst. Wer Vielfalt erleben will, muß sich ihr aussetzen, er muß es zulassen, daß sie an ihm zerrt. Dieser Gefahr gehen ihre Freunde aus dem Weg. Sie optieren bewußt gegen das Risiko. So fühlt sie sich aussortiert.

Meist hüten sie sich ja wie gesagt schon, sie um einen Rat anzugehen oder einen Tip von ihr zu erbitten. Als ihre Freundin nach Jahren unschlüssiger Angst eine Frauenärztin aufsuchte – von wem um alles in der Welt hatte sie sich die Adresse geholt, wem hatte sie vertraut, auf wen verließ sie sich? Sie konnte es nicht sein, als die Freundin ihr davon berichtete, war die die Mutprobe bereits erfolgreich bestanden. Nicht nur das Ergebnis war günstig, auch die Frauenärztin war sanft gewesen.

Und falls jemand glauben sollte, sie wäre schon einmal nach ihrer Lieblingsroute durch Burgund, ihrem Zeltplatz im Zentralmassiv oder, Wunder über Wunder, nach ihrem Ferienhaus gefragt worden, das sich zugegebenermaßen weder durch Urigkeit noch durch Komfort empfiehlt, aber in reizender Landschaft gelegen ist und außerdem ihren Geist atmet und jedem guttun muß, dem sie guttut, dann muß sie ihn gehörig belehren. Oder es hätte sich jemand um das Rezept für ihre spektakuläre Marmelade an sie gewandt, um die Anleitung für ihre einmaligen Stricksöckchen – und damit wären ihre Besitztümer und Fähigkeiten auch schon vollzählig aufgeführt, es sind wahrhaftig wenig genug, und es gibt also gar keine Möglichkeit, sie sich nicht zu merken. Ihr aber kommt es so vor, als würde sie ausgerechnet mit den Dingen versorgt, über die sie selbst verfügt. Sogar das eigene Feriendomizil hat man ihr schon angetragen, damit sie einen Ort hat, wo sie hinfahren kann. Offenbar ist ihrs auf der Skala der Dringlichkeiten weniger als keins.

Trotzdem fährt sie hin, weil es ihr Zuhause ist. Und in das der andern fährt sie nicht, weil sie sich sonst einnisten würde. Bloß damit es einen Grund gibt, dort zu sein. Nihil sine und so weiter.

Bei Leuten, die sich für sensibel halten, gilt sie als harter Hund. Das ist ihr befremdlich, sie kann sich so wenig darunter vorstellen. Nicht selten hält sie ausgerechnet diese Leute für steinhart; was wohl eher bedeutet, daß sie sie nicht verstehtärte,Hä. Was denen als hart gilt, das würde sie selbst als tapfer bezeichnen. Beides in einen Topf zu werfen zeugt ihrer Ansicht nach nicht bloß von mangelnder Unterscheidungsfähigkeit, mehr noch von einer gewissen Hartherzigkeit.

Muß man hart sein, wenn man den Tatsachen ins Auge sehen kann? Sie denkt immer, je härter die Tatsache, desto weicher darf man ihr begegnen. Weiche Tatsachen fordern dagegen eine gewisse Unempfindlichkeit, um nicht zu sagen Herzlosigkeit. Weich sind nicht nur die Psychostrategien der andern, ihr zwanghaftes Klärungsbedürfnis, ihre zweideutigen Gesprächsangebote, sondern auch die eigene Empfindsamkeit, das ganze System aus Schmerz und Schlaflosigkeit, von den Träumen ganz zu schweigen. Weich ist im Grunde alles, was auf einen selbst gemünzt ist; und sage keiner, das wäre schon innen. Ein Herz aus Stein muß man haben, findet sie, um den eigenen Ängsten größere Bedeutung beizumessen als den Schicksalen der andern. Vor einem Jahrhundert noch hätte man das als Hysterie verdammt. Aber vielleicht ist sie ja wirklich hart, teilt den steinernen Realismus des 19. Jahrhunderts, verschließt sich den aufweichenden Einsichten des zwanzigsten.

Das findet sie geradezu brutal: wenn man das Innere schützenswerter findet als das Äußerliche. Was rief die Frau, als sie dem verletzten Jungen helfen sollte? Ich kann kein Blut sehen!

Diese Auffassung von Können findet sie einfach brutal. Unter Härte versteht sie, die eigene Empfindsamkeit durchzusetzen, unter Empathie nach wie vor das unbestechliche Urteil, da ist sie ganz alte Schule. Tränen, denkt sie, vergießt man grundsätzlich um sich selbst. Den möchte sie sehen, der um andere weint.

Andererseits hat sie schon festgestellt, daß sie dazu neigt, noch die elementarste Hilfe zu verweigern. Neulich erst, auf dem Zebrastreifen, als die beiden Betrunkenen aufeinander losgingen und die Ampel für die Autos auf Grün sprang, da blieb sie glotzend stehen, ganz der Aufgabe hingegeben, gegebenenfalls Zeugnis ablegen zu können, wo sie doch hätte eingreifen müssen. Oder in der U-Bahn, im dichten Gewühl, als das tobsüchtige Mädchen die lesende Frau attackierte, du Schlampe, fick dich, ich schlag dich und so weiter, da hat sie auch nichts getan, war aber aufgewühlt, das Herz klopfte ihr unter den Rippen. Wenn sich ein anderer erregt, bleibt sie nicht unberührt; man könnte fast sagen, sie ängstigt sich vor den eigenen Emotionen. Einzugreifen hat sie jedenfalls andern überlassen, ob die beherzter waren als sie, kann sie nicht sagen. Älter, kräftiger, klüger waren sie mit Sicherheit nicht, aber gefestiger allemal, nicht hin- und herschwankend zwischen der lesenden Frau und dem rasenden Mädchen. Die erstere war übrigens selbst äußerst gefestigt gewesen, ihrem fragilen Äußeren zum Trotz. Ich habe dir nichts getan, beharrte sie, ich lese nur; daß sie an den Unterschied zwischen Lesen und Rasen glaubte, strömte nur so aus ihr heraus. Ich schlag dich, schrie das Mädchen, ich mach dich fertig!

Aber als in der U-Bahn ein Schwarzer allein saß, setzte sie sich neben ihn, sofort, denn sie hatte die Gruppe gesehen. Sie hat sich neben ihn gesetzt, murmelte einer von denen. Das Herz hatte ihr bis zum Hals geklopft. Es war fast so wie Eingreifen gewesen.

Oder vor kurzem erst, auf Arbeit. Um auf ein harmloseres Beispiel zu kommen. Kurz vor Büroschluß, als der Besucherstrom bereits versiegte, hatte sie den Papierkorb in die Tür geklemmt. So konnte man sehen, ob sie noch im Gespräch war. Niemand sollte unnötig warten müssen. Einer der letzten Besucher übersah das Hindernis, oder er versuchte es aus dem Weg zu räumen, die Unordnung störte ihn, ein ärgerlicher Gedanke; denn wenn, dann war es immer noch ihre Unordnung, nicht seine, und es war auch nicht sein Arbeitsplatz, sondern ihrer, und selbst wenn er sicherlich ein höherer Beamter war als sie, so mußte doch jeder irgendwann einmal woanders vorsprechen. Wie genau es passierte, kann sie sich immer noch nicht vorstellen, jedenfalls prallte die Tür gegen den Papierkorb und bekam dadurch einen solchen effet, daß sie zurück- und gegen seinen Kopf schlug – betäubt blieb er stehen. Wenn es sich um eine Filmszene gehandelt hätte, sie hätte nicht effektvoller ausfallen und sie nicht tatenloser zusehen können. Was ging an ihrer Tür vor? Was für eine Szene entrollte sich vor ihren Augen? Sie hatte nicht den Eindruck, daß das etwas mit ihr zu tun hatte. Nur soviel begriff sie, daß der Mann beschäftigt war – und daß er seine Strafe bekommen hatte. Ich kann noch eine Sekunde ausruhen, folgerte sie und lehnte sich behaglich zurück. Aber wie sagte die Klapperschlange zum Elefantenkind, dessen Nase zwischen den Zähnen des Krokodils klemmte: »Wenn du dich nicht sofort und augenblicklich …« So riß sie sich von dem seltsamen Anblick los und stand vorsichtig auf, als wäre auch sie sich der Herrschaft über ihren Körper nicht sicher, und schlenderte zu dem Mann hinüber, der mit seiner Betäubung ebensosehr wie mit seiner Wut kämpfte. »Sie haben sich doch nichts getan?« sagte sie beschwichtigend. Sie war immer noch verstimmt, weil er sich in ihre Amtsführung eingemischt hatte, und sagte deshalb nicht mehr als das Übliche. Er sollte nicht glauben, daß er im Recht wäre, nur weil er sich wehgetan hatte. Aber er sollte auch nicht böse werden; der bloße Gedanke war ihr zuviel.

Sie wollte nicht vom Krokodil gefressen werden.

Früher hat sie geglaubt, man werde einmal auf sie so hören wie auf andere oder wie sie auf andere hört. Es kommt einmal die Zeit, hat sie gedacht, da wird sie aufhören zu nehmen und das tun, was sie andere tun sieht, die Reichtümer der Welt verteilen und, sei es auch nur symbolisch, geben. Sie hat diesen Zustand durchaus nicht ersehnt, da sie geben und sich verausgaben nie so recht auseinanderhalten konnte. Sie muß sich den Unterschied erst noch erarbeiten, wenn nicht in echt, so in der Vorstellung. Auch in der Vorstellung kann man einen Schritt vor den andern setzen, sich Stufe um Stufe hinuntertasten. Nur weil das Licht aus ist, hört die Treppe ja nicht auf zu existieren, und je nach Befindlichkeit kann man sich auf das eine oder das andere konzentrieren: auf die Sicherheit, die man erwerben, oder den Schritt, den man riskieren will.

Sie begreift, daß sie immer noch lernt; so weit, wie sie dachte, ist sie nicht gekommen. Daß sie nichts weiterzugeben hat, dieser Auffassung ihrer lieben Mitmenschen würde sie jetzt ohne weiteres zustimmen.

Lehren ist ihr offenbar nicht zugewiesen.

Aber sie ahnt, daß ein Trick dabei ist; so sehr anders ist sie nicht als die andern, kann sie gar nicht sein. Ob man lehrt oder lernt, das ist nur eine Färbung; eine Form, sich auszudrücken. Entweder man lebt in der Lern- oder man lebt in der Lehrform. Der Unterschied, so bedeutend man ihn gern hätte, ist lediglich gefühlt.

Sie sagt sich, von nun an werde ich nie mehr versuchen, die Erwachsenen zu kopieren, Ratschläge geben, Ansichten in die Welt setzen, den Ansprechpartner für was auch immer mimen. Ich werde mich rückhaltlos zurücknehmen.

Sich verweigern, ohne daß es jemand merkt, ist eine ihrer Lieblingsvorstellungen. Und nie mehr in die Falle der Entgrenzung tappen. Den unpersönlichen Zusammenhang ehren, in dem wir alle befangen sind, setzt eine gewisse Förmlichkeit voraus, auch sich selbst gegenüber. Sich rückhaltlos öffnen läuft auf Entblößen hinaus. Auch Ratschläge erteilen, Anweisungen geben oder, schrecklicher Gedanke, Kritik üben – das Gegenüber nicht umbringen, wohlgemerkt, nur kritisieren –, ist eine Art der Entblößung.

Vor allem werde ich aufhören, die Dinge halb zu tun, sagt sie sich. Wollen doch mal sehen, wie sie sich dann entwickeln.

Als Kind hatte sie sich die Welt wie eine Bühne gedacht. Und wie alle Kinder hat sie an den Vorhang geglaubt. Sie war der Vorhang. Mit ihr ging die Welt auf.

Sagen wir ruhig, sie hat geglaubt, daß die Welt im Dunkeln liegt, so lange, bis sie, Licht der Sinne und des Verstandes, sie anleuchtet; da fängt die Welt an zu sein.

Aber etwas ist anders geworden in letzter Zeit. Bislang war es so: andere waren erwachsen, nur sie wuchs noch immerzu heran. Ihr Ziel lag weit voraus.

Allmählich bekommt sie doch einen andern Blick auf die Dinge.

Sie gestattet sich, an die fatale Szene in Le bonheur zu denken, den famosen Film über »Das Glück«. Als der untreue Ehemann seine ertrunkene Frau entdeckt, kann er es nicht fassen, die unerhörte Schuld begreift sich nicht so leicht. Prompt verhakt sich das Zelluloid: noch einmal hebt er sie aus dem Wasser, und erneut. Agnès Varda hat den Film wie zur Unzeit mit den primitivsten Traummitteln gedreht und in sie, die verschreckte und verstummte kleine Studentin, einen Samen gesenkt. Nun hängt sie im Aufbruch fest, staunt über den Beginn, will gar nicht fortkommen, hat dafür einen merkwürdig speziellen Sinn für das Neue entwickelt.

Als sie noch in dieser innigen Beziehung lebte, hatte sie sich Tage, gelegentlich sogar Wochen des Alleinseins ertrotzt. Um später nicht aus allen Wolken zu fallen, wie sie sagte, und ihr Liebster sollte es auch üben. Als aus dem Spiel Ernst wurde, tat sie so, als handelte es sich wiederum um ein Spiel. Oder als hätte sie eigenhändig ins Werk gesetzt, was ihr zustieß. Oder würde getestet; wie es im Alten Testament hieß, geprüft. Immer wieder einmal hatte sie das Unerträgliche konfrontiert, es aber zum vorübergehenden Zustand erklärt. Einen Moment hübsch tapfer sein, hatte sie sich gesagt. Die Luft anhalten. Weiteratmen. Die Kapazität der Bedrohung durch die der Lungen ersetzen. Was nicht ewig währt, das geht vorüber.

So hatte sie sich mit sich selbst amüsiert.

Scheinlogische Nachträge zum Selbstporträt

Sie ist winzig, dem äußeren Umfang nach, oder sagen wir négligeable. Innerlich ist sie vielfältig verzweigt.

Den äußeren Umfang darf man nicht falsch verstehen. Gemeint ist nicht ihr Umfang, sondern der Umfang des Äußeren. Der markiert die Grenze, wo das Äußere sie, die das Innere von allem Äußeren ist, umschließt und begrenzt; notfalls mit Gewalt.

Sie ist winzig, heißt ihrem Wesen nach klein. Die Übersetzung von innen nach außen klappt nicht. Wenn sie ißt, geht sie in die Breite, setzt Überflüssiges in die Welt, was der Vermittlung hinderlich ist. Ißt sie nicht, hat das Innere es leichter, sich zur äußeren Anschauung zu bringen, denkt sie. Manchmal ißt sie gar nicht, aber mit der Anschauung klappt es immer und immer nicht. Vielleicht geht sie ja davon aus, daß schon das Innere eine Gestalt hat, daß sie ihm das Äußere nur aus dem Weg räumen muß, um es zur Anschauung zu bringen. Und vielleicht ist diese Grundvoraussetzung falsch.

Als sie schwanger war, wurde sie dick, keine Frage; muß ja so gewesen sein. Sie dachte, sie wird ein lustiger Raum, ein Haus nicht nur für ihr Kind, auch für sich; oder vielmehr sie ein Haus für ihr Kind, die Welt ein Haus für sie. Kurz, sie schafft das mit der Räumlichkeit. Aber sie wurde ein Haus für ihr Kind, ohne daß die Welt ein Haus für sie wurde. Sie hatte das irgendwie hinbekommen, und wer weiß, wie das mit dem Haus für ihr Kind gewesen ist, jetzt mal ohne Schnörkel gefragt.

Eigentlich komisch, daß ihr noch die Reste einer räumlichen Vorstellung abhanden kamen. Körperliches wurde linear, Raum wurde Zeit, sie, ihrerseits, wurde Erwartung. Wann ist es soweit, fragte sie sich.

Wohnen war nicht wichtig. Warten war wichtig.

Daß sie ein Kind trug, war ihr unvorstellbar. Nicht weil die Tatsache an sich so großartig war, das konnte sie gar nicht beurteilen, dazu hätte sie selbst groß sein müssen. Sondern weil nichts sie trug.

Sie lernte es, sich von dem Kind, das sie trug, tragen zu lassen. Aber sich vorstellen zu können, daß sie jemanden trug, hätte vorausgesetzt, daß sich jemand von ihr getragen fühlte, und das konnte sie sich einfach nicht vorstellen.

Sie ist alles andere als ein Haus oder Nest. Das geht so weit, daß unter ihrem Einfluß noch die behaglichste Wohnung ihre Atmosphäre verliert und zur Behausung wird für – Unbehauste, zum Asyl. Einmal, als sie von einer Reise zurückkam, fand sie die Wohnung anheimelnd vor. »Schön ist es bei dir«, sagte sie zu ihrem Liebsten, der sie empfing, »richtig gemütlich.« Die Rede vom guten Geist des Hauses ging ihr auf. Daß es good spirits gab und schlechte, die Wirklichkeit dieser gemeinplätzigen Esoterik schien ihr mit Händen zu greifen. Good spirits fand sie in ihrer Wohnung vor, wenn sie sich ein paar Tage daraus entfernt, schlechte, sobald sie ein, zwei Nächte wieder darin verbracht hatte. Sie mußte immerzu lüften, um den schädlichen Einfluß zu begenzen und damit sie nicht weichen mußte. Kein Wunder, wenn es bei ihr kalt und ungemütlich war. Eine normal beheizte Wohnung, das kannte sie überhaupt nur bei andern.

Damals hatte ihr Liebster wie über einen guten Witz gelacht. Ist doch deine Wohnung, sagte er lachend, ist doch alles deins!

Merkwürdig, er merkte überhaupt nicht, welcher Ungeist in ihrer Wohnung herrschte. Dabei war er so sensibel.

Sie hatte noch andere Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß etwas, was sie als handfest und böse empfand, für andere gar nicht existierte. Das hatte nichts mit ihrer, eher mit der Wohnung der andern zu tun, damit, daß sie sie in ihre Stube, an den sorgfältig gedeckten Tisch nötigen, sie ihre Selbstbestimmung, ihren Spielraum, ihre frostige Freiheit vergessen machen wollten, kurz sie in ihre Spießerexistenz hineinziehen, sie geistig ermorden. Damit sie in ihrer Trägheit verharren konnten, so reimte sie sich die Sache zusammen; denn vermutlich wirbelte ihr Auftritt Staub auf. Sie, der Gast, mußte sich ungehörig betragen, damit sie von ihr abließen. Das war gar nicht so einfach, war sie doch gut erzogen, wenn man darunter die Anweisung verstand: Nur niemandem auf die Füße treten. Hinterher war sie ganz erschöpft, die Person, die sie so tapfer verteidigt hatte, wie zerschmettert.

Jahre später hatte sie sich endlich getraut, eine solche Episode vor einem neutralen Forum zur Sprache zu bringen; vielleicht hatte die Gewißheit doch Risse bekommen. Und in der Tat war an dem Verhalten der damaligen Freunde nichts Anstößiges gefunden worden. In Krisensituationen nonchalante Nähe zu beweisen, gerade darin bestand der allgemeinen Ansicht nach Freundschaft. Was hatte das mit Nötigung, gar Vergewaltigung zu tun? Freunde zu mißbrauchen war doch ganz normal, ja recht eigentlich freundschaftlich. Nur Fremde mußte man respektieren, man mußte sie in ästhetischer Distanz halten. Je unbefangener man sie benutzte, desto eher waren sie Freunde.

Sie stellt fest, daß sie das gar nicht kennt. Solche Freunde hat sie nicht oder vielmehr erträgt sie nicht. Man kann auch sagen, so ein Freund ist sie nicht. Freunden wendet man sich zu, denkt sie, wenn es einem um ihrer selbst willen zu tun ist. Wenn man Sehnsucht nach ihnen hat, ihre Stimme hören möchte, ruft man sie an. Um alles in der Welt möchte sie nichts mit Menschen zu tun haben, die mit ihr umgehen wie mit ihresgleichen, unvermittelt, distanzlos, begierig, die Welt nach ihrem Leisten zu schlagen. Die einem die Hand auf die Schulter legen – drücken sie einen nicht wie ein Bleigewicht herunter? Solchen Menschen gegenüber führt sie sich auf, als müßte sie sich unliebsame Kundschaft vom Hals halten wie ihr Großvater, der ein anspruchsvolles Geschäft führte, eine Weinstube mit Niveau. Oder als wäre sie wie die andere Großmutter, die Tochter des Geheimrats, engelsgleich und zu frühem Untergang bestimmt und viel zu zart, um sich von jedem anfassen zu lassen.

Aber wenn an ihr gar nichts ist, was einen ästhetischen Umgang bewirkt? Wenn nichts zum Anschauen da ist, kommt auch kein Anschauungsverhältnis zustande. Dabei hat sie ihr ganzes Leben in den Dienst des Guten, Wahren, Schönen gestellt.

Sie spürt, daß mit ihr etwas nicht in Ordnung ist. Als die Sache mit der Nötigung auf den Tisch kam, fühlte sie sich einen Augenblick ganz fremd. Recht hatte sie immer noch, das war nicht das Problem, die Entrüstung über die Freunde, die ihr Unglück benutzt hatten, um sich ihrer zu bemächtigen – so sah sie es nun mal –, war lebendig wie nie. Wenn es nach der Lebhaftigkeit der Empfindung ging, dann hatte sie alles Recht auf ihrer Seite. Sie war nicht von sich selbst getrennt, o nein, aber wie auf die andere, die Seite der Nichtexistenz gerutscht; immer noch ganz, aber alles andere als normal.

Sie liebt dicke Leute, oder wenn sie behäbig sind. Sie findet, behäbig ist nicht dick. Behäbig ist die Sache, von außen, dick dieselbe Sache, von innen gedacht. Ob man sich nur recht ausdehnt oder ob man weiter reicht, als man sich fühlt, darauf kommt es an. Behäbig wäre, so weit zu fühlen, wie man reicht, und das ist in der Tat der Eindruck, den dicke Leute erwecken, sofern sie behäbig sind, also beileibe nicht alle.

Kompakt, bei anderen, das ist für sie so viel wie gut zentriert.

Es muß etwas dran sein an den Leuten, wenn sie etwas für sie empfinden soll. Dran, heißt an ihnen. Sie, wenn sie dick ist, dann bedeutet das im Gegenteil, daß, was an ihr dran sein sollte, sich davongemacht hat oder vielmehr nicht bis zu ihr gelangt ist. Da ist es, Gott sei’s geklagt, aber nicht ihrs. Oder ihrs, aber nicht sie. Auf eine perfide Weise hat ihre persönliche Existenz sich mit der seltsamen Erscheinung verkoppelt, die sie im Spiegel erblickt.

Sie will sich an den Leuten festhalten können. Sie findet das verläßlich, ja erotisch. Bei ihr geht die Liebe durch den Traum, und die Lust kommt aus dem Kissen, aus den Tüchern, aus den Daunen. Wohl dem, der ein Kopfkissen für sie ist. Wohl ihr, die ein Kopfkissen in ihm gefunden hat. Dabei ist sie selbst weich; ihr Liebster hat das herausgefunden. Er mußte das herausfinden aus der Menge anderer Eigenschaften, die sie nicht hat: jung, schön, reich und so weiter. Du bist weich, sagte er. Mag sein, daß er recht hat, sie will und kann ihm da nicht hineinreden. Für ihn ist sie weich; wer wollte ihm widersprechen. Das wäre ja so, als würde man sich seiner Seele bemächtigen. Nicht sie ist seine Seele, obwohl er auch das schon geäußert hat, und wenn es so ist, dann ist es eben so. Seine Empfindung von ihr hat mit seiner eigenen Seele zu tun. Die Seele von jemandem rauben tut man einfach nicht.

Folglich ist sie weich.

Im übrigen, wenn sie sonst nichts Wichtiges ist, muß sie ja weich sein; jetzt einmal logisch ausgedrückt, als Ermangelung jeglicher festen Bestimmung.

Ihr Leib ist ihr fremd. Nimmt er zu, wird er fremder, logisch. Wird er mehr, sie weniger. Je größer der Anteil Fremdes an ihr, desto kleiner ihr Anteil, sie als Subjekt gefaßt. Andere, wenn sie zunehmen, gewinnen an Statur, sie verliert das bißchen Haltung, das sie hat, die Contenance entgleitet ihr. Für sie kommt Statik von Statur. Manche Leute sprechen von Gerippe, sie eher von Gerüst. Kein Fleisch auf den Knochen, das ist für sie wie die nackte Schönheit der Seele; die Seele blankgeputzt. Die Seele ist das Gerüst des Menschen. Knöchern muß sie sein!

Sie ist doch kein Mollusk!

Vielleicht ist sie deshalb im Denken so um Klarheit bemüht. Ihr ist es wie gesagt ums Gerüst zu tun; andere reden von Grundlagen, sie vom Gestänge. Auf den Anfang kommt es ihr nicht an, auch aufs Fundament gibt sie wenig. Ob etwas begründet oder gegründet ist, das ist ihr ziemlich egal. Aber sie will, daß der Bau stimmt, oder: es muß ein Bau sein. Und: Das Lotrechte muß darin eine Rolle spielen.

Der Gedanke in die Höhe wachsender Stockwerke hat etwas Bestrickendes, die Idee des Kletterns an sich hat schon etwas von einem Tun.

Ihr ist bereits aufgefallen, daß sie nie grübelt. Sie denkt immerzu, aber sie grübelt nicht. Grübeln heißt für sie die Einheit des Denkens zerstören, dafür die Zahl der Gedanken vermehren, genauer den Anteil der toten Gedanken am lebendigen Denken.

Ja, ja, sie weiß, andere halten das Denken für tot, die Gedanken für lebendig.

Sie weigert sich, die Menge des Gedachten zu vergrößern. Die vorhandenen Gedanken nagt sie ab bis aufs Skelett; bis das übrigbleibt, was gewiß ist oder was man sich jederzeit wieder erdenken kann. Da es aber hundert Arten von Gewißheiten gibt, geht es ihr womöglich nur um die Reduktion, es geht ihr um die Konzentration, genauer gesagt um die Reduktion durch Konzentration.

Für sie verdunkelt das Ergebnis das Tun. Nicht, wie mag es zustande gekommen sein? Sondern, was hat es mit dem Tätigsein zu tun? Die Ankunft macht alles kaputt, was dem Weg eigentümlich ist. Zu behaupten, aus dem Ziel lasse sich der Weg rekonstruieren, findet sie stark. Aus dem Ziel läßt sich das Ziel rekonstruieren!

Gestalt, das ist für sie das Skelett der äußeren Form; wenn das Fleisch hält, dann ergibt sich die Kontur von selbst. Sie denkt bis aufs Skelett. Sie würde lieber die Gestalt denken.

Das Telos der Dicken ist die Gestalt, das Telos der Dünnen das Skelett; immer wieder kommt sie darauf zurück.

Wer grübelt, glaubt sie, will sich eine Gestalt andenken, wo er mit dem Skelett vorlieb nehmen sollte. Sie weiß, daß das nicht funktioniert.

Wenn man ißt, dann wechselt die Nahrung den Ort, wandert vom Teller in den Körper. Unterwegs verliert sie ihre Gestalt, hört auf, ein Würstchen, ein Blumenkohlröschen, eine crème brĂ»lée zu sein. Ihrem Ziel gesellt sie sich in Gestalt der Formlosigkeit bei.

Wenn man einmal davon ausgeht, daß nicht die Konfrontation mit dem Ziel schuld an der Auflösung ist.

Selbst wenn zum Beispiel das Ziel um der Erhaltung seiner eigenen Form willen jede ankommende Form auflösen muß – ein in sich schlüssiger Gedanke, nur hier nicht am rechten Ort –, dann würde es unter dem Ansturm der Ankömmlinge, der reizend angeordneten Kohlröschen, ziselierten Törtchen, in ätherische Kunstprodukte verwandelten Rohstoffe, ja nicht kampflos seine eigene Form aufgeben.

Vielleicht fand es sich ja nicht ziseliert genug. Jetzt ist es nicht einmal mehr andeutungsweise strukturiert.

Wenn sie grübelt, dann ist das so, wie wenn sie ißt: ihr Denken verliert seine Form. Ein wuchernder Gedanke trägt zur Mißgestalt des Denkens bei. Soll es Skelett bleiben!

Grübeln kommt nicht in Frage. Eher noch hungern.

Manchmal ist sie mager wie ein Köter. Dann ist sie reiner Trieb. Ihrer Vorstellung nach ist er spindelförmig, seine Gliederung geht nach innen, ihm wächst nichts zu. Er ist spiralige, gegen sich selbst gerichtete Bewegung. Der Raum ist nicht sein Format, er ist nicht sein Freund.

Sie fände es schön, wenn der Trieb eine Gestalt hätte; wenn er nicht Geist wäre. Sie haßt die Nähe zum Geist, dies Bohrende. Gleichviel, ob es analytisch oder geschlechtlich ist, es ist mechanisch. Geist und Trieb, das sind faux amis, ihrer Ansicht nach, die Nähe ist nicht echt, die Ähnlichkeit mehr als oberflächlich, purer Zufall im Grunde, wie das G in Geist und Geschlecht – auch so kann Ähnlichkeit zustande kommen.

Geist ist geometrisch. Er produziert; kein Löschblatt paßt zwischen ihn und seine Tätigkeit. Der Trieb konsumiert; kein Löschblatt paßt zwischen ihn und seinen Verbrauch.

Sie haßt den Trieb, weil er aus dem Körper Lust saugt. Sie haßt ihn wegen seiner Sucht, die macht ihr das Anschauungsverhältnis zum Körper kaputt. Untergeordnete Tätigkeiten oder die schwärzeste Abhängigkeit fürchtet sie nicht. Aber daß sie nicht einmal in ihrem eigenen Körper steckt! Denn nicht sie spendet Lust oder genießt sie.

Sie fände es in Ordnung, wenn der Trieb eine Gestalt und der Geist, wie man so sagt, einen Anwalt hätte. Der Geist könnte keinen besseren Anwalt als die Geometrie haben. Aber ihr kommt es so vor, als wäre die Geometrie schuld, daß der Geist keinen Anwalt im Menschen hat oder der Mensch keinen Anwalt in ihm.

Sie haßt den Trieb, weil er sich dem Körper als Geist und dem Geist als Körper unterschiebt. Sie haßt die Substitutionen, die falschen Repräsentationen; Repräsentanz und falsch, das ist für sie ein und dasselbe. Sie haßt es, wenn der Geist so vorgestellt wird, als wäre er Trieb, oder wenn er so vorgestellt wird, als entstünde er aus der Verdoppelung des Körpers. Oder wenn der Trieb so vorgestellt wird, als wäre er Geist, als Subjekt oder Leben gefaßt, als Wille oder Vorstellung. Sie haßt dieses quid pro quo, den unendlichen Verweisungszusammenhang, dieses Eins-ist-so-gut-wie-das-Andere.

Das ist doch alles geistiges Gerede!

An der Tätigkeit haßt sie, daß sie ein Ziel hat und daß dies Ziel ihr Untergang ist. Wenn die Mäuse satt sind, sagt das Märchen, schmeckt das Mehl bitter; ja, den Mäusen! Wenn man satt ist, schmeckt’s im verborgenen Grund immer noch – dies als Reverenz an die Tatsache, daß das Tun an sich nützlich ist, auch wenn es einem schon längst nichts mehr nützt. An der Tätigkeit haßt sie, daß sie ein Instrument und ein Ziel ist oder daß sie diesen doppelten Zweck hat, den Funktionszweck, sozusagen, und den Zielzweck. Auf wessen Seite soll sie sich stellen? Vielleicht ist die Tätigkeit ja zufrieden, weil sie sich als Instrument noch für sich selbst begreift: an ihr Ziel kommen hieße für sie ruhen. Aber der, für den sie ein eigenes Ziel verkörpert, nicht nur einen Wert an sich, sondern etwas, was sein Ziel enthält, der kann sich von ihr nur im Stich gelassen fühlen, wenn sie, am x-beliebigen Ankunftsort, der mit ihr angepeilt war, krepiert.

Der Weg ist das Ziel, hat sie brav gelernt. Aber sie kann mit diesem Satz nichts verbinden; offenbar verarbeitet sie ihre Niederlagen anders, nicht über den Wechsel des Gesichtspunkts. Sie vermutet, sie verarbeitet sie überhaupt nicht; sie gehen zugrunde, irgendwie. Oder sie finden ihren eigenen Weg. Sie fand die beiden Orte, die beiden Existenzformen in einer so fatalen Weise miteinander verklammert, daß sie einander um das unerläßliche bißchen Kraft als Basis nicht nur fürs Zusammenspiel, sondern auch fürs Allein-Auskommen brachten. Ziel fand sie so blaß, als Vorstellung, daß ihr mit einem Mal auch der Weg blaß vorkam. Oder Weg so blaß, daß sie es zu keiner kraftvollen Vorstellung einer mit ihm verbundenen Tätigkeit oder eines ihm geschuldeten Ziels brachte. Es wollte ihr einfach nichts einfallen. Weder das eine noch das andere.

Der Weg ist, würde sie gern sagen; wenn schon, denn schon. So wäre er sein eigenes Ziel. Aber sie weiß, daß das nur von ihm selbst kommen könnte. Er müßte sagen: Ich bin. Vermutlich sagt er das übrigens ständig. Aber wie kann er dann in ihre Vorstellungskompetenz fallen; es geht ihr ja gar nicht ums Tun, lediglich um die Vorstellung. Aber wie er in ihren Kopf gekommen ist, oder was er darin zu suchen hat, das müßte geklärt werden.

Der Weg ist das Ziel: ja, Kuchen!

Der Weg ist, möchte sie sagen können, mit der ruhigen Autorität dessen, den es betrifft.

Was ist mit all den flüchtigen Bekanntschaften, deren Verlust bitterer schmerzt als der der eigenen Person, des werten Ich? Sie denkt hier eher an Dinge und Praktiken, alles, was sie schon einmal gestreift hat im verheißungsvoll doppelten Sinn des Worts: hat es sie nicht gestreift, und hat hier nicht Erfüllung gewinkt? Menschen würde sie gar nicht mit einbeziehen wollen; mit denen ist man doch irgendwie durch. Aber den Dingen und Praktiken, wie immer man sie verabscheut oder wie unzugänglich sie einem erscheinen mögen, haftet dies Unzugängliche an: prompt kann man sie nicht erschöpfen.

So müßte man selbst sein, denkt sie, ein Ding für sich selbst, nichts als eine lautere Praktik. Oder ein unbewußtes Ding für sich selbst, für die Gegenstände ein achtsamer Umgang.

Wenn sie durch die Dinge hindurchginge wie Jesus durch ein Ährenfeld, das kann doch nicht gutgehen.

Sie ist nicht Jesus; nur dann hielte sie es vermutlich aus, daß die Ähren geknickt, die Körner achtlos verstreut werden.

Warum achtet eigentlich niemand darauf, daß sie nicht brüskiert wird? Nicht aus Rücksichtslosigkeit, obwohl auch die selbstverständlich an der Tagesordnung ist. Ihrer Ansicht nach muß noch etwas dazukommen. Wahrscheinlich gehen von ihr einfach zu wenig Signale aus. Sie ist wie eine schlecht markierte Straße, denkt sie; keine Seitenpfähle, ein unbefestigtes Bankett. Sie war ja schon immer der Ansicht, daß es ihr an der nötigen Begrenzung fehlt. Sie spürt sie nicht, und was andere sehen sollen, muß man selbst wenigstens fühlen können. So merken es die andern nicht einmal, wenn sie sie anrempeln, und sie selbst, sie fühlt sich in der Form von: brüskiert. Wie mag es sich anfühlen, wenn man sich fühlt, ohne zugleich brüskiert zu sein? Böhmische Dörfer sind das für sie.

Soll sie gefälligst besser auf sich aufpassen: um sich zu spüren oder um nicht brüskiert zu werden. Aber wie soll man auf etwas aufpassen, was nicht ist.

Das sind so logische Späßchen.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt23.html.

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