Ilse Bindseil

Im Museum

Wenn man auf der Klassenreise einmal gar nichts erleben will, dann wird einem auch da noch ein dicker Strich durch gemacht.

Sinsheim, Technikmuseum, riesig; Autos und Eisenbahnen, Panzer und unbemannte Raketen. Heute darf nun einmal mit Gewalt so umgegangen werden, wie es die Erwachsenen tun, technisch interessiert. Ausstellungshalle rechts, Ausstellungshalle links, dazwischen, open air, eine Tribüne. Bißchen sehr viel Bundesgrenzschutz für ein Technikmuseum. Vielleicht ein Pflichtbesuch der Rekruten. Ein Sanitätszelt? Viele alte, festtäglich gekleidete Leute. Die drei Punks aus Sinsheim.

Ach, du lieber Gott, sage ich, der Kohl kommt!

Wahlveranstaltung, in der Tat.

Guck mal, sage ich, die vielen Zivilen.

Alle Dächer sind besetzt.

Wie oft wurde in den letzten Tagen gefragt: Wer ist der Lehrer? Hier haben wir die Regie abgegeben. Aber nicht einmal mehr ins Museum kann man in Ruhe.

Der Kollege findet's okay. Kein Wunder, bei seinem Fach. Eine Unterrichtsstunde gratis. Auf der Klassenreise. Wenn Kohl wenigstens französisch sprechen würde …

Wie Spatzen hocken die Berliner Schüler auf einem Gerüst, ganz oben einer, dessen Gesundheit im Wortsinn angeknackst ist. Manchmal gehen auf Reisen Freundschaften, manchmal auch Knochen kaputt.

Kohl hat einen leichten Tag. Ein Heimspiel. Er ist aus der Gegend. Dazu "Kaiserwetter". Die meisten Zuhörer sind Ehrengäste; die Männer erfreut, daß sie schon am frühen Nachmittag ein Bier trinken dürfen, die Frauen schon eher frenetisch (= verdammt begeistert: auf den Zehenspitzen, die Hände rhythmisch klatschend über dem Kopf) Die drei Punks aus Sinsheim, zwischen Bierbude und politischer Abneigung hin und hergerissen, denken sich schließlich etwas besonders Verletzendes aus: Wir wollen Hannelore! malen sie mit Kugelschreiber auf ein winziges Papier. Das dauert beinahe so lange, wie der Bundeskanzler redet. Langweilig, wenn nicht auf dem Gerüst Berliner Schüler säßen, von denen niemand weiß, daß es Berliner sind.

Buuuuuuuuuuuuh!

Buuuuuuuuuuuuuuuuuuh!

Wäre ich die Autorin von "Nesthäkchen", würde ich sagen: Helle, frische Mädchenstimmen dringen an des Kanzlers Ohr. Er hört's, obwohl die Entfernung gewaltig ist. Mahnende Sätze gehen in unsere Richtung. Der Kanzler hat, wenn nicht mit, so doch über uns gesprochen.

Geschickt, murmelt der Fachkollege. Er polarisiert nicht. Ist wichtig vor der Wahl.

Die Berliner Mädchen wollen offensichtlich nicht gewählt werden.

Koooooooohl, wir haaaaaaassssssssssssssssen diiiiiiiiich!

Er kann es unmöglich überhört haben, legt aber gerade dar, daß die Frauen, die als Hausfrauen ihr ganze Kraft für das Familienglück einsetzen, den Respekt der CDU verdienen, daß freilich auch die Frauen, die lieber arbeiten gehen und Familie und Beruf verbinden wollen, den Respekt der CDU verdienen - und braucht dafür seine ganze Konzentration. Nur die Sicherheitskräfte sind auf uns aufmerksam geworden.

Ich habe meine Lektion gelernt. Wer von möglichst allen gewählt werden will, polarisiert nicht. Richtig. Aber kompliziert.

Sag mal, sag ich, wollen wir nicht mal langsam, ich mein, bevor das hier aufgelöst wird?

Der Kollege klopft die Pfeife aus. Ein aufgeregter Mann in Latzhose beschimpft die Schüler.

Runter von meinem Gerüst! Ich hab es grade erst lackiert, und ihr macht es jetzt wieder schmutzig. Los, runter da!

Ihr seht doch, sagt der Kollege, der Mann möchte, daß ihr da runter geht. Er hat das Gerüst erst lackiert und will nicht, daß es beschädigt wird.

Hops, hops, hops, sind alle wieder unten. Paß beim Aufprall auf, sage ich zu dem, dessen Gesundheit angeknackst ist. Er paßt schon auf. Friedlich bummeln wir zum Bus zurück. Inzwischen hat eine Frau begriffen, daß wir die Lehrer sind, und spuckt Gift und Galle. Aber der Busfahrer strahlt.

Was für ein Tag! Kohl hat ihm die Hand gegeben.

Auf der Heimfahrt vertraut er uns an, daß er katholisch und aus uralter Familientradition SPD-Wähler ist. Trotzdem, ein Händedruck vom Kanzler, das ist etwas, das kann er den Kollegen erzählen. Uns findet er recht nett, wirklich, total in Ordnung. Ob wir ihm vielleicht das Nothämmerchen zurückgeben könnten, daß er seit dem letzten Ausflug mit uns vermißt?

Mein Kollege vermittelt und bringt zwei Nothämmerchen zurück. Der Busfahrer betrachtet sie nachdenklich. Merkwürdig, das ist eins zuviel …


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt25.html.
Diese Episode einer Klassenfahrt mit einer 8.Klasse an den Neckar im Jahr 1992 erschien in der schbunz, der legendären Schülerzeitung der Sophie-Scholl-Schule in Berlin-Schöneberg.

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