Ilse Bindseil
Zum Inhaltsverzeichnis
Es tut mir leid, sagte der Mann, aber Luna X meldet sich nicht.
Sind Sie verrückt, sagte ich, sie tun doch dort zu acht Mann Dienst.
Der Mann zuckte die Achseln und beugte sich wieder über sein Pult. Er verglich die Nummer auf seiner Liste mit der Zahlenkombination, die er gerade gewählt hatte, stöpselte dann überstürzt und ziellos, wie mir schien, die diversen Stecker um, und sofort erfüllte die warme Stimme meines Sohnes die enge Telefonkabine.
Ich bin’s, Vater! rief ich und vergaß in der Eile, auf ›Senden‹ umzustellen.
Hier Luna X, hier Luna X, wiederholte die Stimme und brach dann ab, um auf Antwort zu warten.
Ich bin’s, Vater! rief ich erregt und wußte plötzlich nicht weiter.
Guten Tag, Vater, sagte die Stimme erfreut. Ist bei euch zu Hause alles in Ordnung?
Mutter ist heute nacht gestorben! rief ich und vergaß schon wieder, auf ›Senden‹ umzustellen.
Am andern Ende war tiefe Stille.
Der Telefonist trat gegen die Tür und zeigte mir drohend den Vogel.
Mutter ist tot! schrie ich. Du wirst doch zur Beerdigung kommen?
Ich dachte schon, er hätte mich wieder nicht gehört. Dann sagte die Stimme langsam:
Wartet mit dem Beerdigen nicht auf mich. Wir haben hier oben ein paar Krankheitsfälle.
Ich dachte, das Herz bleibt mir stehen.
Und du? schrie ich, als könnte ich ihn mit Schreien erreichen. Bist du denn gesund?
Ach, sagte er, ich bin schon drüber weg.
Wir wurden abrupt getrennt.
Nach einem halben Jahr waren sie alle wieder da. Zurückbeordert wegen gesundheitlicher Schäden. Als sie aus dem Untersuchungshospital entlassen wurden, stand ich mit den andern Angehörigen Spalier. Sie kamen einer nach dem andern heraus und schritten im Gänsemarsch die breite Treppe hinunter. Sie waren bleich, hohläugig, ohne erkennbare Zeichen von Unruhe oder freudiger Erwartung. Sie waren alle jung. Frühinvaliden. Aber sie waren vollzählig. Niemand war oben gestorben. Bei der Untersuchung hatte man keine aktiven Prozesse mehr festgestellt. Die Krankheit war unwiderruflich zu Ende. Aber man hatte einen Hund getötet, der als Maskottchen mitgereist war, und die Obduktion hatte eine eigentümliche Veränderung der inneren Organe zutage gefördert.
Wie ein verholzter Kohlrabi, sagte der Pathologe in der Pressekonferenz und hielt die Leber gegen das Licht.
Der Vergleich wanderte durch alle Zeitungen. Indessen wußte niemand, was es mit den Veränderungen auf sich hatte.
Wir lebten wieder zusammen, mein Sohn und ich. Aber es kam nichts zustande. Ich ging arbeiten, und er saß drohend herum. Dabei, untätig war er eigentlich nicht. Gelegentlich bemerkte ich Zeichen einer intensiven Beschäftigung, besonders dann, wenn er meine Heimkehr verpaßt hatte. Er kramte und stöberte in seinem Zimmer herum, daß es sich im Wohnzimmer anhörte, als wäre oben ein Aufstand der Ratten. Einmal, als ich wegen einem Migräneanfall zu Hause geblieben war und mich mit einer Kompresse auf die Wohnzimmercouch gelegt hatte, öffnete sich ganz leise die Tür, und mein Sohn lugte herein, wie um sich zu vergewissern, ob ich auch tatsächlich schlief. Dann zog er die Tür ebenso leise wieder zu, und von da an kamen die merkwürdigsten Geräusche aus seinem Zimmer.
Zweimal traten ungewöhnliche Ereignisse ein.
Das eine war die vorzeitige Rückkehr der Ablösungsmannschaft, die ebenfalls wegen Krankheit zurückgerufen und vorzeitig in Rente geschickt wurde. Als wir uns die Empfangsszene im Fernsehen ansahen, schien es mir einen Augenblick, als rüttele mein Sohn an den Ketten der Lethargie, die ihn gefangenhielt. Er drehte sich lebhaft nach mir um, als seine Leidensgenossen die Gangway herunterkamen, so als wollte er mir etwas sagen. Aber in dem Moment machte das Fernsehen einen Schnitt und zeigte einen Reporter, der dem zuständigen Minister ein Mikrophon unter die Nase hielt und ihn nach den Konsequenzen aus dem Debakel befragte. Wir machen weiter, sagte der Minister fest. Da fiel mein Sohn wieder in sich zusammen und sagte kein Wort mehr bis zum Schlafengehen.
Das andere Ereignis war der Besuch einer Gruppe junger Wissenschaftler, die nach ihrer eigenen Aussage die Biographien »unserer Raumfahrthelden« zusammenstellten und meinen Sohn um seine Mitwirkung baten. Ich machte mich bei der Unterredung im Hintergrund zu schaffen und hörte gespannt zu, wie er mit einer Redefreudigkeit, die ich seit seiner Heimkehr nicht mehr bei ihm erlebt hatte, von seinem beruflichen Werdegang berichtete. Die Schule mit ihrer frühzeitigen Spezialisierung auf Elektronik, die Militärzeit mit zwischenzeitlicher Befreiung für ein Studium der Astrophysik und Kybernetik, die Rückkehr zur Armee, die Trainingslager in den Camps der Raumfahrtbehörde: diese Stationen einer unbeirrbaren Karriere zogen noch einmal an mir vorüber, und die jungen Wissenschaftler schrieben mit glänzenden Augen mit.
Und nun zu Ihrem ersten dienstlichen Aufenthalt auf einer Raumfahrtstation. Wie ist es Ihnen auf Luna X ergangen?
Mein Sohn verfinsterte sich.
Wir erkrankten, sagte er kurz.
Alle?
Er nickte.
Wie kam es dazu? Haben Sie etwas Falsches gegessen, oder haben Sie etwa Kontakt mit einer krankmachenden Substanz von außerhalb gehabt?
Mein Sohn schüttelte mürrisch den Kopf.
Da platzte einer von den Fragern heraus.
Aber einer Ihrer Kollegen hat gesagt, fing er an und verstummte, als er das finstere Gesicht meines Sohnes und die mißbilligenden Mienen der andern sah.
Nach dieser Unterbrechung kam das Gespräch nicht mehr in Gang.
In der Folgezeit versuchte mein Sohn mehrmals, Kontakt zu seinen Kollegen von Luna X aufzunehmen. Aber sie entzogen sich seinen Bemühungen, ließen sich verleugnen oder waren ganz einfach nicht aufzufinden.
Du hast dich eben die erste Zeit zu sehr zurückgezogen, tröstete ich ihn. Da haben sie dich vergessen.
Er gab den Versuch nicht auf. Da er aber sehr unbeholfen war, trat ich ihm mit der einen oder andern Handreichung zur Seite. So konnte ich ihn unauffällig im Auge behalten.
Tatsächlich war er bei allen Dingen des täglichen Gebrauchs merkwürdig ungeschickt, wie gelähmt. Ich schob diese Hemmung auf seine lange Kasernierung. Er ist ja nie ein freier Mensch gewesen, sagte ich mir. Im Internat, in der Armee, im Trainingslager, ja noch auf der Universität, auf die sie ihn nur abordnungshalber, als einen ausgezeichneten Soldaten, geschickt hatten, war er wie ein unmündiges Kind gehalten worden. Da brauche ich mich nicht zu wundern, dachte ich, wenn er nicht weiß, wie man eine Briefmarke aufklebt.
Insgeheim wußte ich aber, daß es nicht bloßer Mangel an Übung und Routine war, was meinen Sohn so unbeholfen machte. Er erweckte durchaus nicht den Eindruck, als wenn bei ihm mit Einschleifen etwas zu erreichen gewesen wäre. Ihn hätte man lieber noch an der geringfügigen Bewegung, zu der er sich aufraffte, gehindert. So unüberwindlich erschien der Widerstand, mit dem er kämpfte, daß man eher an eine prinzipielle Untauglichkeit als an eine zufällige Hemmung seiner Gelenke gedacht hätte.
Er ist nicht defekt, sagte ich mir, wenn ich ihn eine Zeitlang beobachtet hatte. Er paßt nur nicht hierher.
Er ist wie ein Albatros, dachte ich unwillkürlich und war zugleich entsetzt über die Tragweite des Vergleichs. Er ist vom Himmel gefallen. Nun zieht er seine Flügel hinter sich her.
Sie haben ihn da oben ruiniert, dachte ich. Jetzt geht er als Krüppel durch die Welt.
Einmal habe ich ihn furchtbar böse gemacht. Ich war in sein Zimmer hinaufgestiegen bei einer der seltenen Gelegenheiten, wo er das Haus allein verlassen hatte. Daß ich ihm in Angelegenheiten seines höchsten Interesses half, gab mir den Mut und, wie ich meinte, auch das Recht dazu. Ich wollte endlich der geheimnisvollen Tätigkeit auf den Grund kommen, der er sich, sobald er sich allein glaubte, widmete. Und ich hoffte immer noch auf Papiere zu stoßen, Aufzeichnungen, die er auf Luna X gemacht haben konnte, als seine Finger noch den Bleistift zu führen vermochten. Wer weiß, vielleicht klärte sich alles auf!
Seit seiner Kindheit hatte mein Sohn sich von keinem Buch und keiner Bastelarbeit getrennt. In den häufigen Zeiten seiner Abwesenheit hatten meine Frau und ich nichts anzurühren gewagt, zumal er sein Zimmer stets peinlich aufgeräumt zurückließ. Es quoll über von Zeitschriftenstapeln, Briefmarkenalben, technischen Anleitungen und merkwürdigen Sammlungen aller Art.
Ich war im schönsten Räumen, als mein Sohn auf der Schwelle erschien. Er mußte nahezu geräuschlos die Treppe heraufgekommen sein, oder ich war von meiner Neugier allzu gefangengenommen, jedenfalls bemerkte ich ihn erst, als er nach einem wunderschönen, vielzackigen Bergkristall, dem Prunkstück seiner Steinsammlung auf dem Regal gleich neben der Tür, langte und ihn, ich muß schon sagen, mit einer umwerfenden Zielsicherheit nach meinem Kopf schleuderte. Ich duckte mich im letzten Moment und huschte, als er mit einem ungeheuren Satz auf mich zu sprang, an ihm vorbei. Krachend fiel die Tür hinter mir ins Schloß, und ich schlich mit schlotternden Knien nach unten.
Von da an konnte ich keine Nacht mehr schlafen. Ich fürchtete mich vor meinem Sohn, und ich freute mich zugleich, daß ich ihn seiner Gewalttätigkeit überführt hatte. Was war in ihm vorgegangen, daß er seine gewohnte Schwerfälligkeit überwunden und mich um ein Haar mit einem gezielten Wurf niedergestreckt hatte? Ich begriff, daß ich seine Wut auf ein anderes Objekt richten mußte, wenn ich unbehelligt bleiben wollte. Nur so konnte ich hoffen, ihn unter Kontrolle zu behalten, ohne ihn einsperren lassen zu müssen.
Ich fing an, mir eigene Gedanken über den Verbleib seiner Kollegen zu machen. Einen von ihnen hatte er besonders ins Auge gefaßt.
Der hat gequatscht, sagte er mürrisch, als ich ihn fragte, warum er gerade ihn mehr als die andern suchte.
Er war sich seiner Sache so sicher, daß ich mißtrauisch wurde. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit fuhr ich in die Hauptstadt und suchte den Leiter der Forschungsgruppe in seinem Büro im Hochhaus der …stiftung auf. Er verzog das Gesicht, als er mich erkannte.
Es ist nett, daß Sie mich aufsuchen, sagte er. Aber wir sind nicht mehr dienstlich miteinander befaßt. Wir haben das Projekt aufgegeben.
Das ist in keiner Weise eine Kritik, wehrte er ab, als ich ihn zu unterbrechen versuchte. Aber Sie sehen ja selbst, Luna X steckt in einer Krise. Wenn wir Krankengeschichten schreiben wollten, dann brauchten wir uns nicht ausgerechnet mit den Astronauten zu befassen.
Ich vergaß, warum ich hergekommen war.
Aber Sie müssen doch herausbekommen, warum sie alle krank werden! schrie ich und hieb vor Erregung mit der Faust auf den Schreibtisch.
Er schüttelte den Kopf.
Die Gründe sind immer banal. Eine Allergie, ein Virus, was weiß ich.
Schwindel befiel mich. Ich wollte nach draußen.
Was gibt Ihnen eigentlich die Gewißheit, fragte ich mühsam, daß es sich tatsächlich nur um einen Zwischenfall vom Kaliber einer Grippe und nicht beispielsweise um einen hochbedeutsamen Eingriff von außerhalb handelt?
Er nickte.
Sie haben ganz recht, nichts kann mir diese Gewißheit geben, es sei denn, wir hätten einen Beweis. Aber solange wir keinerlei Beweise haben, gehe ich davon aus, daß es sich um etwas so Alltägliches wie eine Grippe handelt.
Er hielt mir eine Mappe mit Papieren unter die Nase.
Wir stellen jetzt einen Band über die allerersten Mondfahrer zusammen. Glenn, Armstrong und wie sie alle hießen. Es soll ein Beitrag zur Überwindung der Depression sein, in der unsere Raumfahrt sich zur Zeit befindet. Ich bin sicher, wenn wir uns noch einmal in die Pionierzeit der Astronautik vertiefen, werden wir einen neuen Anknüpfungspunkt finden.
Im übrigen, setzte er abschließend hinzu, ist damals ja auch dies und das vorgekommen. Aber etwas Übersinnliches war nicht darunter.
Ich war schon an der Tür, als mir wieder einfiel, warum ich hergekommen war.
Hat mein Sohn sich noch einmal bei Ihnen gemeldet? fragte ich.
Er schien mir ungeduldig, aber nicht überrascht.
Was ist? drängte ich. Haben Sie ihm den Namen des Verräters genannt?
Er zog mißbilligend die Augenbrauen hoch.
Ihr Sohn kannte den Namen besser als wir. Er forderte mich auf, diesem Verräter, wie Sie ihn zu nennen belieben, etwas auszurichten. Aber ich konnte ihm nur dasselbe sagen wie Ihnen, daß wir mit dem Projekt und natürlich auch mit den Leuten nicht mehr befaßt sind.
Ich kann Sie nur warnen, setzte er hinzu, aber da war ich schon aus der Tür.
Eine seltsame Kooperation mit meinem Sohn begann. Von nun an ging ich ihm tatkräftiger als je zur Hand. Wir wollten beide an den Kollegen herankommen, der am ehesten zum Reden bereit war, und so suchten wir ihn zusammen. Mein Sohn lieferte die Anknüpfungspunkte, ich war für das taktische Vorgehen verantwortlich. Erstaunlich war, woran er sich alles erinnerte. Früher hatte er eine Freundin in T., sagte er beispielsweise, und ich unternahm es, die Freundin in T. ausfindig zu machen und einen ersten Kontakt zu ihr herzustellen. Dabei blieb es dann meist, obwohl mein Sohn äußerst mißtrauisch war und alles für Lüge erklärte. Bestimmt weiß sie, wo er ist, sagte er finster, sie gibt es nur nicht zu. Wenn er sich gar zu sehr auf eine Idee versteift hatte, fuhr ich mehrmals an denselben Ort und trieb mich in der Gegend herum, als Angebot an den Zufall sozusagen, uns, wenn er denn wollte, in die Hände zu arbeiten. Da mein Sohn wegen seiner Unbeholfenheit, seiner mimischen Starre und der widerspenstigen Fülle seiner früh ergrauten Haare überall auffiel, taugte er für solche Unternehmungen nicht und mußte wohl oder übel zu Hause auf mich warten. Aber wenn er mir auch nie ganz traute, sah er doch, daß er auf mich angewiesen war, und anstatt mir Vorhaltungen zu machen, brummte er nur unzufrieden und ging auf sein Zimmer.
Eine ungeduldige Spannung bemächtigte sich meiner. Ich ertappte mich beim Halluzinieren. Manchmal, wenn ich auf einem meiner fruchtlosen Ausflüge in irgendeines dieser abgelegenen Landstädtchen war, wo er sich »mit Sicherheit verkrochen« hatte, stellte ich mir vor, wie er mir über den Weg lief, und ich würde ihn unterhaken und mit ihm auf und ab promenieren, und er würde mir alles erzählen. Solch eine Gewißheit verliehen mir diese Träumereien, daß ich mich bereits beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes suchend umblickte, so sicher war ich, daß ich ihn treffen mußte. Kein Zweifel, ob ich ihn nach dem Gruppenfoto, das vor dem gemeinsamen Abflug zur Raumstation gemacht worden war, und nach dem flüchtigen Blick, den ich vor dem Hospital auf ihn geworfen hatte, auch erkennen würde, trübte die Gewißheit einer in aller Form verabredeten Begegnung, und nur die voranschreitende Zeit und der Gedanke an meinen Sohn konnten mich dazu bewegen, meinen Erkundungsgang abzubrechen.
Aber eines Tages geschah alles so wie in meinen Träumen. Ich trat aus dem Bahnhof einer uninteressanten Mittelstadt und erkannte ihn sofort, wie er über den Vorplatz ging, mit jener eigentümlichen Mühseligkeit, die in Ermangelung jeder erkennbaren äußeren Ursache auf eine zerebrale Störung oder einen vorzeitigen Schlaganfall schließen ließ. Er kniff die Augen zu, als blendete ihn das Licht, und als ich ihn zögernd ansprach, da verlangsamte er sachte seinen ohnehin schon unendlich gemächlichen Schritt. Für Sekunden hob er die Augen, und ich sah darin alles, was ich schon von meinem Sohn her kannte, brütenden Starrsinn, Schwerfälligkeit des Denkens und Empfindens. Aber die erwartete Schüchternheit, Ängstlichkeit und ängstliche Redelust erkannte ich nicht.
Mit dem gleichen Griff, mit dem ich bei gemeinsamen Besorgungen der Gehgeschwindigkeit meines Sohnes aufzuhelfen wußte, hakte ich ihn unter und promenierte mit ihm auf dem Bahnhofsvorplatz auf und ab, wobei ich ihm von meiner Person und meinem Anliegen berichtete.
Er wunderte sich über nichts, und als ich ihm von dem Angriff erzählte, den mein Sohn auf mich unternommen hatte, sagte er nur verächtlich:
Er war schon immer ein Schläger.
Er zwinkerte heftig und offensichtlich vor Vergnügen mit den Augen und drückte meinen Arm mit greisenhafter Kraft.
Ihr Sohn liebt den Hinterhalt, sagte er feierlich und so als teilte er mir eine wichtige Spielregel mit.
Ich versuchte seine Hand abzuschütteln, und wie um den Angriff auf mehreren Ebenen zugleich vorzutragen, schleuderte ich ihm nun gar nicht mehr vorsichtig und leise, sondern im Gegenteil laut und erregt ins Gesicht:
Und nach Ihrem Leben trachtet er auch!
Leute drehten sich nach uns um.
Er hatte seinen Griff für einen Augenblick gelockert, und ich hatte mich hastig befreit. Wir gingen immer noch auf und ab, jetzt aber in dem Tempo, das er diktierte. Nach einer Minute gemeinsamen Schweigens sagte er gleichgültig und schleppend, wie seine Gangart war:
Ja, ja, wir haben uns oben geprügelt.
Mein Pech, daß der Zug erst am Nachmittag ging!
Erschöpft langte ich zu Hause an und wollte mich in die Küche schleichen, um ein Glas Wasser zu trinken. Aber mein Sohn kam mir schon die Treppe herunter entgegen.
Du hast ihn gefunden, sagte er streng.
Ich war so kaputt von der Enttäuschung und dem plötzlichen Nachlassen der Spannung, daß ich meine Gesichtszüge nicht mehr zusammenhalten konnte. Unwillkürlich wich ich in die Garderobe zurück und barg mein Gesicht in den kratzigen Falten des Lodenmantels, der noch vom Winter dort hing. Er kam mir nach. Im Dämmerlicht war er grauer als sonst und sah krank und verwüstet aus. Die widerspenstigen Haare waren abenteuerlich zerstrubbelt, was ihm einen Anflug von Bohemien verlieh. Um die Augen aber und die verschatteten Wangen sah durch die hagere Eleganz der Schädel eines Gerippes.
Was hat er gesagt? fragte er.
Ich drückte mein Gesicht fester in den Mantel.
Er sagt, ihr habt euch oben geprügelt.
Er lachte lautlos. Ich weiß nicht, woran ich merkte, daß er lachte. Aber da mir das Lachen etwas Menschliches zu sein schien, wollte ich versuchen, ihn ein wenig weiter auf den Pfad der Menschlichkeit zu locken, und fügte hinzu:
Im übrigen geht es ihm nicht anders als dir.
Seine hageren Finger gruben sich in meinen Arm. Ich hielt ganz still und roch an dem rauhen Loden.
Was hat er noch gesagt? flüsterte er an meinem Ohr.
Mir lief der Schweiß in Perlen über das Gesicht.
Er hat gemeint, hauchte ich, ihr seid sehr krank und geht bald alle zugrunde.
Wieder schüttelte ihn das lautlose Lachen. Seine klammerige Hand aber wanderte hinauf zu meinem Hals.
Er irrt sich, lispelte er und beugte sich direkt über mein Gesicht. Er denkt, es geht uns schlecht. In Wirklichkeit geht es uns nur anders.
Er sagt aber, stammelte ich und hatte dabei das Gefühl, ihm meinen unerträglich heißen Atem ins Gesicht zu blasen, er sagt, es geht ihm täglich schlechter. Ihr seid schon so gut wie tot, sagt er, und er denkt daran, selber ein Ende zu machen.
Er schien mir jetzt doch beunruhigt.
Wir sind nicht tot, murmelte er. Wir werden uns nur verpuppen.
Seine Finger wanderten an meinen Halswirbeln auf und ab, als suchten sie die richtige Stelle.
Alles nur Theater, murmelte er. Von wegen, daß er sich schlecht fühlt und ans Sterben denkt! Er kann es bloß nicht erwarten. Schon auf der Station hat er alles an sich gerissen. Auch jetzt will er wieder der erste sein.
Du mußt mir zeigen, wo er ist! herrschte er mich an und drückte gefährlich zu.
Ich gab ihm einen Stoß, daß er schwankte und hinstürzte wie ein Klotz.
Unwillkürlich mußte ich grinsen.
Heute kommst du jedenfalls nicht mehr hin, dachte ich und gab ihm noch einen Tritt. Er rührte sich nicht. Das brachte mich zur Besinnung. Vorsichtig faßte ich nach seiner Hand, die mich soeben noch im Würgegriff gehalten hatte. Sie war eiskalt. Fast unmerklich klopfte der Puls. Er wird sterben, sagte ich mir und sprang ins Wohnzimmer, um ihm eine Decke zu holen. Er starb aber nicht. Im Gegenteil, ich spürte, wie sein Zustand sich stabilisierte. Seine Hand war immer noch eiskalt. Der Puls war schwach, aber es war unvorstellbar, daß er aufhören könnte zu klopfen. Müde ließ ich mich neben ihm nieder und studierte das eingefallene Gesicht. Hatte er nicht gesagt, wir sterben nicht, wir werden uns nur verpuppen? Ich sah sie alle vor mir, die dasselbe Schicksal erlitten hatten wie er. Sie zogen vor meinem inneren Auge vorbei, mühselig, grau und tückisch. Da konnte ich meinen Kopf nicht mehr halten, und ich bettete die Stirn auf seine kalte Hand und dachte, wir müssen sie alle erschlagen.
Später wurde die Krankheit der Astronauten als Mangelerscheinung klassifiziert, hervorgerufen durch eine Unterversorgung sämtlicher, nicht nur der zerebralen Organe und charakterisiert durch eine äußerste Reduktion der Lebensfunktionen bei einer gleichzeitigen und geradezu unwahrscheinlichen Stabilität der gesamten Leistung, einer enormen Lebensfähigkeit, sozusagen, bei überaus herabgesetzter Lebendigkeit. In der ersten Generation traten noch Übersprungserscheinungen auf, physische oder quasiphysische Anfälle von Rebellion. Danach unterblieben derartige Zwischenfälle. Wie Mumien fielen die Mannschaften vom Himmel.
Nach vier, fünf Generationen von Raumfahrtmannschaften, wie einerseits das Krankheitsbild eine deutliche Kontur gewonnen hatte und andererseits nichts darauf hindeutete, daß das Problem sich von selbst erledigen werde, wurde der Betrieb der Station vorübergehend, schließlich endgültig eingestellt.
Was die Bewegungsfreiheit der Kranken betraf, so wurde ihr nach einem ebenso ziellosen wie gewalttätigen Akt von seiten eines der Invaliden ein Ende bereitet. Für die Aggressoren vom Mond wurde die Internierung verfügt. In vollständiger Isolation dämmerten sie dahin, von ihren Angehörigen und dem Publikum gleichermaßen vergessen. Selbst jener Vater, der nach den Berichten einer Forschergruppe, die sich um die Biographie der Astronauten bemüht hatte, in einer ebenso seltsamen wie am Ende lebensgefährlichen Symbiose mit seinem zerrütteten Sohn angetroffen worden war, kümmerte sich nach der Genesung von einer nervösen Erkrankung nicht mehr um ihn. Offenbar hatte der Anschlag seines Sohnes seine affektive Bereitschaft aufgezehrt. Er erkannte ihn nicht wieder.
Zum Inhaltsverzeichnis
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt27.html.
© 1988 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.