F. S. und Ilse Bindseil

»Danach wird Großartiges geschehen«

Eine Verständigung über Theorie

10.4.16

Sehr geehrte Frau Bindseil,

mehr noch als die Peinlichkeit eines Leserbriefs hemmt mich die Peinlichkeit einer Vorstellung meiner selbst. Bringen wir es hinter uns, danach wird Großartiges geschehen.

Mein Name ist F.S., ich bin ein angehender Theaterkünstler mit einem großen Interesse für Literatur. Bisweilen werde ich traurig, dass ich nicht Schüler der Sophie-Scholl-Schule in Berlin bin, sondern in einem hessischen Provinzgymnasium festhänge, und dann flüchte ich mich in Philosophie und politische Theorie, wovon ich nicht selten noch trauriger zurückkomme.

Eine ganz grobe Orientierung gebe ich vielleicht, wenn ich sage, dass ich mich im politischen Bereich irgendwo zwischen Bloch und Lukacs, zwischen konkret und isf wiederfinde und mich philosophischer Beschäftigung mit Nietzsche, Whitehead, Kierkegaard und Simone Weil erfreuen durfte – doch all das am Rande, auch ohne die nötige Intensität: was mich letztlich interessierte, waren das Schauspiel und die Dichtung von Dramen und Lyrik, das war Karl Kraus.

Über Bruhns Kritik der RAF bin ich aber auf Sie (ich habe ständig den Impuls zu duzen. Sagen Sie mir dringend, ob das übergriffig oder richtig ist) gestoßen und hängengeblieben: Nicht nur, weil ich vieles nicht verstand – ob das nun an mangelnder Vorbildung oder mangelndem Sprachverständnis liegen möge – sondern besonders, weil vieles, was Sie schreiben, eine Schönheit der Sprache ausströmt, wie ich es selten in linker Theorie erlebte. Damit meine ich gar nicht unbedingt clarté und distincté – im Gegensatz, Ihre Prosa ist breit und bisweilen fordert sie zähe Kämpfe – sondern vielmehr eine klare Anbindung von Politik und Theorie an eine bewusst gemachte Autorin, es scheint durch die Texte eine (Auto)biographie und ein Unwillen zu abspaltendem Denken.

Kurz gesagt, Ihre Art zu schreiben stößt in mir Vieles an.

»es scheint durch die Texte eine (Auto)Biographie«: genauer könnte ich mein Hauptinteresse nicht formulieren, dem, was ich für richtig halte, seine unvermeidliche Relativität mitzugeben: wie und warum ich so denke, wie ich denke. Leider kann ich Theorie und Leben nicht immer auseinanderhalten und erzürne mich über Freunde, die den zufälligen Grund ihrer felsenfesten Überzeugungen nicht mitdenken wollen, gar nicht interessant finden und, Hauptanlass für meine irrationale Wut, nicht einmal die Lücke merken! Dabei sind sie nur im Ganzen anders ›formatiert‹, ich aber bin enttäuscht.

Ja, ich denke, Relativität hat viel mit Wahrhaftigkeit und Wahrheit zu tun. Und eine vom Leben getrennte Theorie wollte ich ohnehin nicht lesen, eben deshalb sehe ich mich ja in der kritischen um.

An diesem Punkt stehe ich vor der Wahl, den Brief in eine Schwärmerei über die Schönheit Ihrer Sprache fallen zu lassen oder in ein kritisches Abarbeiten mehrerer Nachfragen oder Einwände. Da mir die Fragen zu sehr auf den Nägeln brennen, erst die. Ich fange an bei der großen programmatischen Schrift und hoffe, am Ende lande ich beim Text über Fallhöhen, der so reich ist an Gedanken und Sprache und mir doch so verschlossen blieb.

Ich weiß, Sie lieben Descartes, und doch muss ich in Ihren Texten ständig an Hume denken und seinen Graben, der zwischen Sein und Sollen zu ziehen sei. Und dann ist da dieses ungewöhnliche Festhalten am Begriff der Wahrheit. Auch Wahrhaftigkeit. Ist das revolutionär? Ja, weil es heißt, sich nicht den Kopf vernebeln zu lassen. Aber es wird eben auch kein Verhungernder satt davon. Doch ich will mich ernsthaft einlassen auf die passiv rezipierende Theorie. Denn gerade Erwägungen wie die Abwägung von Faschismus und Parlamentarismus zu Beginn der zweiten der »Zehn Thesen« zeigen mir, wie ideologisch das Kuddelmuddel aus deskriptiven und normativen Aussagen ist, in das ich mich allzu oft stürze.

»Begriff der Wahrheit … Wahrhaftigkeit … Aber es wird eben auch kein Verhungernder satt davon«: Wahrheit als internes Kriterium der Theorie, Wahrhaftigkeit als Selbstverpflichtung, innerhalb der Theorie kein anderes Kriterium gelten zu lassen, also auch nicht die Not Verhungernder (die mag für einen selbst so imperativ werden, dass man keine Theorie mehr macht, aber wenn man Theorie macht, gilt zweierlei: die »Not Verhungernder« mitzudenken, wenn sie einem einfällt, und nicht wegzuschieben, aber sie eben zu denken und ihr nicht durch ein innerhalb des Denkens heuchlerisches oder halluzinatives Wollen, Wünschen, Tun vermeintlich gerecht zu werden). Wenn die Theorie nicht vom Geist der Wahrhaftigkeit motiviert und getragen wird, ist sie für mich weniger falsch als sinnlos. Sinnlosigkeit zu wortreichem Scheindenken materialisiert, hat für mich eine geradezu materielle Konsistenz: Nichtsein als Sein. Wenn jemand die inneren Grenzen und äußeren Abgrenzungen seines Denkens nicht mitbedenkt, man kann auch sagen: das Denken allzu unbekümmert, aber durchaus mit Machtanspruch in seine gesellschaftliche Naturexistenz integriert, dann gruselt es mich. In letzter Zeit hat sich aber mein Interesse verschoben: eine Verbindung zwischen (auto)biographischer (s. o.) Wahrhaftigkeit und formaler Wahrheit schwebt mir vor. Das hieße: die eigene philosophische Haltung nicht zu erklären, sondern zu erzählen.

»Sinnlosigkeit zu wortreichem Scheindenken materialisiert, hat für mich eine geradezu materielle Sinnlichkeit.« – schöne Beschreibung für vieles, das mich am Theater und an den Schauspiel-Denkern fasziniert. Nietzsche. Viktor Emerita. Im Übrigen ist es gar nicht schlecht, wenn die eigenen Texte einen gruseln vor Sinnlichkeit und Sinnlosigkeit – besser immerhin, als dass sie wie aufgespießte Schmetterlinge daherkommen.

Im Übrigen wollte ich auch gar nicht den Wahrheitsbegriff selbst hervorheben, mehr die erkenntnistheoretische Konnotation, die er bei Dir hat. Bezeichnend fand ich den Vortrag, bei dem ein Antideutscher erklärte, auf der Basis eines kantschen Wahrheitsbegriff sei er nicht bereit, weiterzudiskutieren. Da kommt dann die Position Bruhns, die Wahrheit sei nur polemisch, mit dem Willen, den Kapitalismus abzuschaffen, zu erkennen.

10 Thesen

Daher zuerst ein paar Anmerkungen zum Wahrheitsgehalt der 10 Thesen.

  1. »Man kritisiert die Wahrheit nicht aus Lust an der Mystifikation, sondern aus dem genau entgegengesetzten Motiv, aus einer Wahrheitsliebe, die alles demaskieren will, einschließlich der Wahrheit, und somit den Mythos wiederherstellt. Ein gefährliches Spiel, da die Wahrheit nur als reine Wirkung der Macht zu sehen, bedeutet, genau die Tradition zu delegitimieren, die in der Aufklärung gipfelt, für die das Wissen und die Wahrheit Vehikel der Emanzipation, Instrumente der Gegenmacht und Tugend sind.« (Maurizio Ferraris, Manifest des neuen Realismus. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber das Zitat hat mich erwischt.)
  2. Mich berührt die IV.These ganz besonders. Es ist eine so lebendige Absage an jeden Reduktionismus und Partikularismus. Doch die Volte am Ende beunruhigt mich. Dass die Theorie schließlich – nach all der Verstehensarbeit – die Welt mit anderen Augen sieht … und dann ist die These um. Was aber ist mit dieser Phrase gemeint? Was folgt daraus? Aktuell komme ich nicht über paulinische Theologie hinaus, wenn ich versuche, das zu deuten … »Vor der Welt ist das Kreuz eine Torheit …«, »durch die Torheit der Predigt selig machen, die daran glauben« (1. Korinther 1,18).

»… dass sie schließlich die Welt mit anderen Augen sieht.« So, als Sprung, wie mir in den Paulus-Zitaten anzuklingen scheint, ist meine Folgerung nicht gemeint, obwohl sie eine Hoffnung formuliert. Ich meine aber ganz simpel, wenn man sich beharrlich und stur auf die Grenze, die Unterschiede, die eigentliche Begriffsleistung als auf das Aufzuhebende fokussiert (wenn man sich z. B. sagt: Ist doch nicht echt, »Dritte Welt« und »Erste Welt«, ist doch eine im Rest willkürliche Einteilung, keine materielle Realität, sondern ein immaterieller Begriff usf.), dann muss das Folgen haben für die Betrachtung; denn es kann einfach nicht sein, dass eine solche zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Gegenständen geübte Fokussierung von (Begriffs)grenzen keine Folgen hat. Man sieht »die Welt mit anderen Augen«, wenn man auch nicht auf Anhieb sagen kann, wie man sie sieht. Auf jeden Fall kann man sagen, dass man den Anteil des Verstandes an einer für arg spontan genommenen Realität bzw. das Spontane des Verstandes ganz anders einschätzt.

Wenn ich statt des »man« ein »ich« setzen soll, kann ich nun schon erzählen, also ein wenig in der Vergangenheitsform berichten, dass ich vor lauter Grenzbetrachtung bei allem, was mir begegnete – und das war meistens intellektueller stuff – zuerst die Strukturen, also »vor lauter Wald nicht mehr die Bäume« sah, so wie vielleicht ein Architekt, wenn er ein vollständiges Haus mit Balkonen, Tünche und Verzierungen erblickt, Mauern und unsichtbare Träger sieht (und gelegentlich zu dem Schluss kommt: kann ja gar nicht halten, muss ja zusammenfallen). Und so wie er gelegentlich zu diesem Schluss kommt, so kam auch ich immer öfter zu dem Schluss: geht gar nicht, dient nur der Rechtfertigung, nicht der Erkenntnis, von hier, dieser Voraussetzung, kommt man gar nicht nach dort, zu jenem Schluss. Warum ich in der Vergangenheit berichte? Weil es ein bißchen zwanghaft wurde und ich jetzt versuche, wieder etwas anderes zu sehen.

Verstanden.

  1. Eine Nachfrage zur Behauptung in der VI. These: Was konkret ist gemeint mit »jetzt, wo die Utopie Gestalt angenommen hat« und dem »was doch längst trivial geworden ist und aus allen Poren der Gesellschaft schwitzt«? Ich sehe die Gestalt der blochschen Utopie noch lange nicht vor mir.

Man kann die Utopien weder vom Schicksal ihrer Schlüsselbegriffe noch von ihren Umständen abtrennen. Freiheit, zum Beispiel, wie wir sie heute erleben, ist enorm, aber sie hat mit der ursprünglichen Utopie zugleich nichts zu tun. Selbst die einfachste Reisefreiheit ist ganz anders als zu Zeiten, wo man dachte, überall hinreisen zu können, das müsste utopisch sein. Meinungsfreiheit, dieses utopische Recht stellt sich unter der Bedingung einer innerhalb der Realität überhand genommenen und zur bedeutenden Tatsache verdichteten Meinung ganz anders dar als zu Zeiten, wo Meinungen und Tatsachen noch locker unterschieden werden konnten und überhaupt weniger gemeint wurde. (Du kannst natürlich sagen, das ist nicht Bloch. Aber wo wird auch er angeknabbert?) Andererseits stammen unsere haltbarsten Utopien aus Grenzsituationen, die wir unserm ärgsten Feind nicht wünschen sollten. Ich denke an »Brüderlichkeit«: ein Barrikaden-, auch ein Schützengraben-(»Ich hatt’ einen Kameraden«)-, ein (onkologischer oder HIV-)Schwerpunktpraxis-Begriff. Kann man auf die traumatische Bedingung wirklich verzichten? Bleibt noch etwas übrig, was einen Sinn ergibt?

Jede Utopie ist angeknabbert, und Bloch ganz besonders. Keiner der Marxisten wurde von der Bourgeoisie derart für Kalendersprüche ausgebeutet. Ich muss denken an die widerliche Attitüde, mit der Hans Jonas Bloch Tiefsinn und intellektuelle Größe attestiert, nur um daraufhin seine marxistischen Verirrungen »geradezurücken«. Und ich muss daran denken, wie in der Abiturrede an der vorgeblich christlichen, vorgeblich humanistischen Oberschichten-Schule, an die zu geraten für mich auch eine Art von verquerer Fallhöhe beinhaltete, die Schulleiterin (CDU) einen Parforceritt von Christus zu Schiller und Sokrates unternahm und dabei immer wieder Bloch zitierte, und ihn apostrophierte als einen junggebliebenen zuversichtlichen Religionsphilosophen …

Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich in den Texten der genannten kritischen Theoretiker viel finde, das im Blochschen Sinne unabgegolten ist, und ich glaube nicht, dass Benjamins »Aura« erledigt ist, wenn man nach ihr ein Parfum benennt.

Ob der Ursprung der Utopie, wenn sie langlebig sein soll, in den Traumata liegen mag, weil gerade die der Kindheit nicht so stark vom Wandel der Produktion und der Ideologieproduktion betroffen sind? Was Lou Andreas-Salomé (Lebenserinnerungen – Das Erlebnis Gott) sagte, gilt doch beinahe überzeitlich: »Unser erstes Erlebnis ist, bemerkenswerter Weise, ein Entschwund. Eben noch waren wir alles, unabgeteilt, war unabteilbar von uns irgendwelches Sein – da wurden wir ins Geborenwerden gedrängt, wurden zu einem Restteilchen davon, das fortan bestrebt sein muß, nicht in immer weitergehende Verkürzungen zu geraten, sich zu behaupten an der sich immer breiter vor ihm aufrichtenden Gegenwelt, in die es aus seiner Allfülle fiel wie in – zunächst beraubende – Leere. So erlebt man zuerst gleichsam etwas schon Vergangenes, eine Abwehr des Gegenwärtigen; die erste »Erinnerung« – so würden wir es ein wenig später heißen – ist gleichzeitig ein Choc, eine Enttäuschung durch Verlust dessen, was nicht mehr ist, und ein Etwas von nachwirkendem Wissen, Gewißsein, daß es noch zu sein hätte.«

Und doch gibt es (als Gegenentwurf dazu) kurzfristige, sehr leicht korrumpierbare Utopien, und zwischen ihrem transzendenten Moment und der Marktverwertung liegen Sekunden. Bei Dir selbst heißt es ja [in den Geschichten vom Schutz]: »Tag und Nacht konstruiere ich an solchen Situationen herum, erfinde mir Momente des Glücks, in denen die Zeit stillsteht, ein wortloses Einverständnis, eine kindliche Zutraulichkeit, eine Geste, die alle Zweideutigkeit hinter sich gelassen hat, ein formelles Geständnis, ein für die Ewigkeit geltender Schwur, mit soviel Selbstverständlichkeit ausgesprochen, als wäre es eine Bemerkung zum Wetter: ›… und deshalb liebe ich dich‹ oder ›weil‹. Dann wieder einen guten Grund, der gegen Kritik immun ist, aller Beckmesserei standhält, der die Wirkung in sich enthält, einen tragenden Grund.« Und ich empfinde diese heilen Momente auch, diese Momente, von denen ein utopisches Denken ausgeht, »weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist«. Ich finde diese versöhnenden Momente meistens in der Kunst, auch darin kann ich Adorno gut verstehen. Aber wegen der Sehnsucht, die darin steckt, sind diese Momente eben auch sehr schnell anzuknabbern, denn nichts ist so verwertbar wie Sehnsucht. In der Erfüllung der Utopie die Sehnsucht nicht zu vergessen, vielleicht ist es das.

Mein Denken hat sich wohl ein wenig anders zentriert: Wenn ich lese »Momente des Glücks«, »heile Momente«, dann sehe ich das Wort »Moment« genauso groß geschrieben wie das Wort »Glück« oder »heil«, und ich kann gar nicht mehr verstehen, wie ich es jemals ›übersehen‹ konnte. Wovon der Moment eine definierende Eigenschaft ist, das kann man doch ohne diese definierende Eigenschaft gar nicht denken. Und wenn ich einen Satz wie »und deshalb liebe ich dich« als identisch mit Glück an den Moment binde, dann verkörpert eben auch dieser Satz einen einzigen Moment. Und selbst wenn der Satz immer gilt, dann wird er doch nicht immer so empfunden, sondern meistens wird er, ohne darum weniger zu gelten, gar nicht empfunden.

Soweit zu den 10 Thesen und der Wahrheit.

Nun bin ich aber nicht nur ein wahrhaftiger Materialist, sondern auch wütend, sobald ich das Wort »Abschiebung« höre.

Hier nur der Kalauer: Gott sei Dank sind nicht nur Intellektuelle gegen Abschiebung, der Zusammenhang muss also erheblich loser, vielleicht ganz anders sein als gedacht. Ob es sich hier um ein besonders blödes Erbe der 68er handelt, die in die Welt gesetzt hätten, Solidarität und Menschenliebe hinge vom Verstand ab?

Zum Glück sind nicht nur Intellektuelle intellektuell, und wenn Menschen, die Hegel nicht lesen wollen, in ihrer Freizeit auf die Idee kommen, Abschiebung sei abzulehnen, ist das ein – vielleicht unbewusster – intellektueller (nicht: theoretischer) Vorgang.

Ich würde das Intellektuelle woanders verorten: Abschiebung ist in jedem Fall ein intellektueller Begriff, er hat eine unendliche politische und juristische Geschichte. (Es wurden schon Leute auf den Bundespräsidenten-Sessel abgeschoben.) Ein entintellektualisierter Gebrauch von Abschieben (schweizerisch Ausschaffen) ist natürlich möglich, zumal wenn er als Drohung aufgefasst wird, die wahrgemacht werden will. Aber primär ist Abschieben intellektuell und gegen Abschieben zu sein ist intellektuell nur im Notfall – wenn einem die berühmten menschlichen Instinkte verlassen haben und man auf seinen Verstand rekurrieren muss. Gäbe es den Begriff Abschieben samt seiner unendlichen Geschichte nicht, käme man nicht auf die Idee.

Das heißt, ich habe normative Ansprüche an Politik und wäre froh, wenn das mehr als bloße Ideologie sein könnte.

Wie reine Erkenntnis und normativer Anspruch aneinander grenzen, ob sie miteinander zu tun haben oder der scheinbare kausale Zusammenhang zufällige Nachbarschaft ist, ist, glaube ich, eher ein Darstellungs- als ein echtes Erkenntnisproblem, irgendein fake steckt da drin. Was meine theoretische Aufrichtigkeit und mein Bemühen um absolute Stringenz angeht: vielleicht haben sie mehr mit meinem merkwürdig protestantischen Katholizismus als mit meinem Denken zu tun. Oder sie haben mit einer gewissen Vorstellungs-, auch Konstruktionsschwäche zu tun. Es muss immer alles ganz übersichtlich sein, damit ich’s überhaupt denken kann! Dazu kommt tatsächlich eine Ganzheitsvorstellung, von der ich nicht lassen kann: Nicht nur fühle ich mich ständig aufgerufen, so klar zu handeln, wie ich denke (wenn auch nicht das zu handeln, was ich denke, höchstens noch klarer zu denken), es fällt mir z.B. auch schwer, zwischen meinem Kopf und meinem Körper zu trennen, nicht drei Stufen auf einmal zu nehmen, wenn der Gedanke ins Galoppieren kommt, oder im Laufen die Gedankenbewegung nicht abzubilden, zum Beispiel mitten im Lauf stehen zu bleiben, wie man es früher zerstreuten Professoren nachsagte (nur dass die nicht joggten). Ich vergesse aber nicht, dass ich ›eigentlich‹ laufe, sondern ich habe ein Bedürfnis, Kopf und Körper zu harmonisieren.

Kopf und Körper harmonisieren – das mag ja auch mit der Aufhebung der Abspaltung zusammenhängen. Es ist jedenfalls eines der großartigen Dinge, die man im Schauspielen befreit tun kann. An den fake glaube ich aber nicht. Entweder man baut sich ein gespaltenes Dreischrittkonzept nach dem Schema:

  1. Was ist? Wie ist es? [Sein]
  2. Was wollen wir? Was sind die Normen? [Sollen]
  3. Was müssen wir also tun, um Sein und Sollen zu harmonisieren? [Handeln]

Oder man glaubt, dass die Normen implizit im Begreifen des wahren Seins drinstecken (das würde ich mal pauschal der politischen Rechten unterstellen) oder man ist überzeugt, dass die wahrhaftige Darstellung des Seins in der Normativität impliziert ist (Bruhn: Materialismus ist keine Wissenschaft, sondern Kritik – dies wäre eine erste Definition. Die prinzipielle Opposition und der unbedingte Antagonismus […]).

Ob man das ein Darstellungs- oder ein erkenntnistheoretisches Problem nennt, ist mir da ziemlich wurscht, jedenfalls wüsste ich gerne, wo die Normen herkommen und wo sie hingehen und wie ideologisch sie sind.

Erkenntnis beackert das Denken, also sich selbst, und sonst nichts. Normen beackern das Sollen, und zwar nach den Gesetzen des Denkens (sagen wir spaßeshalber »nach den Gesetzen der Nächstenliebe«, was auch nicht hilft, denn es geht nach den Gesetzen und nicht bloß nach der Liebe.) Gewöhnlich sagen wir: Die Normen rationalisieren etwas, was nicht primär Denken ist. Wenn wir uns korrekt über sie äußern wollen, dann können wir uns theoretisch über sie äußern, sagen wir persiflierend »gesetzmäßig über das Gesetz«. Und dann muss ich immer noch hinzufügen: Ich möchte nach Normen handeln, weil ich einen Verstand habe, oder ich möchte nach Normen handeln, weil wir so viele sind und die Welt sonst so unübersichtlich wird. Aber immer gibt es dieses fake: dass ein zur Selbstreflexion bestimmtes und geeignetes Denken für heteronome Zwecke verwendet und damit in eine Bewegung hineingezogen wird, die die gesamte Welt sozusagen halbintellektuell macht.

Ist die Forderung an die Theorie, nicht abzuspalten und stringent zu sein, eine, die man auch sinnvoll an (politisches) Handeln stellen sollte?

Ich sehe natürlich ein, dass alle »Gattungswesen«-Metaphysik Unsinn ist – wenn ich eine Anthropologie im kapitalistischen Sinn aufstelle, ist sie Ideologie, wenn nicht, ist es Unsinn, den Kapitalismus »unmenschlich« zu nennen.

Ganz sicher ist es Unsinn, den Kapitalismus unmenschlich zu nennen bzw. sinnvoll nur dann, wenn ihn jemand zuvor menschlich genannt hat. Die Rede vom »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz«, die versöhnt, was gar nicht versöhnt werden muss (weil es nichts miteinander zu tun hat), zeigt die natürlicherweise ideologische, aber auch rührende Arbeit des Verstandes, sich mit Ansprüchen ins Verhältnis zu setzen, die er selbst in die Welt gesetzt hat.

Aber ich frage auch ganz existenziell: ist Ihr Dringen auf Konsistenz im Philosophieunterricht, ist meine Freude (um nicht zu sagen »seelische Erhebung«) in Theater und Literatur, ist meine persönliche Verliebtheit genauso unter Ideologie zu subsumieren wie der Schein politischen Engagements?

Solange es sich um »Philosophie«, um »Theater und Literatur«, um »persönliche Verliebtheit« handelt, wieso sollte es dann Ideologie sein? Das wäre sie doch nur, wenn diese drei Kategorien für mehr als für sich selbst stünden!

Aber auch diese drei sind doch Momente der Vergesellschaftung! Und es wäre ja nicht schlecht, wenn diese drei im systemtranszendierenden Sinne »mehr als sie selbst« wären, aber eben das zu glauben wäre dann ja Ideologie, nicht?

Ich denke, in dem Moment, wo man sich das fragt, hat man tatsächlich den schwarzen Peter. Wenn man etwas ›benutzt‹ (im systemtranszendierenden Sinne), macht man daraus Ideologie. Sich zu überlegen, worüber man nachdenkt (nicht grübelt, träumt) und worüber nicht, das ist sicherlich ein wichtiger Teil des Nachdenkens.

Ich ahne, aber verstehe nicht, wie Sie den aus Ihren Texten sprechenden Humanismus und den Anschein verantwortlichen Sprechens mit dem objektiven Nihilismus Ihrer Texte verbinden.

Dass man die Welt nicht unbedingt subjektzentriert, sondern die Subjektzentrierung selbst als eine Ideologie oder Konstruktion, die man auch ›wegdenken‹ kann, auffasst, empfinde ich persönlich nicht als nihilistisch (wobei ich vom philosophischen Nihilismus gar nichts verstehe). Denn das ist ja gar nicht so einfach und man muss sich Mühe geben und sehr sorgsam vorgehen, sehr verantwortlich handeln, sich sehr anstrengen, und das empfinde ich eher als das Gegenteil von nihilistisch.

Nihilismus und Sorgfalt widersprechen sich für mich überhaupt nicht, aber lassen wir das Wort, das ein Schlagwort war, das ich von Bruhn entliehen habe (s.u.), beiseite und sagen wir: Angesichts der Revolution, von der Sie sagen, dass sie auf dem philosophischen Misthaufen landet, und anderer Absagen an die politische Veränderung, werkeln Sie ziemlich ungerührt am revolutionären Bewusstsein.

wirklich wesentlich

Nein, nein. Aber die Revolution ist nicht die Beute der Philosophie und nur deshalb bleibt von der Revolution in den Fängen der Philosophie auch nur so wenig übrig.

Aber zunächst noch ein paar Anmerkungen zum Normativen.

  1. Wieder ein Zitat aus einem Text, über den ich bis heute nicht hinausgekommen bin, zur Einleitung ins Thema:
    Aus: Joachim Bruhn, Abschaffung des Staates – Thesen zum Verhältnis von anarchistischer und marxistischer Staatskritik [These 23]
    Die Hoffnung, durch Kritik die Krise zu provozieren, ist durch nichts begründbar. Marxismus, als negative Dialektik des Unwesens verstanden, vermag ebensowenig das Subjekt der Revolution anzugeben wie der historische Anarchismus Bakunins. Als Kritik ist er strikter Anti-Utopismus, die gerade deshalb der Utopie im Schweigen die Treue hält. Die Berufung auf ein positives Allgemeines ist der Kritik versagt, da Allgemeinheit als gesellschaftlich nur negativ mögliche selber das Aufzuhebende darstellt. Kritik ist die Provokation darauf, daß die gesellschaftlichen Individuen die Resultate ihrer Vergesellschaftung sich als die Resultate ihres Willens nicht zurechnen können – also die kontrafaktische Unterstellung dessen, daß es außerhalb des Spiegelspiels von Citoyen und Bourgeois ein Anderes noch geben könne. Kritik ist Negation der ideellen Formen der Vergesellschaftung als Provokation und ungedeckter Wechsel auf die praktische Negation ihrer realen Formen. Daher der reinste Voluntarismus.

    Nachbemerkung
    Der objektive Zustand der Gesellschaft ist der Nihilismus, d.h. die Gleich-Gültigkeit aller Werte als objektives Resultat bürgerlicher Vergesellschaftung (Breuer 1983). Marxens Kritik an Bakunin, dieser könne Revolution nur als den reinsten »Voluntarismus« denken (MEW 18:597–642), ist daher ebenso wahr wie falsch: Anders als der reine, auf nichts als den Willen begründete Akt ist Revolution nicht mehr denkbar – damit ist sie aber überhaupt als eine vernünftige nicht denkbar. Es ist ebenso vernünftig, im Hühnerstall Motorrad zu fahren wie einen revolutionären Verein aufzumachen – die Gründe subjektiver Pathologie, das eine zu tun oder das andere zu lassen, sind nicht wahrheitsfähig.
  2. In der III. These von der vernünftigen »Ausdrucksfunktion, die den sinnlosen Überbau an die irrationale Basis bindet« fällt das gefährliche Wort »irrational«.

Ich muss die Stelle aus der III. These zitieren, damit ich sie vor Augen habe: »Auch von Auschwitz, diesem Ort eines durch und durch inszenierten Tods, gilt der Hegelsche Satz: Wenn es war, dann war es auch vernünftig; vernünftig nämlich im Sinn jener (Willkür und Sinnlosigkeit in ihrem eigenen Begriff ausschließenden) Ausdrucksfunktion, die den sinnlosen Überbau an die irrationale Basis bindet. Diesen entscheidenden Sinn zu leugnen ist konstitutiv für eine Gesellschaft, die vom nie durchschauten Spontancharakter ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit lebt. Als sinnloses ist das Sterben in Auschwitz und das (Über)leben mit Auschwitz ein konstitutives Moment der Vergesellschaftung, die Opfer ebenso triebhaft produziert, wie sie sie bis zur Bewußtseinstrübung und Erinnerungstäuschung, bis hin zur kompletten Amnesie, abspalten muß.« »Inszeniert« sage ich, um »spontan« auszuschließen. Andererseits würde ich lieber »durchgeführt« sagen, da dieser Begriff nicht das Schau-Moment, sondern bloß den Verstand – Durchführung! – betont, womöglich aber ein bißchen zu alltagssprachlich, gleichzeitig sehr nah an der Endlösungs-Sprache ist. »Ausdrucksfunktion, die den sinnlosen Überbau an die irrationale Basis bindet«: ganz im Sinn von Bruhns »daß die gesellschaftlichen Individuen die Resultate ihrer Vergesellschaftung sich als die Resultate ihres Willens nicht zurechnen können«, und zwar beide nicht, die Basis, angewandter Verstand pur, und der Überbau, sie widerspiegelnd, nicht reflektierend (bzw. auch wenn reflektierend, dann immer noch widerspiegelnd).

Inwiefern ist die Basis irrational? Und wie kann die Vernunft die Basis erkennen? Anhand marxscher Bewegungsgesetze? Anhand des Überbaus?- Und wenn selbst die Revolution Überbau ist, wie kommt man dann an den Unterbau heran und legt ihn lahm? Oder gestaltet ihn »gut«?

Vernunft ist der Spezialbegriff für Reflexion über den Verstand in der Geschichte und lebt insofern von zahllosen Voraussetzungen oder Unterstellungen, die seine Möglichkeit infrage stellen. Reflexion: der Verstand beugt sich über sich – sehr löblich – und bedenkt, was er tut; die Schärfe der Betrachtung wird mit einer Verengung des Gesichtsfelds bezahlt; beim Glück der Menschheit fing er vielleicht an und landet bei Logik und Grammatik. Vernunft ist Reflexion über das Glück der Menschheit, soweit/sofern es sich nicht in Logik und Grammatik, sondern in der Geschichte manifestiert. Die Tautologie liegt hier nahe und daß das Ganze der Betrachtung sich in – nichts auflöst. Bruhn, in der zitierten Stelle, zeigt in seiner minutiösen/mirakulösen Auflösung, wie mühselig es ist, dies Nichts argumentativ herbeizuführen. Immerhin war es in der Debatte ein Etwas, und insofern lohnt seine Überführung in das Nichts, das es ist, doch.

Die Reflexion darauf, wie man den Unterbau aushebelt und Gesellschaft gut gestaltet, ist also als vernünftige unmöglich und muss mit dem Verstand, gar mit dem gesunden praktischen Menschenverstand durchgeführt werden? Und ob dieser Unterbau irrational ist in einer Weise, die es sowohl Verstand als auch Vernunft unmöglich macht, in der Widerspiegelung doch zur Reflexion durchzudringen, würde mich auch interessieren.

Wenn an dem oben Gesagten etwas dran ist, dass der Verstand, sofern er nicht als reine Erkenntnis, selbstbezügliche Betrachtung des Denkens (K d r V) fungiert, immer gleichzeitig klärend und entstellend, also rationalisierend ist in der Weise, dass er, wenn er ein Problem löst, zwei neue kreiert und so fort (exponentiell), dann wird der »Unterbau« in einem rationalen Gestaltungsprozess zum irrationalen Produkt.

  1. Die V.These lässt einen näheren Blick auf die Basis zu und spricht vom allgegenwärtigen »Wert«. Dazu ein paar allgemeine Fragen. Ist »Wert« nicht mehr als ein terminus technicus der Wertformanalyse, eine Metapher für die Grausamkeiten des »Alles was ist, ist vernünftig«? heißt »Wertkritik« nicht immer auch allen Be-Wert-ungsversuchen die oben genannte Gleich-Gültigkeit« entgegenzuhalten und ist sie nicht die Provokation, man könne durch die Entwertung zum wertvollen Leben durchdringen? Für mich klingen viele wertkritische Texte aus dieser Perspektive wie ein durchaus existenzialistisches nil admirari, besonders die beeindruckende Marxismus-Mystizismus-Debatte bei Prodomo.

»… was der Armut zum Reichtum fehlt, und das ist im wesentlichen abschöpfbarer Wert«: Vielleicht ist die Suggestion die, dass wie beim Brühe- oder Marmeladekochen der Schaum abgeschöpft werden kann, so auch bei dem, was die Menschen erzeugen und bewegen, der Wert »abgeschöpft« werden. Was übrig bliebe, wäre eben nicht Wert, nächster Schritt: es wäre »wirklich wesentlich«. Da bei »wirklich wesentlich« ja eine außerordentlich starke Be-wertung festzustellen ist, glaube ich, dass die Beweisführung in die Gegenrichtung losgeht: alles was erstrebenswert ist, ist vom Wert nicht zu trennen, man sollte es daher auch nicht abgelöst von ihm denken. Solange wir denken »Das Gedicht ist trotzdem schön«, haben wir nur »unsern Arsch gerettet«, aber sind wirklich nicht auf der Höhe unserer Existenz. Was es lohnend machen könnte, sich auf diese triste Höhe zu begeben – und das finde ich nicht wenig –, ist, dass man das Gedöns mit der Bewertung hinter sich lassen könnte (was unvermeidlich ist, braucht man nicht zu bewerten). Und da wären wir auf einmal beim als Gegenkategorie errichteten »nil admirari« gelandet.

Ja, auch so herum verstehe ich es. Beeindruckend, wie Sie ganz andersherum – nämlich durch einen emanzipatorischen ›move‹ – das wertvolle Leben gerade mit dem Wert finden, und besonders freut mich, dass das Gedicht noch nicht ganz im Arsch ist.

Und damit wären wir auch schon bei den Texten zur Kritik der Antideutschen. Ich fühle mich, wenn ich mich damit befasse, oft wie die Oma, verzweifelt vom sicheren Sesselplatz aus klagend: »Ach, hört doch auf zu streiten!« Ja, es stimmt, Bruhn ist ein Mann der großen Erzählungen (»Reale Abstraktion und reelle Subsumtion«), es stimmt aber auch mit Hinblick auf Ihre Texte, dass gerade in der Polemik die Sachlichkeit liegt (»Karl Marx und der Materialismus«). Whitehead meinte einmal, jede Philosophie brauche zwei klassische Vertreter: Den spekulativ vorpreschenden und logisch-selbstbescheidenen. Bei Ihnen und der antideutschen Kritik habe ich eher den Eindruck, es gäbe einen stillen Wettbewerb darum, wer am desillusioniertesten sei:

Während die Antideutschen ihre Affirmativitätsfeindschaft affirmativ herausschreien, kommen Sie mit der erkenntnistheoretischen Heckenschere hinterher, zeigen, »was geht und was nicht geht«, und lassen dabei ab und an auf Ihre Traurigkeit durchblicken.

Und Streit unter Linken macht mich immer auch traurig, weil es Streit unter Liebenden ist.

Da fühle ich mich im Ganzen ausgezeichnet porträtiert. Das einzige, was mich wundert: dass der antideutsche Bezug auf die praktische Politik (Israel) fehlt, der für mich die große Frage (und das Zentrum von »was geht und was nicht geht«) ist: Wie kommt man von einer theoretischen »Affirmativitätsfeindschaft« zur praktisch-politischen Handlungsanweisung?

Da würde ich unterscheiden zwischen einer theoretischen Haltung zu Themen wie dem Antisemitismus und der praktischen Israelsolidarität, die ja gerade bei isf gerne mal als Realpolitik abgekanzelt wird. Für mich ist der Kern des »Streits« auch weniger Israel und mehr die Frage des Verhältnisses von (Erkenntnis-)theorie und Revolution, die sehr anders aufgelöst wird. Mir ist, was Sie gegen Bruhns »Karl Marx und der Materialismus« schreiben, viel wichtiger als die Diskussionen mit Scheit um IDF und den 11. September.

Es ist offensichtlich: In der Sache bin ich nicht entschieden. Die »Entscheidung« wäre die »Sache« aber auch nicht wert. Mir genügt, aus dem Streit viel gelernt zu haben.

Vielleicht ist es dies Eine, das alle Texte von Ihnen eint, die Kritik der Antideutschen und die Erzählungen, A–Zett, und vor allem die großartigen polito-poetischen Texte wie »Verliebt« oder »Was Hänschen nicht lernt«: Gespür nämlich für alles Unwirkliche, alle falsche Erhabenheit, und eine Treffsicherheit, die es unmöglich macht, darin zu verharren.

Die Rolle der Erotik in vielen Texten verstehe ich noch nicht. In »Schokoladenessen« berührt es mich eigenartig, besonders die Suche danach, wie und wo man der Frau Lust verschaffen könne. Im »Uhrwerk Orange«-Prosagedicht bleibt es mir fremd wie auch in »Schön schwul«.

»Schön schwul« ist lange her und die Erinnerung daran die einer herrlichen Befreiung: Von mir zu reden, ohne dass es jemand merkt. Ich zu sagen, ohne dass ich es bin, einen Fortgang ohne Rücksicht auf Begründung schildern (es passiert dies und das, und ebenso passiert anderes). Später sagte ein Bekannter, der Text wäre schön, aber der Titel habe ihm missfallen. Du Ärmster, dachte ich ganz ohne Begründung, merkt er nicht, wie herrlich er ist!

Die theoretische Hypostasierung des Orgasmus verstehe ich nicht,

???

Ich meinte den oben zitierten Text Geschichten vom Schutz – (13) Jutta erzählt. Es war vielleicht falsch, den als Teil der Theorie zu begreifen.

oder vielleicht habe ich dazu einfach zu schlechten Sex.

Wenigstens habe ich daraufhin das 13. Kapitel »Jutta erzählt« noch einmal gelesen – uff.

Differentialdiagnose

Die Differentialdiagnose (Wieso dieses Wort?) …

In meinen Zehn Thesen zur Differentialdiagnose des Verstehens vor dem Richterstuhl des Holocaust meint Differentialdiagnose lediglich, dass das, was man nach allgemeinen Standards verstanden hat, sich vor dem Richterstuhl der Shoah einer durch sie zugespitzten Prüfung unterziehen muss. Hält das, was man verstanden hat, auch stand, wenn man die Shoah einbezieht? Oder hat man ohne sie gedacht?

… des Verstehens vor dem Richterstuhl der Shoah ist mir sehr wichtig geworden. Das mag daran liegen, dass ich Nostalgiker bin. Oft scheint mir das Verstehen der Weimarer Republik ergiebiger als das der heutigen Zeit. Ohne jede Verklärung, das ist mir wichtig. Und ohne das außen vor zu lassen, was aus ihr hervorging. Und deswegen weiß ich, was Verstehen vor dem Richterstuhl der Shoah ist. Ein paar Fragen bleiben:

  1. a) In der III.These wird für das historische Verstehen lapidar gefordert: »[Der Verstand] muß sich ja nur wiedererkennen.« Kann Ihr Verstand das?

Aber ja.

Wie denn genau? Was ist das für ein Wiedererkennen?

Erkennt er sich wieder in enormen Zahlen,

»Enorme Zahlen« sind, was das Wiedererkennen angeht, für mich ein echtes Problem, da ich sie schon nicht erkenne.

… in Geschichten, in individuellen Opfern und Tätern? In Treblinka?

Aber ja.

Und welches Wiedererkennen ist hier gemeint? Identifikation?

Dass man’s nachvollziehen kann (was mir bei schon geringeren als enormen Zahlen nicht möglich ist).

Was bedeutet das Wort »nachvollziehen«? Ist es dasselbe wie »Wiedererkennen«? Ist es theoretisch? Bedeutet es, dass Sie Treblinka noch-einmal-vollziehen könnten?

Anagnorisis? Macht die geforderte »Archäologie« (These IV) dieses Erkennen beredt oder schweigend?

»Archäologie« ist unvermeidlich beredt, da der Zusammenhang ja expliziert werden muss. Aber für das Wiedererkennen entscheidend ist sie nicht, kann dafür sicher auch ebenso hinderlich wie förderlich sein.

Man kann Auschwitz erkennen, ohne den Aufbau des Lagers verstanden zu haben, ist das gemeint?

Wenn man einerseits wenig verteidigungsbereit, wenig auf Selbstbehauptung aus ist, andererseits weiß, dass gerade das Schlimme, das einem begegnet, mit dem Verstand zu tun haben muss, dass letzteres geradezu ein Indikator für die Beteiligung des Verstandes ist, macht das Wiedererkennen gar keine Mühe.

Und der Verstand ist derart allgemein. »Es denkt« Auschwitz, und ich stecke noch immer in diesem »Es« drin, und deswegen kann ich es auch. Und außerdem ist das auch alles vernünftig. Richtig?

[…] und außerdem könnte ich und könntest du auf der einen oder andern Seite IN Auschwitz sein. Wenn’s andere konnten, dann wir auch (sonst kann man es nicht denken).

Eine Ergänzung hierzu siehe 1.b (weiter unten).

  1. Die VIII.These trennt wieder Erkennen und Subjektivität in einer Weise, die für mich in Ihren eigenen Texten nicht umgesetzt ist. Ich verstehe – so gut ich kann – theoretisch, aber ich spüre, dass das viel zu meiner Subjektivität beiträgt (und sei es nur durch Destruktivität). Ich kann mich vom »Bildungs«-Ideal so schnell nicht verabschieden.

Ein anschauliches Beispiel ist vielleicht, was der moderne Westen aus dem Buddhismus macht (und mit Erfolg): eine Methode der Selbstoptimierung, und was er aus dem buddhistischen Meister macht: die Steigerung von »Subjekt«. Dass dem ein Missverständnis zugrunde liegt, ist »theoretisch« leicht zu begreifen, aber persönlich schwer zu realisieren, zumal wenn so ein »potenter« Begriff wie Subjekt zur Verfügung steht, der erst in der Tragik sein ganzes Potential entfaltet. (Treblinka, zum Beispiel, war aber nicht tragisch, und das wiederum als tragisch zu empfinden mag richtig sein, macht aber den Fokus immer kleiner: das meiste von Treblinka rutscht weg.)

Das Subjekt wird durch Erkenntnis vielleicht nicht konstruiert, sondern dekonstruiert, aber weil es das Subjekt ist, wird die begriffliche Aufhebung als persönliche Erosion spürbar, und gerade das folgenlose theoretische Denken hat dann die existenziellsten Folgen, freilich keine konstruktiven, keine, die zur realpolitischen Weiterverwertung taugen.

Wäre es zum Beispiel ein Unterlaufen des theoretischen Verstehens, wenn ich Ihnen das Kompliment mache, dass Ihre Texte meine Sprache verändert, verlangsamt haben?

Da kann sich doch meine Sprache, die ja einen Riesenanteil an »Nicht-Ich« hat, freuen. Und wenn sich Ihre Sprache »verlangsamt« hat, dann reden Sie über Ihre Sprache!

Und meine Sprache hat mit meiner Subjektivität nichts zu tun. Weil »es denkt« → »es spricht«.

Eher müsste man sagen: Deine Subjektivität hat mit deiner Subjektivität nichts zu tun. Du kannst zum Beispiel das an ihr betrachten, was Sprache ist. Sprache könnte der Zugewinn sein statt Subjektivität.

  1. Der ganze Text ist streng. Und gerade darum ist er mir so wichtig. Endlich wird »Auschwitz« nicht als Triumphschrei verwendet. Doch gerechterweise gilt das für den letzten Satz nicht. Das Gefühl der Scham, das für mich mit der Politik eng verbunden ist, will ich zulassen.

Da halst du dir etwas auf oder übernimmst eine Riesenverantwortung: die in sich hoch widersprüchlichen, untereinander kategorial verschiedenen Bereiche Scham (Moral) und Politik zusammenzuhalten! Ich würde den gegenteiligen Weg favorisieren: das Unterschiedliche trennen, damit ich bessere Chancen habe zu wissen, was ich tue. Könnte ja sein, dass ich, wenn ich der Scham folgen will, dann ganz sicher sein muss, dass ich keine Politik mache (aus den immanenten Gründen von Politik und Scham).

Es gibt zwei Arten dieser Scham und dementsprechend auch zwei Arten der Verdrängung: Derjenigen, die sich für inkonsequent halten, und dann die Scham der konsequent Lebenden, die aber insgeheim wissen, dass die erste Entscheidung, der nun konsequent die »Treue« gehalten wird, nicht ganz wahr ist.

So scheint es mir mit der theoretischen Vernunft zu sein: Sie ist folgerichtig. Aber den Praxisverzicht kann ich nur dezisionistisch begründen oder als Verzweiflung. Wie würden Sie das – vor dem Richterstuhl der Shoah – auflösen?

Ich würde – vor dem Richterstuhl der Shoah – aufhören, die Entscheidungsfreiheit wichtig zu nehmen, auch die vermeintliche Hierarchie der Praxen infrage stellen: Denken ist auch ein Tun, und die Praxis ist keine Frage der Dezision. Tucholsky: »… man tut es.« Sie hat auch mit Verzweiflung nichts zu tun. Sonst müsste man ja ständig auf Katastrophen hoffen und auf Helden setzen.

Ich finde die Art, wie hier die Scham für obsolet erklärt wird, dennoch widerlich, und frage mich, ob das vielleicht auch eine Art der Abspaltung ist. Und darüber hinaus: Hierarchie der Praxen will ich gar nicht, da war meine Begrifflichkeit ungenau, aber ich glaube durchaus, dass nur, weil die Theorie Begründungen als Ideologie entlarven kann, sie nicht ihrer eigenen Begründung ledig ist. Und das Tucholskysche »man tut es«, das Luthersche »Ich kann nicht anders« sind bloß besonders sture Formen, die eigene Dezision zu verteidigen, denn so wenig utopisch diese Freiheit auch ist, die Freiheit in der Entscheidung zur Theorie ist gegeben und ich verstehe nicht, wie Du die Relevanz dieser Frage so beiseiteschieben kannst. Ich für meinen Teil weiß, dass es nicht edelster Teil theoretischer Vollendung ist, aber kann weder Verzweiflung noch Scham leugnen in dem Versuch, Auschwitz selbst theoretisch zu verstehen oder über die Praxis »Theorie« generell zu reflektieren.

Ich glaube, hier müssten wir ein eigenes Fass aufmachen, um uns zu verständigen, also streng gegliedert über diesen wild wuchernden Punkt reden. Warum ich Tucholskys »es sei denn, man tut es«, mag, ist, dass es für ihn am Tun etwas gibt, das durch Denken/Reden nicht aufgewogen werden kann. Beides ist in dieser Hinsicht nicht kompatibel, sondern beim Tun gibt es immer noch einen »Sprung«. Beim Zehn-Meter-Turm (Gott schütze mich) ist der Sprung nicht dadurch abgegolten, daß ich ihn mir vorgenommen habe, vielleicht hinaufgestiegen und mir alles ganz genau vorgestellt habe. Entweder ich springe oder ich springe nicht. Jeder weiß, daß die inneren Vorbereitungshandlungen sogar sehr hinderlich für die Ausführung des Sprungs sein können. Auch wenn »etwas Gutes Tun« in der Ethik einen festen Platz hat, denke ich doch, dass es etwas am guten Tun gibt, dass in keiner noch so dicken Ethik beschrieben werden kann, einfach weil es einen »gap« zwischen Theorie und Tun, auch zwischen dem Tun und dem Guten (als Teil der Ethik) gibt.

Was die Scham angeht (s.o.), so beschreibt sie zumindest nicht mein Verhältnis zu Auschwitz, welch letzteres für mich so auf die Seite des Verstandes, gerade auch als systematische Entfremdung von Mitleid oder Scham, gehört, dass ich ihm nur hinterherdenken kann. Und unmöglich kann ich, wenn ich das Auslöschen der Scham als Teil dieses ›Verstandesprozesses Auschwitz‹ begreife, nach Vollzug dieses Gedankens nun – Scham empfinden. Meiner Ansicht nach wäre das Begreifen dann so etwas wie Therapie, und bei Auschwitz habe ich mit Therapie nichts im Sinn, kann in vielem auch begreifen, dass ich – Kind der Tätergeneration – gar nicht angesprochen bin, in dem Sinne, dass es in irgendeiner Weise um mich geht: es wird nicht für jeden alles wieder gut, wenn er sich nur tüchtig schämt. Eine Untat lässt sich an ihren Folgen ermessen, in ihnen vergegenständlicht sie sich noch einmal, ich habe das seinerzeit am Beispiel Jugoslawienkrieg zu zeigen versucht. Sie wird nicht durch Güte aufgehoben. Wenn wir in meiner Schule Zeitzeugen zu Besuch hatten, haben unsere Schüler, 14-, 15-jährige, die Besucher mit ihrer Zuneigung, ihrer Herzlichkeit, ihren unzensierten Äußerungen glücklich gemacht. Ihnen, die sich für nichts schämen mussten (und sie kamen ja auch von wer weiß woher), wurde alles verziehen. Das finde ich eine gute Relation. Ich war schon froh, dass ich meine Stunden zur Verfügung stellen konnte, eine Gabe, die sichtbarlich keinen Anspruch erhob, in irgendeine Wiedergutmachungsrechnung einzugehen.

Inwiefern kommt der praktische Verstand von der Partizipation zur Stillstellung und von dort zur Wiederholung und zur Selbstblockade? Diese Bewegung wird in der IX. These beschrieben, aber nicht erklärt. Das Wort »Wiederholung« im Kontext der Shoah macht mir Angst.

Was Sie über die »Verlangsamung« Ihrer Sprache gesagt haben, um das geht es auch hier. Sie finden diese Verlangsamung ja auch erstens gut, zweitens greifbar, konkret, auch wenn Sie sicher Mühe hätten, in der Beschreibung selbst konkret zu werden. Mir geht es nicht anders. Nur: die Umverteilung der Aufmerksamkeit weg vom Was auf das Wie, weg von Absicht und Ziel hin auf Methode und Schritte, hat Folgen, und sei es die, dass es womöglich am Ziel hindert. Wenn Sie den Feldberg (welchen auch immer) hinaufwandern und bei jedem Versuch, an den Gipfel zu denken, sich auf den Weg konzentrieren, hat das für die Wanderung keine Bedeutung? (Zum Beispiel die, dass sie gar nicht oben ankommen?) Wenn Sie aber eilig sagen: Der Weg ist der Gipfel, haben Sie nur die Chance vertan, oder Sie haben nur konventionell ausgedrückt, was in Wirklichkeit ganz anders ist. Auch das kommt ja vor.

Diese Erklärung erinnert irgendwie an das Paradox von Schildkröte und Achilles – sobald man das Laufen theoretisiert, ist das Ziel unerreichbar. Das heißt, Produktion von »Was« muss strukturell dumm sein (bzw. irgendwann erklären, dass jetzt Schluss ist mit Denken).

Trotz aller Unklarheiten hat mir dieser Text so sehr geholfen, meinem Unbehagen gegen bestimmte Weisen, »Konsequenzen aus dem Holocaust« zu ziehen, Worte zu geben. Der Begriff vom »prophetischen Subjekt« ist ein so genauer und treffender! Trotzdem gibt es noch eine kritische Anmerkung, wieder in Zitatform:

  1. b) Die stillschweigende Prämisse dieses Verfahrens jedoch ist: Die zu untersuchende Sache ist an sich intelligibel, in ihr steckt schon eine Logik, eine Art objektive Vernunft, ein geistig Reproduzierbares, das der menschliche Verstand zu erkennen vermag, weil er in letzter Instanz ihr Urheber ist« (Joachim Bruhn, Karl Marx und der Materialismus).

Wenn man das in Verbindung brächte zu Ihrem Ausdruck »vernünftig im Sinn jener […] Ausdrucksfunktion, die den sinnlosen Überbau an die irrationale Basis bindet« (10 Thesen, III.), dann müsste man also archäologisch das Geflecht aus Vernunft und Unvernunft, das in der Shoah verwirklicht wurde, freilegen. Aber ist das Ganze dann lückenlos intelligibel? Ist es auch sprach-fähig?

Hilburg, indem er die konservativsten historischen Methoden auf den spektakulären Gegenstand ansetzte, hat ebenso wie Lanzmann gezeigt, dass das geht. Außerdem ist das, was am wenigsten sprachfähig scheint, doch Ausdruck eines ingenieurhaften Verstands, der sich fragt: Wie lautet die Frage, und was ist darauf die Antwort? Wieso sollte der verstehende Verstand das nicht erkennen? Wenn ihm aber die Brücke zur Vorüberlegung/Vorentscheidung – dies und das zu wollen – ominös erscheint, dann wird er sich nur umso mehr auf die Beschreibung des Verlaufs konzentrieren, so sehr, dass die Vorentscheidung hinter der Faktizität des Entschiedenen verschwindet.

Dann sagen Sie mir doch bitte: Was ist die Fragestellung zu Buchenwald?

Hilburg hat vorgeführt: Je irrer (irrationaler?) der Gegenstand, desto mehr sind einfache Methoden angebracht, allein schon damit man nicht in eine Konkurrenz zum Irren gerät. Also nicht die berühmte »Wie war … möglich«-Sonntagsfrage, sondern Korrespondenzen, Fahrpläne, Tatsachen. Hinter denen nicht mehr vermuten (»Undenkbares …«), sondern diese wahrnehmen. Platz lassen für das Triviale (gut gegen theoretische Allmachtsgefühle). Man könnte auch anders sagen: Buchenwald ist die Fragestellung. Und nun mal los!

Und zum Anderen: Kann der Verstand, kann die Vernunft das Irrationale theoretisieren, ohne (Freudsche oder ideologische) Rationalisierungen zu produzieren? Oder zumindest nacherzählen (»Beschreibung des Verlaufs«)? Hat nicht Erzählung, ähnlich wie Theorie, diesen Hang zur Sinngebung, den Bruhn kritisiert, sobald sie über das Auflisten hinausgeht?

Das strikte Gegenüber haut nicht hin. Was die Beschreibung angeht: Wenn die Perspektive ist »genauer, immer genauer«, dann hat es der Sinn gar nicht so leicht.

  1. Wie lässt sich die Brücke vom praktischen Verstand zu Korczak schlagen?

Ich glaube, darauf hat die Ethik schon Antworten gefunden, wenn die Situationen auch nicht immer so radikal vorgestellt wurden. Aber wenn man z.B. ein Kinderheim leitet und die Kinder werden verschleppt, ist es dann nicht logisch, wenn man mit den Kindern mitgeht (weil man ohne die Kinder ja nichts mehr zu leiten hat)? Dies als sehr einfache Umschreibung dessen, was passiert, wenn man selbst nicht direkt, andere dagegen höchst unmittelbar betroffen sind. Entweder man realisiert, wie sehr man auch selbst betroffen ist (und handelt entsprechend), oder man handelt so, wie es einem vorkommt: dass man nämlich nicht unmittelbar betroffen ist. Und dann hat man entweder ein gutes Gewissen oder nicht (der Unterschied ist wegen der unmittelbaren Betroffenheit der anderen graduell und die Sache nie ganz ausgekämpft. »Hätte« ist die bleibende Frage.) Ich erinnere mich z. B., nach Tschernobyl, an die Frage: »Was wird aus dem verstrahlten grusinischen Tee?« Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten ihn alle getrunken statt nur die, die auf ihm sitzen blieben (dann hätten auch alle weniger davon getrunken)?« Die Reaktion war natürlich genau umgekehrt.

Verstehe. Und wenn uns nicht – wie Korczak – das Kinderheim, sondern die Menschlichkeit ausgeräumt wird, und ich als Kommunist in gewisser Weise ja auch das Gefühl habe, dass da nichts mehr zu »leiten« ist, dann sollte vielleicht auch ich mitgehen.

Erstmal ein Kinderheim leiten!!! So lange, bis du merkst, ohne es bist du nichts, du musst mitgehen. Nicht weil du ein Held bist, sondern weil dir nichts anderes übrig bleibt. Ohne diesen Punkt, dass einem nichts anderes übrig bleibt, ist das alles mehr oder weniger Heldentum.

Oder in mich hineinhorchen, wie mir diese Dinge vorkommen, ob ich »betroffen« bin. Und, weg von der eigenen Anwendung: Was ist mit den Skrupeln der Shoahüberlebenden, deren ganze Familie gestorben ist? Waren auch die unfähig, sich unmittelbar betroffen zu fühlen?

Über deren Schuldgefühl ist viel geschrieben worden, auch – dank Primo Levi – über die wirkliche Unmöglichkeit, die zwei Welten (KZ und Nicht-KZ) in einer Person zu erleben, auch an beides nur nacheinander zu denken. Ganz Existentialistin, bin ich überzeugt, dass man die wirkliche Inkompatibilität beider Welten gar nicht überschätzen kann.

Fallhöhen

Der »Fallhöhe«-Text ist derjenige, den ich am häufigsten gelesen habe, und immer erhellen sich manche Passagen, nie aber der ganze Text, nie finde ich die Verbindung, die von Anfang bis Ende, Betrachtung bis Begriffsbildung aus dem Text eines macht. Die Kommentare, die im »Streifzüge«-Forum darunter ausgetauscht werden, tun ihr übriges: Auch sie erhellen im Detail und verwirren im Ganzen. Deswegen fällt es mir auch schwer, den Text zu befragen, so weit bin ich eigentlich noch gar nicht. Ich tue es trotzdem, vielleicht erwächst ja ein weiteres Mal die Erkenntnis aus der Behauptung statt umgekehrt.

Zum Ganzen: Im Philosophieunterricht freute sich der ganze Kurs, wenn ich »mal eben« zur Tafel ging, um ein Modell an die Tafel zu malen/gegebenenfalls auch zu schreiben; der Unterschied war bei der modellhaften Kürze des Geschriebenen nicht essentiell. Ich war dann voller Energie und Optimismus und hörte hinter mir Geräusche, fröhliches Gemurmel, das auf die gleiche Erwartungslust deutete. Manchmal hörte ich auch heraus: »Jetzt kommt es wieder!«, und was wieder kam und wofür ich auf eine fröhliche Art berühmt wurde, war Folgendes: Ich hatte mir zu Hause eine (Schluss-)Formel, eine Graphik, ein Modell ausgedacht, mit dem ich das, worauf es an dem verhandelten philosophischen Punkt ankam, ein für allemal erklären konnte. In dem »ein für allemal« lag ein gewisser Sprung, ein Moment von Diskontinuität, das ich nicht diskursiv erläutern konnte und deshalb in der Formel deutlich machen wollte und das mich »reinritt«. Ich scheiterte nämlich regelmäßig an der Tafel (und dieser Vorgang war der, für den ich »berühmt« wurde). Da es ein höchst philosophisches Scheitern war, war das auch gar nicht schlimm, ich habe nur immer wieder darüber nachgedacht, wieso ich etwas, was ich ganz deutlich vor Augen hatte, nicht an die Tafel kriegte, und bin erst sehr spät darauf gekommen, dass es sich bei diesen Modellen um eine Art inneres Bild, eine etwas private Form einer inneren Anschauung handeln muss, das, wenn man es nach außen kehrt, unbarmherzig dies »Innere« und »Private« als Hindernis hervorkehrt. Mir erschien es dagegen als der Inbegriff von cartesianischer Klarheit und Distinktion, auch heute noch, nur weiß ich heute, mehr aus Erfahrung als aus Überzeugung, dass es nicht mehr als eine Richtschnur, weniger ein Hilfsinstrument als ein vom viel geübten Verstand ausgehender Hinweis auf die ungefähr einzuschlagende Richtung ist. Im Aufsatz über die Fallhöhe habe ich noch einmal, wie seinerzeit in der Schule, versucht, eine solche innere Anschauung sowohl aufs Papier zu kriegen als auch auf ihren Ertrag hin zu untersuchen. Der von Ihnen vermisste – und nicht über das innere Bild vermittelte – Zusammenhang von Anfang und Ende, Teil und Ganzem wird sich daher nicht ergeben.

  1. Wenn man das Unglück nicht mehr in hierarchischer »Höhe« oder im Verhältnis zum Glücklichsein misst, dann gilt nicht nur: »Jedes Unglück stünde für sich«, dann würde auch die Reflexion auf das gute Leben hinten runterfallen, oder? (nebenbei: oben/unten, links/rechts, vorne/hinten: mit dem cartesischen System würde das Koordinatenmaß zumindest dreidimensional)

Ja, ich vermute, dass das Koordinatensystem, das mir gelegentlich leuchtete wie den Heiligen Drei Königen der Stern über Bethlehem, seine Karriere bei mir sich nicht nur der elementaren Ordnungsfunktion, sondern auch der Tatsache verdankt, dass ich darüber mathematisch nicht wesentlich hinausgekommen bin. So muss es gerade in seiner Klarheit etwas Metaphorisches bekommen haben … Aber für die Frage (auch mit der von Ihnen vorgeschlagen »Bühnen-Erweiterung« vorne- hinten): Wo bin ich mit meiner Feststellung, wo steht sie im Verhältnis zu anderen Feststellungen  –, ist es auch als Metapher unersetzlich.

Nachtrag I.B.: Könnte es sein, dass trotz aller verführerischen Parallelität vorne/hinten für die Realität steht, das Koordinatenkreuz dagegen hoffnungslos abstrakt ist?

Aber ich betone nochmal: Wenn das Leid individualisiert und vom Maßstab entkoppelt würde, müsste das auch für das Glück gelten, oder? Kann man Allgemeinheit/Mitteilbarkeit und Maßstäblichkeit entkoppeln?

Für Glück, denke ich, gelten Koordinaten, wie wir sie unter »Utopie« aufgezählt haben und wie man sie unter dem Begriff »punktuell« zusammenfassen könnte. Vielleicht ist das sogar ein eisernes Gesetz. Stoa-Formulierungen, die auf das beständige Ganze zielen, zielen eher auf das von dir zitierte »gute Leben«, von dem sich das »Glück« abgekoppelt hat, nicht nur, weil die Menschen so anspruchsvoll geworden sind, sondern auch weil ein Moment getroffen werden sollte, das nur »Glück« ist und eben nicht auch z.B. Dauer.

  1. »Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht,
    Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!
    Beut deine Scheitel, einem Schlussstein gleich,
    Der Götter Blitzen dar, und rufe, trefft!
    Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,
    Nicht aber wanke in Dir selbst mehr,
    Solang ein Atem Mörtel und Gestein,
    In dieser jungen Brust zusammenhält.« (Kleist, Penthesilea)
  2. »Man kann auch in die Höhe fallen.« (Hölderlin)

Ein schönes Zitat!!

  1. »namque omnes plerumque cadunt in vulnus et illam
    Emicat in partem sanguis, unde icimur ictu” (Lukrez, De Rerum Naturae, 4)
    [Denn wir fallen gewöhnlich auf unsere verwundete Stelle,
    Dorthin schießt uns das Blut, von wo wir die Hiebe empfangen.] (Übersetzung: Hermann Diels)
  2. Je größer der Schmerz, desto größer das Begriffliche; je größer das Begreifende, desto kleiner der Schmerz? (Boah, hätte Kierkegaard eine Freude daran!)

Kann ich nicht unterschreiben. Sondern wenn ich den Schmerz zu fassen suche, dann kriege ich immer Kategorien des Begreifens statt Schmerz zu fassen. Über den, den etwas schmerzt, ist gar nichts gesagt.

  1. Die Beobachtung von der bürgerlichen Innerlichkeit als dem zweiten Schritt einer Dialektik der Fallhöhen ist insofern klug, als dass erst in einer bürgerlichen Literaturtheorie die Adelsklausel von Aristoteles zur individuellen Fallhöhe (vertikal) weiterentwickelt werden konnte. Das Problem ist, dass dann das vertikale Unglück die Synthese aus Kollateralschaden und Individuation sein müsste, und laut Hegel die Synthese ja wieder zum Anfang zurückführen soll.

Da vermutlich alles, was wir uns ausdenken, bürgerlich ist, könnte man von der aristokratischen Fallhöhe und dem horizontalen Kollateralschaden als von zwei Abspaltungen der bürgerlichen Innerlichkeit ausgehen, die ja auch sehr ›äußerlich‹ angefangen hat und im Kollateralschaden wieder sehr ›äußerlich‹ endet.

  1. Ich verstehe den »Potlatch der Vernichtung von Sinn« nicht. Sinn im Sinne von Luhmann als Komplexitätsreduktion? Also Komplexitätserschaffung durch Verschenkung?

Den »Potlatch der Vernichtung von Sinn« habe ich als Eindruck vielleicht von Villandry mitgeschleppt: Dieses ungeheuer aufwendige, völlig nutzlose Gartenkunstwerk, das nur aus Sinn besteht, wird auch ganz praktisch vernichtet in dem Moment, wo jemand kommt und den »Gärtner« verschleppt. Wer soll die Anlage pflegen? Und was war ihr Sinn, wenn sie von jetzt auf gleich vernichtet werden kann, und zwar aus ganz heteronomen Gründen, nicht einmal von Spinnmilben und Raupen? Und: Wie hat der »Gärtner« seine Résistance-Tätigkeit im Angesicht seines verderblichen Hobbys bewältigt?

  1. «Wer sich durch seine Subjektivität definiert, fühlt sich besonders beim Zuschauen bedroht.« – dieser Satz ist großartig!
  2. Sicher ist das »technische Versagen« im Einzelnen Zufall, aber hat es nicht dennoch Struktur? Reicht hier Statistik aus? Ich meine, da spielen doch Produktivkräfte eine Rolle […]

Auf jeden Fall. Und ihre Analyse trägt, wenn wir vom Unglück ausgehen, natürlich noch enorm zum Verschwinden des Unglücklichen bei.

  1. Den Begriff, die Orientierung sei souverän geworden, kann man doch nicht allen Ernstes vertreten. Selbst wenn das Subjekt schweben sollte: Es tut es als objektiviertes. Auch wenn der Schwebezustand für nihilistische Kapriolen hervorragend geeignet ist.

Aber tut es auch das Schweben als Subjekt?

  1. Der Begriff »Unglück« ist von vornherein relational. Zum »Unglück an sich« vordringen zu wollen, heißt im Nihilismus enden.

Man muss nicht zum »an sich« vordringen wollen: wenn man sich damit begnügt zu kritisieren, aufzuheben, zurückzunehmen, was man gedanklich anrichtet, kommt man gar nicht zum »an sich«, es sei denn, man glaubt daran, und dann muss man es natürlich aufheben.

  1. Einerseits leistet der Satz: »Nichts erleben, was man nicht erleidet.« eine Reduktion aufs Ehrliche, es untersagt Projektion und Simulation. Aber befördert der Satz nicht auch das abspaltende Denken?

Erst einmal geht es im Verzicht auf das Erleben um die Aufhebung einer falschen Überbrückung (man erlebt trotzdem oder gerade, was man nicht erleidet). Diese Aufhebung, als Tätigkeit, als Erfahrung, hat seine eigene Wirklichkeit. Was aus dem Verzicht folgt, das weiß man doch noch gar nicht, kann es erst wissen, wenn man etwas lässt!

  1. Kann man so tief stehen, dass kein weiterer Fall mehr möglich ist?

Der Satz drückt eine allgemeine Hoffnung aus, wie sie sich noch in dem an Trivialität nicht zu überbietenden Kalauer »Ist der Ruf mal ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert« enthalten ist. Die andere Richtung dieser Hoffnung ist der Tod: er begrenzt alle möglichen Schrecken.

  1. Das Teilhaben an der Wirklichkeit (durchs gedankliche Verhungern, das reale Essen-Teilen oder das Mit-Sterben, das zufällige mit-Aids-infiziert-Werden) – ist das die Sehnsucht hinter dem Text?

Ich empfinde diese Punkte, auch wenn sie ganz unterschiedliche Fragen stellen, als selbst einen zusammenhängenden Text, einen Dialog-mit-sich-selbst, und würde allein schon wegen der resultierenden Redseligkeit nur sehr ungern Punkt für Punkt davon abarbeiten. Vielleicht hilft die oben erzählte Tafel-Geschichte.

Dieser Dialog mit sich selbst ist vielleicht die umgekehrte Tafelsituation: Ich stehe da vorne und rede mir selbstreflexiv einen hochintelligenten unproduktiven Stuss zusammen, und Du sitzt in der Schülerbank und siehst Sinn darin und nennst es gar einen hübsch redseligen Dialog. Schon allein, damit ich diese Ansicht verstehe, würde ich um ausführlichere Antwort bitten, besonders weil ich die Fragen als solche stellte, weil ich sie mir nicht selbst beantworten kann.

Es bleibt die Bewunderung für ein Denken, das auskommt, ohne sich die Welt untertan zu machen, das nicht »draufsattelt«, und das radikal davon ausgeht, dass wir in einer Welt leben. Es bleibt die Freude an einer schönen Sprache, an einer Klarheit selbst noch in den Mäandern. Und an einer Subversion, die sich nicht durch Verbalgewalt aufmotzt, und ganz unbürgerlich durch den Bildungskanon durchschlängelt und ankommt, da, wo die Welt wirklich ist.

Und der Glauben ans Wort und seine Wirklichkeit.

Ich konnte nur versuchen, die immense Arbeit – Rezeptionsbereitschaft und Arbeit –, die in diesem Brief steckt, dadurch deutlich zu machen, dass ich ein wenig vorführe, wie ich mit ihm gearbeitet habe und wie man mit ihm arbeiten kann.

Es dankt

F. S.

I. B.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt29.html.

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