Ilse Bindseil
Es gibt vielleicht nur ein einziges Dogma für die Verarbeitung von Historischem: der Sachverhalt muß historisch geworden sein. Ein wenig tautologischer: Nur das kann verarbeitet werden, was verarbeitet ist. Zustandspassiv geht vor Vorgangspassiv. Die Verarbeitung ist kein Medium der Verarbeitung. Sie ist der Beginn einer freien Schöpfung nach der Verarbeitung. Was bei der Verarbeitung sich als skandalös, das heißt unhistorisch oder unangemessen, darstellen mag, das ist in Wirklichkeit Nachweis der Freiheit und Bestandteil der Schöpfung.
Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß die Freiheit lediglich gegenüber der historischen Vorlage existiert. Hier wird geschöpft. Der Rest ist Arbeit, das heißt Reflex. Arbeit mehr in als an der Gegenwart, Produktion. Da wir uns, wenn wir uns auf die sogenannte Verarbeitung von Historischem beziehen, meist auf das Medium der Medien, der Textverarbeitung, Bildverarbeitung oder Tonverarbeitung (leider so gut wie nie auf die linearen historischen Nachfolgeerscheinungen, die politische, ökonomische, militärische, kurz die unmittelbaren gesellschaftlichen Folgeerscheinungen) beziehen, ist die Arbeitsseite der frei gewordenen Schöpfung zwar nicht als böse, vielmehr bloß als unendlich mühselig zu charakterisieren. Da sie nichts Materielles bewegt und dennoch unendlich mühselig ist, ist sie als zwanghaft zu bezeichnen. Vielleicht gar nicht mal in der Herstellung, die ja – und in der sie – eine sehr reale Seite hat. Dafür in der Rezeption. Tatsächlich trägt die Rezeption solcher in sich frei gewordenen Produktionen alle Züge einer unfreien und unfruchtbaren, in sich selbst kreisenden, kreiselnden, tendenziell – wenn man sich einer einzigen solchen Verarbeitungssache ausführlich widmen würde – die gesamte Gegenwart in den Maelstrom der Wiederholung hineinziehenden Bewegung.
Hinterher rumort es in einem.
Als ich in den Ferien in Der Untergang gehe, bin ich verkrampft. Ich verstoße gegen eine meiner Grundregeln: kein deutscher Film, was das Kino betrifft. Entschuldigend sage ich an der Kasse: »Es ist wegen der Arbeit«, und sie verstehen gar nichts. Sie kennen mich auch nicht: Noch nie war ich in Miltenberg am Main im Kino. Um 18.00 Uhr, sonntags, ist der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. (»Sie kriegen immer noch eine Karte«, hatten die Kassierer um viertel nach fünf gesagt, da waren die Billets noch nicht da – von wegen!) Neben mir sitzen Jungen in einem Alter, mit dem ich sonst beruflich zu tun habe, reichen eine riesige Tüte gesalzener Chips herum, haben nichts zu trinken. Ich werde mich wegen meiner Wasserflasche noch genieren. Ich fühle mich vereinsamt, suche Anschluß, kann meinen Beruf nicht verbergen, meinen Mund nicht halten. »Seid ihr wegen der Schule da?« frage ich meinen unmittelbaren Nachbarn, vierzehn wird er sein. »Nein«, sagt er mit vollem Mund, »der da«, er weist ans andere Ende der Reihe, »hat Geburtstag.« Ach so. Als es dunkel wird, werde ich unruhig. Bin ich im falschen Kinosaal gelandet, bekomme ich gleich »Terminator« zu sehen, muß dann im Dunkeln über die Reihen klettern? »Was seht ihr denn?« frage ich meinen Nachbarn. »Na«, sagt er geduldig, wenn auch leicht verwundert – schließen sitzen wir im selben Saal –, »den«, er sucht nach dem richtigen Titel, »den Untergang.« Gottseidank. Während schon die Vorschau läuft, geht der Kartenabreißer mit dem Taschenlämpchen an den Reihen vorbei, bittet die Leute aufzurücken, keine einzelnen Plätze frei zu lassen; ganz wie in alten Zeiten.
Neben mir sitzt ein einzelner Mann; ich beschließe, daß er unheimlich ist.
Der Rumor rührt von dem shift in levels, wie die psychoanalytische Ich-Psychologie es nannte, dem freien Fall durch die psychischen Stockwerke; plötzlich bist du im Unbewußten, kannst den normalgepanzerten Mitmenschen von deinen Abenteuern im Herzen der Wünsche berichten. Der shift in levels, den der historische Spielfilm à la »Untergang« bewirkt, rührt von der Unentschiedenheit der Kräfteverhältnisse, der Zweideutigkeit des Bezugs zwischen den Bezugsebenen, und auch das ist nicht »unpsychisch«. Er selbst hält ja den historischen Bezug hoch und setzt die historische Ebene als die ehrenwerte Ebene, die das Komplement zum filmischen Glamour, Erhabenheit, verkörpert. Er selbst strickt also an der allgemeinen Verarbeitungsmythologie, die ihm, wenn es um etwas so Erhabenes wie den NS geht, die bösen Kritiken im In- und Ausland eintragen wird, den Vorwurf der Leichtfertigkeit, der mutwilligen Entsorgung von Unvergänglichem. (Was ist es nun, unvergänglich oder nicht?) Diese Mythologie ist die eine Säule des Films. Was groß ist, kann auch groß werden; was ein Problem beinhaltet, wird sich zu einem Problemfilm auswachsen; was kontrovers ist, wird diskutiert werden und schließlich alle in die Kinos locken, nicht nur die Fans. Die andere Säule ist die »hervorragende Verarbeitung«; auch dies ein Mythos, natürlich. Und auch sie setzt auf Größe. Aber ihre Größe bezieht sich auf anderes als die Größe der Geschichte; auch wenn das wie gesagt dem Film immer wieder vorgeworfen wird, daß in ihm, wie in jedem beliebigen historischen Schinken, historische Bedeutsamkeit und filmtechnische Vollkommenheit zu jenem indifferenten Begriff der Größe zusammenschmelzen, in dem das Differente eben verschmilzt und nach einem neuen, einheitlichen Ausdruck von Größe strebt, der Person, die nur noch in sich different, ihrem Wesen nach aber Person oder Gestalt ist. (Die Gestalt ist die Grenze der Person, sagt bekanntlich Sokrates.) Da dies schon der Modus der historischen Zusammenhänge selbst ist, bringen sie doch, wo immer auch nur die primitivsten Spiegelverhältnisse am Werk sind – also, daß einer Krieg führen und damit natürlich nicht allein bleiben will –, die historische Person hervor, so braucht medial nur noch an der Verstärkung dieses Modus gearbeitet zu werden. Wie es aber der Modus der historischen Zusammenhänge ist, deren unverfrorene Sächlichkeit und nackte Widersprüchlichkeit einer Synthetisierung bedarf, genauso ist es auch der Modus der medialen Zusammenhänge, deren – man könnte sagen doppelte technische Zusammensetzung (Drehen und Senden), Virtualität (Schein) und Vergänglichkeit (Flimmern), sagen wir einfach: – mangelnde Realität der Gestalt bedarf. So daß also historisches und mediales Bedürfnis zusammenkommen, um gemeinsam etwa den historischen Monumentalfilm zu kreieren, wobei zur Größe der Geschichte noch die Größe des finanziellen Einsatzes und die so in aller Solidität – nicht durch irgendwelche armseligen Halluzinationen – erzeugte Größe des Publikums treten und die Dyade Geschichte und Film um die dritte »Person«, die Massen, ergänzt und zur Triade erweitert wird und das Geschichtsmodell ebenso wie das Medienmodell wieder stimmt.
Da »das alles« aber (und nicht die historische »Vorlage«) Primärgeschichte ist, unmittelbare gesellschaftliche Realität, ist es kein Wunder, daß, was so herrlich zusammenpaßt, die Widersprüche zum Zerreißen dehnt. Denn mögen die in die historische Gestalt hineingestampften historischen Zusammenhänge auch so schwach, so blaß, so entsetzlich farblos und weit weg für uns sein, daß sie von sich aus keinen Widerspruch mehr anmelden, mit keinen einzigen notwendigen Bezug winken – eine Tatsache, die der unhintergehbaren Originalität jedweder Masse geschuldet ist, und in der Tat präsentiert jeder Schinken sich als der letzte und einzige seiner Art, »Spartacus«, »Antonius und Cleopatra«, »Alexander«, weil er in der Vorstellung seines Publikums exakt jenen Platz ausfüllt, an dem Alternativen nur mit anderen Massen zu ersinnen wären, die in den berühmten »Massenszenen« dann freilich nicht zu unterscheiden sind –: die medialen Gestalten leben, in ihnen sind die Bezüge lebendig am Werk, es arbeitet in ihnen, in den Stars kämpfen die früheren Rollen mit der aktuellen Rolle einen den geschilderten »historischen« Kämpfen vergleichbaren Kampf, und noch der Statist verweist mit seinem Haarschnitt auf mögliche Alltagsbeschäftigungen bei Nazis und Ganoven.
Wird Bruno Ganz sich von dieser letzten Rolle erholen, oder wird sie seine letzte bleiben, fragen sich Verehrer des Schauspielers und Kritiker des Films. Wird er jemals wieder Bruno Ganz – meinetwegen der Schauspieler und Rollenträger, nicht die Person – sein dürfen und nicht zu einem guten Teil Hitler bleiben müssen? Wird der Schauspieler die Historie wieder abschütteln, sie als eine Rolle wieder ablegen können, oder wird die Historie vielmehr ihn belegen, zu einem Teil der Hitlergeschichte machen, den modernen Schauspieler zurückverwandeln in einen barocken Menschen, schauspielend auf der Bühne der Geschichte? Wird er in die Geschichte eingehen, nicht als eine Person der deutschen Bühnen- und Filmgeschichte, vielmehr als eine Person der deutschen »historischen«, der deutschen politischen Geschichte oder ganz einfach der deutschen Geschichte? Kurz, wird man, wenn man ihn sieht, künftig nie mehr nostalgisch beglückt und bekümmert an den »Prinzen von Homburg« oder an den »Eichmeister« denken dürfen, sondern immer und immer an Hitler denken müssen? Und wenn das so wäre, wäre das unfreiwilligermaßen ein Beweis doch wieder für die Wucht der Geschichte, ja, um dieses hübsche Wort auch auf die gefürchtete Person anzuwenden, für die Wucht Hitlers? Hat die in dem Fall nur einmal mehr und nach so langer Zeit alles überrannt und überlappt?
Das sind so Mythen. Das sind so Scheinfragen.
Wo wäre die Substanz des Schauspielers Ganz, die durch eine Rolle zu beschädigen wäre? Wo wäre die Substanz der Geschichte, daß sie sich die Mediengeschichte aneignen könnte? Wo wäre die Substanz des Deutschen, daß sie der Geschichte eine von Medialem unabhängige Substanz geben könnte? Wo wäre die Substanz des NS, daß er die von ihm selbst entscheidend geförderte Filmgeschichte vergewaltigen und beschädigen könnte, und wo die Substanz dieser Filmgeschichte, daß sie von realer Geschichte überrannt und mißbraucht werden könnte?
Wo, schließlich, wäre die Substanz Hitlers?
Da es aber in einer Welt, die nichts anderes als sich selbst produziert, die folglich und bei strenger Betrachtung auch im Nachdenken über sich nichts anderes als sich selbst produziert, in einer Welt also, die ihre eigene Ontologie ist, kein Lug und Trug, nur Wahrheit und nichts als lautere Wahrheit bzw. – da wir uns eher auf der kategorialen Ebene freudscher »Sachvorstellungen« als auf der elaborierter »Wortvorstellungen« bewegen – nur Tatsachen und nichts als Tatsachen gibt, werden wir nicht umhin kommen, die kummervollen, auch hämischen Fragen zu Bruno Ganz' privater, professioneller und historischer Person ernst zu nehmen und zu beackern.
Andere mögen es mit Hitler und seinen Generälen haben, ich hab's mit den Frauen. Sie gleichen aufs Haar meiner Mutter auf den alten Fotos. Sie rauchen auch so gern, wie meine Mutter geraucht hat, bevor eine Lungenkrankheit dem ein Ende setzte und sie sich über die rauchenden Männer und Frauen auf den Toiletten der Krankenstation nur noch ärgerte. Hitlers Damen rauchen lange Filterzigaretten, so schlank und schön und unbeschädigt wie sie selbst, nur daß sie – natürlich muß ich auf die Macher des Films verweisen! – mit ihnen so lieblos umgehen. Kaum daß sie sie angezündet haben, müssen sie sie schon wieder ausmachen; wegen irgendwelcher Bomben, weil jemand kommt; dramatischer Zwischenfall, im Bunkerleben, bedeutet meist Ankunft. Ich ärgere mich über die Bomben, die Zwischenfälle. Meine Mutter hätte sich auch geärgert. Soviel sie rauchte, liebloser Umgang mit der Zigarette störte sie. Daß ich rauchte, störte sie auch; dennoch wies sie mich darauf hin, daß Anzünden der Zigarette an der Kerze dieser nicht wohltue, den Raucher um das Beste bringe. Als sie es sich leisten konnte, kaufte sie Astor, und wenn abends Besuch kam, drapierte sie die Astor mit dem wunderschönen trockenen, braunen Mundstück in einem Glas. Sonst rauchte sie heimlich wegen ihrer eigenen Mutter. Ich wußte, wo sie die Zigaretten versteckt hatte, mitsamt den Stummeln nämlich in der Tasche ihres Bademantels, und rauchte mit. Astor waren weiblich und ungewöhnlich heil; schlank, trocken, sie machten schöne Finger.
Schöne Finger machen die Zigaretten auch den Schauspielerinnen im Film. Von Anfang an bin ich mißgünstig, als müßte ich mich noch einmal mit meiner Mutter auseinandersetzen. Ist es nötig, daß sie bis kurz vor Schluß noch so knackig aussehen, so rank, so jung? Geht es an, filmtechnisch oder filmmoralisch, meine ich, daß Erschöpfung und Angst sich in einem noch belebenderen Rosa oder Rötlich niederschlagen, das eher auf Anregung als auf Aufregung deutet, allenfalls noch auf die Aufregung vor dem Auftritt bei einer Schönheitskonkurrenz, was einem bekanntlich nur gut und der Schönheit gar keinen Abbruch tut? Läßt sich das noch mit dem, je nachdem, beißend oder anerkennend gemeinten Urteil vereinbaren, daß der deutsche Film auf einer Macher-Ebene anspruchsvoll, auf jeglicher anderen Ebene aber nichtig ist (das Fleiß-Syndrom, also)? Müßte man, wenn man diesem Urteil entsprechen wollte, die Frauen im Zuge des Untergangs nicht verelenden lassen, anstatt sie immer transparenter, immer engelhafter werden zu lassen?
Offenbar rechte ich mit meiner Mutter. Ich sitze an einer der Quellen meines weiblichen Werdens oder Nichtwerdens. Hier sind sie gleich zu mehreren, die ebenso ätherischen wie handfesten Gestalten; bislang galt mir meine Mutter als einzigartig. Sie sind von der gleichen entwaffnenden Diesseitigkeit im Gemüt, um nicht zu sagen Oberflächlichkeit, die ich bei meiner Mutter immer wieder bestaunt habe, von einer zur Hinfälligkeit hinüberchangierenden Engelhaftigkeit und zugleich robusten Gesellschaftlichkeit, einer Verweigerung gegenüber allem, was das primärprozeßhafte Sein in der Gesellschaft betrifft. Wie oft habe ich mich an dieser Haltung wundgestoßen, wo man sich als Mädchen doch an der Mutter orientieren soll! Sie halten den Platz für die Frauen besetzt; wo, um Himmels willen, soll ich mich hinsetzen? Immer sind sie tadellos gekleidet, rein; wenn ich mich nur einmal um mich selbst drehe, sehe ich bereits wie ein Schmutzfink aus. Von verstörender Weiblichkeit sind sie noch im Bombenhagel, die Haare »peinlich« gewellt – wegen der Tolle über der Stirn habe ich das schönste Foto von meiner Mutter nicht herumgezeigt, soviel Häßlichkeit war nicht zu tolerieren (soviel Schönheit, das ahnte ich, auch nicht) – das Krägelchen sauber gepaspelt; überhaupt, die reizenden Schlangenlinien auf der Bluse, das Mäandermuster von anspruchsvoller Unauffälligkeit; von Hand appliziert, natürlich, oder mit der Maschine sorgfältigst »draufgesetzt«. (Die Maschine als Vollendung der Hand oder die Handwerdung der Maschine: bei deutschen Frauen kann man in die Lehre gehen.) Hatte meine Mutter nicht auch so ein Blüschen? Wer hat hier wen nachgemacht? Oder war es einfach so?
Als ich den Film das zweite Mal sehe, freue ich mich über das Wiedersehen; finde alles toll, bin vollkommen kritiklos. Auch auf die Männer fällt ein versöhnender Schein.
Substanz ist nicht. Nicht nur im Film nicht, sondern überhaupt. Das haben sie von vornherein gemein, die Welt und der Film. Da ist nichts als platte Diesseitigkeit. Wie auf einer Scheibe (nicht wie auf einer Leiter und auch nicht wie am Hang eines hohen, hohen Bergs!) wird das Spiel um die Vorherrschaft gespielt; das Spiel heißt: Wer springt am höchsten? In Wirklichkeit geht es um den Schwarzen Peter, darum, wer die Arschkarte bekommt: Wer hält es auf der Scheibe nicht mehr aus, wo sie dicht an dicht stehen und sich gegenseitig bedrängen, die Ereignisse, die Sachverhalte, die Emotionen ? Wer springt als erster, aus Schwäche natürlich, weil er es nicht mehr aushält, und wo soll er hinspringen, wenn nicht in die Höhe? Seht ihr, rufen die anderen, er ist höher, luftiger, mächtiger. Feierlich überreichen sie ihm die Arschkarte: Er soll ihnen die Ideologie liefern, die alles erklärende metaphysische Perspektive.
Oben ist er ja bereits.
So oder so ähnlich stelle ich es mir vor, wenn ich es mir vorstelle.
Im Film habe ich es einfacher; da wird mir vorgestellt. Im »Untergang« allerdings macht man es sich nach allgemeiner Auffassung ein wenig zu leicht: man richtet sich nach dem historischen Schwergewicht; es geht um den Untergang, da braucht man nicht zu erklären, warum man sich nach ihm richtet. Es geht um Hitler, da müssen wir nicht sagen, wo das Böse sitzt. Aber es geht auch um einen guten Film; das ist gute alte Phänomenologie oder meinetwegen auch Neukantianismus: Mag Hitler noch so böse, der Untergang noch so finster sein: es geht auch um einen guten Film. Und es geht nicht nur um Hitler, es geht auch um Bruno Ganz. Auch wenn wir ein Filibuster in historischer Reflexion veranstalten, einen echten Marathon, aber mit offenem Ausgang – solange, bis wir zum moralisch-politischen Urteil zurückgefunden haben –, es geht auch um Bruno Ganz. Mit Bruno Ganz geht es um die Bundesrepublik, es geht um die Schaubühne, es geht um das Fernsehen, es geht um die Kategorie »zögerndes Sprechen«, es geht um die Kategorie »Bedächtigkeit« und noch um ganz viel; nicht nur – und vielleicht am allerwenigsten – um Hitler.
Um Hitler geht es eigentlich nie, schon bei Alice Miller und all den anderen, die es auf die Person abgesehen hatten, nicht. Es geht auch deshalb nicht um ihn, weil er ein Nichts ist. Wir, wenn wir soviel auf dem Buckel hätten wie er, wären auch ein Nichts, uninteressant, unwichtig, nichtig, ohne Bezug zu dem, was wir auf dem Buckel hätten. Ich beobachte mich dabei, wie ich selbst in diesen Sog der Auflösung gerate, wenn ich mich meinen historischen Wurzeln, meinen NS-Wurzeln, meinen Frauenschafts-Wurzeln konfrontiere; da kann ich noch so gewieft, so sympathisch interessiert, so reflektiert vorgehen: der persönliche Bedeutungsverlust, so ganz en passant registriert, ist wirklich ungeheuer! Und dann erst Hitler!
Nein, um ihn geht es überhaupt nicht.
Wenn Bruno Ganz gleich am Anfang nach dem mißglückten Schreibversuch seiner reizenden Sekretärin sagt: »Ich schlage vor, wir fangen einfach noch mal von vorne an«, wobei er auf Grabschen ebenso verzichtet wie auf den Rausschmiß der ja noch gar nicht eingestellten Aspirantin, die »aus meinem geliebten München« kommt, dann hat er für Hitler oder Hitler für ihn oder haben beide zusammen doch noch einmal die Substanz des Deutschen bewiesen. Im Bereich des väterlichen Humanismus kann ihnen keiner das Wasser reichen. Da haben sie gearbeitet und gewerkt; das wirkt schon fast wie angeboren oder wesensecht; sozusagen wie das Attribut zu einer Substanz. Auch ich bin sofort hin. Das hätte mein Vater mal sagen müssen, »wir fangen einfach (einfach!) noch mal von vorne an«, statt immer nur »weiter« und »weiter«! Meinetwegen hätte er dann später auch schreien und zittern dürfen wie Hitler. Aber er, der es mit Hitler gehalten hatte, legte später ja unbedingten Wert darauf, nie zu schreien (und Zittern konnte er sich beruflich nicht erlauben; er war ein Angsthase, aber er hatte die ruhigsten Hände von der Welt).
Der zweite Besuch des »Untergang« findet in Berlin statt. Wieder wähle ich die späte Nachmittagsvorstellung, hab gern viel Platz um mich. Der Film wird an einem durch und durch exotisierten Ort gezeigt: im Rollbergkiez, im problematischen Norden Neuköllns; wobei der Süden als nicht weniger problematisch gilt; das ist Berliner Metaphysik. Aber die libanesischen Großfamilien werden die Reihen wohl freilassen.
Unaufhaltsam füllt sich der Raum, bis die Plätze gut und gern besetzt sind. Ich hätte gar nicht gedacht, daß sich nach den zahllosen Medienkampagnen noch so viele Deutsche ins Rollbergviertel trauen; in den Film, ja, das weiß ich von Miltenberg. Es sind durchweg nette Leute, denen ihr je besonderes Interesse ins Gesicht geschrieben steht, oder das ihrer Begleitung. Es sind keine Berufsdenker wie ich, die sich auf ihre Zerrissenheit etwas einbilden, auf ihren Flirt mit allem Verbotenen, auf ihre Ununterscheidbarkeit von NS und Rollbergkiez. Sie kommen in ganzen Familien: Vater, Mutter, Kind und Opa, das Kind hart an der Altersgrenze nach unten, der Opa nach oben. Grauhaarige Freunde sehen sich den Film zusammen an. Ich bin keineswegs die einzige allein. Sie alle sind an ihrer Umgebung desinteressiert, weit mehr als ich, drehen sich nicht hin und her, haben nichts zu futtern mit (wenigstens das teile ich mit ihnen), interessieren sich nicht für die andern Interessenten, suchen nicht nach Bestätigung und fühlen sich nicht bestätigt. Sie wollen den Film sehen, gern auch hinterher darüber reden. Mein postmoderner Zynismus fällt mir auf und – schmilzt. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange es her ist, daß ich mit Leuten im Kino gesessen habe, die nicht eine Charge, sondern eine Sache sehen wollten – ein Etwas, einen Stoff!
Nach den ersten Sequenzen lebe ich schon wieder mit meiner Mutter. Ihre Schwester mischt diesmal mit; sie mischt sich unauffällig unter die Frauen. Wenn ich es mir leichtmachen will – und das taten wir immer, wenn wir auf Tante Erna schimpften –, dann fokussiere ich mich auf sie, und wahrhaftig, so sehr sie bei uns als Unikat galt in ihrer absurden Mischung aus intellektueller Beschränktheit und Selbstbewußtsein, aus kindlich-heiterer Verantwortungslosigkeit und harter Spießermoral, hier, unter den Frauen, die den Führerbunker bevölkern, fällt sie gar nicht auf. Ein Rätsel meiner Jugendjahre löst sich: Hat meine Mutter, wenn wir uns über Tante Erna beklagten, nicht manchmal gesagt, in ihrer Jugend wäre sie ganz normal gewesen, ja in ihrer Fröhlichkeit und Unternehmungslust über alle Maßen integriert und beliebt?
Überdies war sie eine gute Partie.
Vor dem Untergang.
Die Männer haben es schwer. (Aber ich will meinem Nachruf auf ein verlorenes Geschlecht nicht vorgreifen.) Von ihnen verlangt man, daß sie einer ernsthaften Beschäftigung nachgehen. Gegenüber Frauen ist man in der Regel nachsichtiger; das mag an der unendlichen Prostitutionsgeschichte liegen, am jahrhundertelangen Zwang, sich selbst als Unterhaltung zu verkaufen. Da sind Gegacker und Geplapper erlaubt, und auch Tippfehler fallen nicht ernstlich ins Gewicht. Sprunghaftigkeit ist kein Fehler, sondern ein Vorzug. (Schlechte Schauspielkunst unter dem Aspekt auch, von Kunst also gar nicht zu unterscheiden.) Männer dürfen selbstverständlich auch unterhalten; der Königsweg ist der des Transvestiten; da kommt bekanntlich keine Frau mit. Aber wenn sie ernst sind, dann haben sie es schwer. Was ist, wenn aus der puren Anstrengung, es recht zu machen, plötzlich das Unernste erwächst – das fängt schon bei der Rollenbesetzung an, lang ist's her, daß, je bekannter die Rolle war, »Hamlet«, »Hitler«, »Raskolnikoff«, desto unverbrauchter der Schauspieler sein mußte. Was ist, wenn der Schulbub plötzlich hinter dem Tragöden hervorlinst, er bläst die Backen auf, um bestürzt zu wirken; im »Untergang« schaut die Freude, eine der wenigen »ehrenhaften« Rollen ergattert zu haben, keinen Bösewicht verkörpern zu müssen, förmlich aus allen Knopflöchern; obwohl, irgendwie scheint die Ehrenhaftigkeit in diesem Film endemisch zu sein, der netten Schauspieler wegen. Einmal den Blick angeschrägt, ist es schwer, zu irgendeiner Form von Bestürzung zurückzukehren, von unverbrauchter Reaktion. Auch die wochenschaumäßig eingeblendeten Kriegsszenen, die Verfolgungsszenen, die sadistischen Szenen bringen die verlorene Ursprünglichkeit nicht zurück. Wer in diesem Film länger als eine halbe Minute auftreteten darf, ist ein bekannter Schauspieler, und er wird das Etikett nicht mehr los. Er ist ein unernster Mann bei einer ernsten Beschäftigung und, im gleichen Atemzug, ein ernster Mann bei einer unernsten. Er spielt, oder es spielt mit ihm. Sorgfältig zurechtgemacht, vorbereitet, abgerichtet, mit seiner Rolle identifiziert, kann er sie nicht einen Augenblick lang durchhalten. Er tritt als … auf, und alle seine abgelegten Rollen treten mit ihm auf; »alle, die dahingeschieden«. Was vergangen ist, ist wirklich: Aber das ist doch …! Manchmal fällt einem bloß der Name des Schauspielers ein, wenn man spontaner drauf ist, weniger intellektualistisch, dann seine früheren Rollen, auch dann hat er einen Namen, Kommissar … oder einfach »der Förster aus … Die Realität setzende Zauberformel lautet: Aber das ist doch … aus …! Ernst ist die Kunst, wichtig darum, daß sie gelingt. Hier muß gearbeitet werden. Heiter ist das Leben; ob das NS-Leben oder ein anderes, das tut nichts zur Sache. Unvermeidlich stellt im Film jede Arbeit vermeintlich am Leben sich als in Wirklichkeit Arbeit am Film heraus.
Obwohl genau das auch der Moment des »urdeutschen« Scheiterns ist, wo man denkt: Die Deutschen können wirklich keinen Film machen, der das Prädikat »handwerklich gut« hinter sich läßt, das, als Prädikat, immer ein Schlag ins Gesicht des »Lebens« ist (und damit natürlich ein Schlag ins Gesicht des Films), wie die Maske, die der Depressionsgeplagte als sein Gesicht mit sich herumschleppt. Stark ist der Film, das Filmwesen, im deutschen Film, schwach die Realität. Glücklicherweise ist das Filmwesen ein beträchtlicher Teil der Realität, sonst wäre die noch schwächer (oder genau umgekehrt?)
Hinterher rumort es in einem; man hat ein bißchen gelebt. Je nach Verfassung hat man eher sachlich, im Medium der historischen Vergewisserung, oder kritisch, im Medium der Kulturkritik, oder man hat eher emotional gelebt, in der Erinnerung geschwelgt, oder man hat einfach, Zeitgeist-Kind, das man ist, in allem Filmischen geschwelgt, die eigene fremde Existenz für anderthalb Stunden gegen die vertraute TV-Welt eingetauscht. Es rumort ganz schön; auch längst schon träge, verhärtete Stränge sind wie neu innerviert, mobilisiert. Als Zugabe – nicht am unwichtigsten! – entsteht der Eindruck, daß die elektronische Seh-Welt, mit deren Rezeption man große Teile des Lebens verbringt, und dieses selbst eine produktive, ungeachtet des Ebenen-Unterschiedes, normale, unproblematische Einheit sind – das sind sie ja auch, sonst, nämlich, wären wir schon alle zugrunde gegangen!
Störend nur die Kritik der intellektuellen Besserwisser, die die postmoderne Rezeption, die auf die Vergegenwärtigung des Zusammenhangs dessen zielt, was ohnehin zusammenhängt, stillos, unmoralisch, sinnlos findet; diese Art Leben (statt Urteilen) auf der Urteilsebene bestenfalls sinnlos, im schlechteren Fall gefährlich – auf welcher Ebene soll man noch urteilen, wenn auf der Urteilsebene ebenfalls gelebt (erinnert, erzählt, gelacht) wird? Auf welcher Ebene darf man dann noch erklären, was geht und was nicht?
Alles geht. Wenn der Film einen Pluspunkt verdient, dann weil er dem Köhlerglauben, dem NS und seinen Verbrechen hafte etwas im Wortsinn Außerordentliches an, keinen Vorschub leistet. Daß er das nicht explizit, sondern implizit, nicht als Programm, sondern als Symptom, daß er es selbst nicht als Subjekt der Interpretation, sondern als Objekt der Geschichte tut, nicht als »klasse Film«, sondern, wie man es auch wenden mag, als deutsche trash-Ausgabe, darüber mag man gern hinwegsehen, und es ist auch nicht so wichtig. Wo, in der Tat, das p.c.-gesteuerte Urteil auf der Ursünde der Kompatibilisierung von Inkompatiblen besteht, auf dem »schwerwiegenden Verstoß« gewissermaßen gegen das Seins-Gesetz der Bundesrepublik, da »leistet« der Film in Wirklichkeit die unabdingbare Arbeit der Normalisierung (aber er leistet sie natürlich nicht, er lebt einfach davon): auf jedem Filmmeter zeugt er von der Unmöglichkeit, das Vergangene auszugrenzen, durch Stigmatisierung noch nachträglich zu verunmöglichen; dabei ist es zweifelsfrei passiert und kann schon aus diesem trivialen Grund nicht ausgegrenzt werden; wo wäre das Auffanglager fürs Ausgegrenzte, das Zwischenreich der Zivilisation?
Natürlich kann man den Film herrlich kritisieren – wenn man die Integrationsarbeit, die er spontan, symptomatisch, im Modus des »Es«, nicht des »Ich« leistet, selbst als Subjekt bereits geleistet hat; aber wer hat das schon. Da könnte man sich im Film dann sicherlich »grauenvoll« langweilen. Man könnte sich auch »grauenvoll« ärgern. Vielleicht aber könnte man ihn auch dann immer noch ein bißchen genießen, film- und fernsehsüchtig, wie man ist, trash-süchtig. Man würde sich eben berieseln lassen. Die Einsparung an unnötigem Aufwand, die Aufwandsersparnis – sagen wir es plump: daß man mal nicht so tun muß, als wäre Hitler etwas ganz anderes als man selbst oder der NS etwas ganz anderes als die Bundesrepublik, die ihre raison d'être aus der Behauptung dieser anderen Ganzheit bezieht – wäre nur der wissenschaftliche Ausdruck fürs Berieseln oder die psychologische Übersetzung für trash.
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt3.html.
Veröffentlicht in: Willi Bischof (Hg.). 2005. Filmriss. Studien über den Film ›Der Untergang‹. Münster: UNRAST, 79–93.
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