Ilse Bindseil
Nachruf
Jochen hat mich entdeckt. »Ich hab’s gewusst! Ich hab’s euch ja gesagt!« schrie er hochrot vor Vergnügen, während er sich durch die Menge bis zu mir arbeitete und mich küsste. Er hatte mich – Lehrerin, Mutter von drei Kindern, an den Folgen einer Krebsoperation laborierend – Anfang der achtziger Jahre nur auf Grund von ein paar Zeilen im Argument zum Kongress »Aktualität des Kommunismus« eingeladen, und jetzt war er glücklich, dass ich kein Reinfall war – und ich war es auch. Eine höchst produktive Zeit begann. Dass ich mit meiner Art zu schreiben und zu denken willkommen war, wirkte entfesselnd auf mich. Dass Jochen sich mit anderen Themen beschäftigte als ich – möglich auch: sich mit den gleichen Themen anders beschäftigte –, trug zum Gefühl der Akzeptanz eher bei, als dass es mich verunsicherte, wenn auch eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen uns herrschte. Entweder wir waren zu ähnlich, oder wir waren zu verschieden. Aber das machte nichts. Es machte erst etwas, als – ich kann es nur vermuten – Jochens Denken sich mit einem praktischen Anspruch verknüpfte, während ich, durch meinen Alltag hinreichend verknüpft, mich in die Praxis des Denkens, die Praxis des Schreibens hineinarbeitete. Dass die Grundvoraussetzungen für das Einverständnis gleich blieben, davon ging ich aus, das war für mich selbstverständlich; das kantische »Faulheit und Feigheit« muss hier eine Rolle gespielt haben, sonst wäre ich vielleicht aufmerksamer gewesen. Wahrheit war für mich etwas, was man nicht weiß, aber herauskriegen kann; der erste Schritt so unverzichtbar wie der zweite. Dass etwas anderes richtiger und wichtiger werden kann, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. So war ich ab einem gewissen Zeitpunkt immer hinten dran, und das Gespräch mit Jochen war schon abgerissen, bevor ich es gemerkt hatte. Einmal redeten wir noch im Principe di Napoli in Berlin, bei mir gleich um die Ecke. Am Ende einer langen und mühsamen Unterhaltung sagte Jochen: »Ich möchte gern einmal so richtig mit dir diskutieren, Ilse.« »Wir haben doch gerade diskutiert«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. Das war’s nicht, wollte er, glaube ich, sagen, das war keine Diskussion. Der Kontakt riss ab.
Vor ein paar Jahren schickte mir ein junger Leser, der sich mit Jochens und meinen Schriften auseinandergesetzt hatte, einen ausführlichen Kommentar, den ich, sofern er mich betraf, meinerseits kommentierte. So ging es hin und her, und es entstand ein Konvolut, das ich Jochen nach Baden-Baden schickte, da es auf zwanglose Weise den Zusammenhang herstellte, den wir beide nicht geschafft hatten. In seiner kurzen Antwort ließ Jochen auf unnachahmliche Weise offen, ob er in den Text hineinschauen würde, er ließ sich nicht nötigen. Er beschimpfte mich mit einem Doppelnomen, dessen erster Teil mit »Beamter« zu tun hatte und dessen zweiten Teil ich aus Gekränktheit sofort vergaß, möglicherweise war es einfach »…seele«. Wie er es schon einmal getan hatte, unterschrieb er den Brief mit »Ich trauere um dich, Jochen.« Jetzt trauere ich um dich, Jochen.
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt31.html.
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