Ilse Bindseil

Störrische Gedanken zu Mohr/Roths gigantischen Untersuchungen über »Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000–2011«

Markus Mohr, Daniel Roth. »Stärkere Strahlkraft. Wahrheit und Lüge in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000–2011«. Limitierter Eigendruck, Oktober 2021

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Dieses Buch, das seinen Verlag noch finden muss, als gigantisch zu bezeichnen ist kein Kotau vor einem vermeintlichen Anspruch, das, was der Bundesrepublik damals entglitten ist, nun auf andere Weise in den Griff zu bekommen, vielmehr ein Versuch, der schrankenlosen Hingabe an einen nur schwer erträglichen Gegenstand Rechnung zu tragen, mit dem emphatischen Wort aber auch der Rührung Ausdruck zu geben. Denn es ist ja nicht möglich, sich diesem Gegenstand ohne eine Portion Donquichotterie zu widmen, erstens um ihn auszuhalten, zweitens, drittens und viertens, um dem, was durch ihn an die Oberfläche, ans Licht, ins Bewusstsein gespült wird, immer neu mit Gutwilligkeit, wörtlich mit gutem Willen, zu begegnen. Gutwilligkeit, nämlich, mit einem Schuss Gutgläubigkeit, und genau nicht eine der vorgefundenen Böswilligkeit kongeniale Schärfe des Urteils vertritt in den Untersuchungen die allgemeine Grundlage des Zusammenlebens, gegen die die Ermittlungen verstießen. Die Koinzidenz von Kalkül und Verblendung, das sie charakterisiert, ist der eigentliche Gegenstand, auch das Drama des Buches. Aber wenn etwas Böses verborgen ist, dann muss es ans Licht, zumal wenn es nicht um Mord, sondern um Aufdeckung geht.

Wenn ich nun zu diesem Unternehmen störrische Gedanken vortragen will, dann nicht, weil ich über die Fakten streiten wollte oder könnte, im Gegenteil. Mein Einwand ist sowohl abstrakter als auch persönlicher Natur. Dadurch dass Mohr/Roth durch ihre Hingabe an die abscheuliche Materie den Rassismus herausarbeiten, der die Bundesrepublik bis in die Institutionen und das amtliche Handeln hinein prägt, dadurch dass sie ihn vom Charakter eines notorischen Vorwurfs befreien und in den Rang eines wahrhaft kruden Faktums erheben, haben sie den Begriff selbst bereits überholt, bringen ihn aber erneut und beständig ins Spiel, so dass für mich eine befremdliche Verdoppelung entsteht: Worum geht es eigentlich, um die Bundesrepublik, wie sie ist, oder um das Urteil? Rassismus als Begriff ist, wenn nicht gegenüber der Haltung, die er beschreibt, so gegenüber den Taten, für die er verantwortlich gemacht wird, notwendig unterbelichtet, in seiner Eigenschaft, strategische und essentielle Momente zu vereinen, geradezu ein Mythos, keine Erklärung. Eine umfassende Feindseligkeit gegen Fremdes, etwa, wiewohl sie nur selten infrage gestellt, umso bereitwilliger durch Wissenschaften bestätigt wird, ist ein Konstrukt und kein Ausgangspunkt, sie hat in einer allgemeinen Debatte nichts zu suchen. Wollte man bei der Bestimmung des Rassismus ohne sie auskommen, müsste man letzteren ganz anders, nämlich ungleich unmittelbarer im gesellschaftlichen Kontext bestimmen.

Gegenüber den Ermittlern, gegen die Mohr/Roth nun ihrerseits ermitteln, scheint der Begriff des Rassismus eher über-, statt unterbelichtet, einfach zu scharf konturiert. Das als Befund Erhobene fällt in seiner Nachbarschaft zurück, denn so exakt können die Untersuchungen gar nicht sein, wie es der Begriff ist. Dass nicht argumentative Langeweile eintritt, liegt an der grenzenlosen Bereitwilligkeit der Autoren, sich der Materie zu stellen. So kommt zustande, was ungleich wichtiger als die Entlarvung der Bundesrepublik ist, nämlich ihre Darstellung. Das Prinzip des Quod erat demonstrandum reicht dafür nicht und ist im Buch erkennbar auch nicht die Absicht. Worum es geht, kann ja nicht sein, die bundesdeutsche Wirklichkeit nominalistisch auf einen vernichtenden Begriff zu bringen, sondern eben diesen Begriff in ihr aufzulösen, so dass am Ende nicht ein analytisches, sondern so etwas wie ein synthetisches Urteil steht. Einem solchen Urteil, und das ist das »Gigantische« an ihm, nähert sich immer wieder das Buch.

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Rassismus zu diagnostizieren erscheint als eine Verpflichtung sowohl gegenüber den Opfern, die er auch noch in den Ermittlungen identifiziert, als auch gegenüber den Angehörigen, gegen die er auf der Suche nach den Tätern noch einmal in Stellung gebracht wurde. Ermöglicht der Begriff, sowohl des Moments von Täterschaft in den Reihen der Ermittlungsbeamten als auch des entscheidenden Moments von Willkür gegenüber der Opferseite habhaft zu werden, so führt er als ein Urteil, das das Denken lenkt, zugleich doch zu Einschränkungen. Zurechtgestutzt auf das nun seinerseits zu Verfolgende – Rassismus in den amtlichen Reihen der Bundesrepublik –, ist er unvermeidlich sowohl normativer als auch faktischer Natur. Zwangsläufig führt die mit ihm einhergehende Zuspitzung zu Lücken und Verschiebungen. Die Bundesrepublik muss selbst ein wenig normativ aufgefasst werden, sie muss ein wenig erhöht werden, so kann man ihre Untaten deutlicher herausstellen. Einer solchen Verschiebung – in die Höhe einer normativen Ethik, in der es tendenziell darum geht, gut statt einfach nur zu sein –, fällt die faktische Geschichte der Bundesrepublik, hier halb im O-Ton zu fassen als Gastarbeitergeschichte, zum Opfer. Sie fällt jenem Kurzschluss zwischen der Bundesrepublik und ihrer Nazivergangenheit zum Opfer, der ein Merkmal noch der reflektiertesten Gesellschaftskritik ist und ruhig öfter bedacht werden könnte. In der öffentlichen Darstellung der Bundesrepublik und ihrer Institutionen manifestiert sich das Fehlende in einem gewissen Doppelbild, mit dem hantiert wird, als entspräche ihm die Realität selbst, zeichnet es die Bundesrepublik doch als einen Staat, in dem im umfassenden politischen und ethischen Sinn Recht und Ordnung wenn nicht herrschen, so doch – müssen, man kann es von ihm verlangen. Wenn ein solches Bild nicht nur die feiertägliche Besinnung, sondern auch die kritische Untersuchung prägt, verfälscht es zwar nicht unbedingt das Ergebnis, schärft vielmehr bloß den Befund. Wohl aber gefährdet es das interessantere Ziel jeglicher Untersuchung: die Gesellschaft, so wie sie ist – nicht wie sie sein sollte – zu fassen. Letzteres impliziert eine Kopplung des Gegenstands nicht an ein Urteil, wohl aber an der Frage, was das eigentlich ist: Gesellschaft. Empfänglich für solche hybriden Annahmen wie die eines Rechtsstaates sans phrase – der Volksmund nennt es »wie er im Buche steht« – ist nicht zufällig auch die radikale Kritik, und auch für sie ergibt sich der Schaukeleffekt, dass, je schlimmer die aufgedeckte Untat ist, desto heller der Stern der Eigentlichkeit leuchtet. Ungleich unkritischere, einfach nur Bürger, lassen sich häufig nicht nur weniger schockieren, sie haben vom Staat zugleich eine realistischere Vorstellung. Anstelle eines rigorosen Begriffs könnte auch diese Haltung ein – Stern sein, der leuchtet.

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Nicht nur die Autoren, auch ich habe ein persönliches Argument vorzutragen, aber vielleicht sollte ich umgekehrt formulieren: Nicht nur ich, sondern auch sie. Dem deutschen Staat etwas Böses nachzuweisen, ist für erklärte Linke prinzipiell ja keine unangenehme Aufgabe. Man merkt es der Arbeit aber an, dass sie in ihrem Verlauf durchaus weniger geeignet war, Schadenfreude zu vermitteln als die Lebensfreude zu verderben. Mit ihrer heroischen Anstrengung tragen Mohr/Roth ja nicht nur einem Staatsversäumnis, sondern auch einem gesellschaftlichen Versäumnis Rechnung, an dem in schöner Neutralität die Guten wie die Bösen Anteil haben, die, die den Rassismus hassen, wie die, die ihn propagieren. Dabei geht es nicht nur um die jahrelangen und mit öffentlichem Gleichmut ertragenen Niederlagen in Sachen Mordermittlungen, sondern um die soziale Missachtung, die über einen ungleich längeren Zeitraum die allgemeinen Voraussetzungen für die speziellen Misserfolge schuf. Sie begann bereits mit jener ersten sogenannten Gastarbeitergeneration, die, zwar ökonomisch, aber gesellschaftlich nicht gebraucht, nur in jener Form der Nichtexistenz akzeptiert wurde – oder vielmehr deren Form der Nichtexistenz so wenige Jahre nach dem Faschismus ertragen wurde –, die zu jenem Nebeneinanderher-Leben führte, das die über Jahre straflos bleibende sukzessive Exekution von Angehörigen und Nachkommen dieser Generation ermöglichte. Wie sollte auch etwas, was nach hiesigen Maßstäben und Begriffen, in Patterns der »Hiesigkeit« gar nicht existierte, erfolgreich ermittelt werden! Als einen Akt nachholender Solidarität mit den Opfern und ihren Familien, als einen Akt nachträglicher Vergesellschaftung verstehen die Autoren ihre Arbeit und verleugnen auch das, psychologisch ausgedrückt, depressive Moment daran nicht. Denn die Solidarität kommt zu spät, und dieses Bewusstsein färbt auch die Arbeit, gibt den Ermittlungen einen obsessiven und zugleich pessimistischen Zug, kann das Versäumnis doch niemals eingeholt werden. Allerdings meine ich damit noch etwas anderes als die Autoren, die den manifesten Skandal im Auge haben.

Mit ihrer radikal politischen – nicht ihrer radikalen politischen! – Verarbeitung auch des eigenen Versäumnisses geben sie einmal mehr der ethischen Richtigkeit vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit, übrigens auch meiner eigenen Wirklichkeit, den Vorzug. Die mittlerweile von »Gastarbeitern« zum »migrantischen Hintergrund« avancierten Menschen aus anderen Ländern, in Westdeutschland zuletzt der Türkei, werden von ihnen, vielleicht eine Spur betont, als Bürger apostrophiert, ihnen wird das Wort überlassen; ihr Urteil fließt in das eigene ein. Das Unrecht, das ihnen nicht nur durch die so absichtsvolle wie gleichgültige Exekution ihrer Landsleute, ihrer Angehörigen, auch durch die ebenso akribische wie vorurteilsbeladene Ermittlung in deren »Umfeld« widerfuhr, wird aber zum Skandal durch die Kränkung der Norm, die durch die Bundesrepublik gesetzt ist, durch die Kränkung der abstrakten gesellschaftlichen Bestimmung mehr als durch die Würdigung ihrer mühseligen Existenz. So bleiben sie im Grunde noch einmal außen vor, im genaueren Sinn ante portas: Wenigstens kann man zu ihnen hinübergucken. Nach meiner Wahrnehmung, die ja bis an den Anfang der bundesdeutschen Gastarbeitergeschichte zurückreicht, hat die begriffsorientierte linke Perspektive unvermeidlich Anteil am gesellschaftlichen Ausschluss jener vorbehaltlich Einwandernden, die vertraglich zum Arbeiten, nicht zum Leben in die Bundesrepublik gerufen wurden, indem sie sie über den herrschenden Leisten der bürgerlichen Rechtsordnung schlägt, ganz gleich, ob ihr Leben sich darin widerspiegelt oder nicht. Auch und gerade für Linke kommen sie auch heute eigentlich nicht vor, es sei denn, man kann sich mit ihnen politisch verbünden und damit eine wie immer scheinhafte Verbindung herstellen, sagen wir zwischen Abstraktem und Abstraktem. Dabei geht es Mohr/Roth gar nicht um politische Morde, eher schon um politisch dirigierte Ermittlungen gegen unpolitische Opfer. So vertraut dieser Gegenstand anmutet, sobald man ihn in der finsteren Kontinuität der deutschen Geschichte sieht, so sehr bringt er die wirklichen Menschen zum Verschwinden. Womöglich würde deren Geschichte sich ja ganz anders erzählen, womöglich sind sie, horribile dictu, gar keine Bürger gewesen! Womöglich hätte man mit ihrer Hilfe das eigene Rechtswesen einmal von außen betrachten können.

»Eure Polizei wird den Fall nicht lösen«: Als hätte auch ich Madeleines in Lindenblütentee getaucht, so ersteht ausgerechnet bei diesem Satz – einer aus dem Spiegel vom 15.April 2006 zitierte Äußerung eines »älteren Türken« (im Vorabdruck S.302 und dem gesamten Buch als eines der Mottos vorangestellt) – mein aus nichts als scheinbaren Missverständnissen und tatsächlichen Unterschieden, scheinbaren Unterschieden und tatsächlichen Missverständnissen zusammengesetztes, durch die Kontingenz des Zusammenlebens aber immer wieder in die Realität einer unveräußerlichen Gleichheit zurückgeholtes Leben, nicht einmal mehr mit alten Nazis, auch nicht mit edlen Revolutionären, sondern mit wirklichen Menschen vor meinem inneren Auge. Eure Polizei schafft das nicht: Ausgerechnet bei diesem Satz spüre ich Behagen. Ich erinnere mich.

»Komm, wir gehen«, sagt am Elternsprechtag die resolute Mutter eines Schülers zu ihrem Mann und ist schon aufgestanden, während er und ich träge sitzen. »Komm, wir gehen. Frau … versteht uns nicht.« Das hat gesessen. Denn Verstehen ist das Größte, das Unterste und das Oberste. Weil ich verstanden habe, was sie von mir wollten, habe ich so getan, als hätte ich sie nicht verstanden. Auf das respektvoll, in verklausulierter Weise vorgetragene Verlangen habe ich ebenso respektvoll, mit einem redseligen Exkurs über die diffizilen Differenzierungen an einer Berliner Gesamtschule geantwortet, so als wäre dies die gewünschte Auskunft. »Komm, wir gehen«, sagt die Frau zu ihrem Mann, »Frau … versteht uns nicht.« Für eine Sekunde sehen wir uns in die Augen, sie Brille, ich Brille. Ich habe dich durchschaut, sagt ihr Blick (wohlgemerkt nicht, ich habe dich verstanden). Du magst nett und beliebt sein, in Wirklichkeit bist du aus Stein. Du redest wie ein Buch, aber mit dir kann man nicht reden. Du siehst aus wie ein Mensch, aber du bist nur eine Vorschrift (eine Preußin, möchte ich ihr soufflieren, eine Möchtegern-Achtundsechzigerin). Außen warm und innen kalt. Mit dir in einem Raum, da fange ich an zu frieren. Sie knöpft den Mantel zu, wickelt das Tuch um den Hals. So fröhlich sie gekommen sind und so herzlich sie mich begrüßt haben, so umstandslos, mit versteinerten Mienen gehen sie. Lassen alle Formalitäten beiseite und verschwinden. Nehmen ihre Selbstachtung mit und lassen mich mit meinem angeknacksten Selbstgefühl zurück. Es hilft mir wenig, dass ich mir sage: Dabei habe ich ihnen geholfen, das Gesicht zu wahren! Meins kriege ich dadurch nicht zurück. Eigentlich sind wir quitt. Trotzdem habe ich Mühe, die Kränkung zu verdauen, so wie sie sicherlich den Fehlschlag ihrer Bemühungen.

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Eure Polizei! In Erinnerung an meine damalige Unterhaltung knirsche ich mit den Zähnen. Bei Bedarf wir und bei Bedarf ihr sagen, das können wir alle gut. Besser wäre es, uns dem Kuddelmuddel zu überlassen, anstatt uns den Begriffen der Fortschrittlichen zu überantworten. Nicht weil sie Übles im Sinn hätten, sondern weil sie das Gleichgewicht stören, die Gleichheit beschädigen, auch die Lust an der Wahrheit hemmen, Neugier gar nicht erst aufkommen lassen. Zu groß die Besorgnis, ins Fahrwasser des Unrechts zu geraten. Sie seien auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, beklagen die Ermittelnden, die sich im Umfeld der Opfer umtun. Moralisch betrachtet, eine Ungeheuerlichkeit, da die Schweigenden ja nichts getan haben, also auch nichts sagen können. Aber von abgründigem Witz. Wie sich Ahnungslosigkeit in Geheimnistuerei transformiert, das ist eigentlich eine gewaltige Pointe. Den Autoren sei Dank, dass sie sie herausarbeiten, wenn sie auch auf halbem Wege stehenbleiben. Denn müssten sie sich von ihr nicht in jenes Gestrüpp von Überlegungen locken lassen, in dem das Aufdeckungsinteresse sich seinerseits in Erkenntnisinteresse transformiert? Unter welchen Bedingungen sind Unkenntnis und Verschweigen eigentlich das gleiche? Für die Einwanderungsgesellschaft, die es nie sein wollte, weder von der Seite der sogenannten Einwanderer noch von der Seite der sogenannten Gesellschaft, ist die Frage zu beantworten: unter den Bedingungen einer beiderseits verleugneten Existenz. Sie seien als Täter behandelt worden, klagen die Angehörigen der Opfer. Für die bundesrepublikanische Geschichte, an die ich mich gewiss ausschnitthaft und verzerrt, dafür umso deutlicher erinnere, markiert das immerhin einen Fortschritt, von der Nichtexistenz zur wenn auch höchst fragwürdigen Existenz. Die als Arbeitskräfte Angeworbenen, unter kulinarischen Gesichtspunkten später als Bereicherung Akzeptierten noch anders wahrzunehmen als unter Aspekten anonymer Maloche und landestypischer Ernährung ist doch ein Fortschritt, auch wenn die Vorstellung Mängel aufweist und im Vergleich zur rasanten Globalisierung ein wenig altbacken wirkt, wie ein deutscher Krimi. So wie es kaum vorstellbar war, dass die, die zum Arbeiten kamen, sogar in der Zeit hier lebten, in der sie nicht arbeiteten, so überraschend, einfach ungeheuerlich war es, dass beileibe nicht nur in den Großstädten, auch in der öden deutschen Provinz ein geheimnisvolles Doppelleben geführt wurde, dass man, wenn man »beim Italiener« aß, sich bei der Mafia verköstigte. Das Staunen war selbst ein Ereignis von kultureller Dimension und schuf Prägungen. Sie reichten bis weit über den kulinarischen Bereich hinaus, möblierten für die sich ankündigenden Menschen aus aller Herren Länder schon mal die gute Stube und brachten durch gedanklichen Vorgriff für die kommenden Widersprüche die alten Begriffe in Stellung.

Auf eine »Mauer des Schweigens« stoßen die Kommissare in Tatort, dessen Existenzgrundlage es ist, dass hinter allem etwas anderes steckt, andernfalls käme auch kein Krimi zustande. Würden sich die Ermittelnden bereits beim ersten NSU-Mord in Abwandlung des uralten Witzes über den bayerischen Biologieunterricht – »Sieht aus wie ein Eichhörnchen, wird aber wohl das liebe Jesulein sein« – sagen, »sieht aus wie ein Nazi-Mord und wird auch einer sein«, die Mordserie wäre recht bald an ihr Ende gelangt. Dass sie es nicht sagen können, liegt nicht an der Komplexität des Falles wie in einem guten Film, vielmehr an der mangelnden Wirklichkeit der personae dramatis, sind die Opfer doch nicht in die persönliche Erfahrung der Hiesigen, die Täter aber nicht in die gesellschaftliche Wahrnehmung eben dieser Hiesigen gelangt. Beide Seiten zusammengenommen, bleibt für einen unentstellten gesellschaftlichen Zugang nicht viel übrig. Dass Hinweise auf Zweck und Absicht der Morde, die die Ermittler unfehlbar auf die Spur der Verursacher bringen würden, gleichzeitig vermisst und verleugnet werden, lädt stattdessen zur Mobilisierung jenes harmloseren Arsenals von Stereotypen ein, das die Opferseite unfreiwillig beisteuert. Deren Plausibilität ist nicht nur deshalb schwer zu entkräften, weil sie als das gemeinsame Substrat von Tätern, Ermittlern und Öffentlichkeit die gesellschaftliche Wirklichkeit repräsentieren, das, woran alle glauben und was sie alle erlebt haben. Wie soll es falsch sein? Als ein entlastendes Ersatzbild für die verdrängten nazistischen Anteile, in denen Vergangenheit und Gegenwart sich ihrerseits verschränken, haben sie auch eine übergeordnete Funktion. Um auf einen grünen Zweig zu kommen, müsste deren Macht erst einmal gebrochen werden. Es hieße, eine Wahrnehmung anzupeilen, die das, »was nicht sein kann«, ersetzt durch ein systematisches »Was ist«, begleitet vom tröstlichen Wissen, dass Erkennen ja nicht Mitmachen heißt – und verstehen nicht gutheißen. So würde man der Konjunktur des furchtsamen Aufdeckens ein Ende bereiten und überdies der triumphierenden Entlarvung einen Ausweg aus der Wiederholung bieten.


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt32.html.

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