Ilse Bindseil
In einer nach Thema und Beteiligten ungefilterten Gesprächssituation ein linkes Argument rüberzubringen, ist nicht so einfach. Wer sich mit allen über alles unterhalten können will, merkt sehr bald, wie der Orientierung an Wahrheit und Vollständigkeit das Bedürfnis nach Alltag und Anwendbarkeit, auch das emotionale nach Einigkeit, Einstimmigkeit in die Quere kommt. Im Kalauer ausgedrückt: Je weniger links ein Argument ist, desto überzeugender bringt man es rüber. So ist beispielsweise die als sozialdemokratisch eingeordnete Forderung nach Erhöhung des Mindestlohns, nach Mietbegrenzung und kostenlosem Kitabesuch unmittelbar einsichtig und aufs Nächstliegende fokussiert, aber nicht eigentlich links. Man kann sich leicht auf sie einigen, aber das linke Bewusstsein hat nichts davon. Die sozialistische Forderung nach Reichensteuer und Enteignung ist dagegen eindeutig links, weckt aber wegen des in ihr enthaltenen Elements der Systemüberschreitung ein Misstrauen, das sich am formalen Element der Überschreitung, nicht am je einzelnen Inhalt misst und aus diesem Grund als echte Barriere fungiert. Mehr ein Vermögen als ein Inhalt, als unabdingbare Forderung aber stets mit einem inhaltlichen Selbstbezug, verkörpert das Intellektuelle diese Barriere. Es steht für ein Anderes, das abgewehrt werden muss, weil es das Gewohnte nicht bloß infrage stellt − da könnte man ja »drüber reden« −, sondern als das Eigentliche begrüßt werden möchte; in dieser Doppelung macht es sich zum Feind. Zugleich wirkt es befremdlich ungelenk, in seiner Abgehobenheit sonderbar, mehr abgespalten als spaltend. »Was redet der?« Die Frage zielt wie auf ein Fremdsprachliches. Sie zielt auf die Form. Am wenigsten fragt sie nach dem Was. Alle Schuld wälzt sie auf den »Klugscheißer«, der, wenn er sich gemein machen wollte, sich »wie wir« oder in »unserer Sprache« ausdrücken müsste. Dass er sich nur in seiner Sprache ausdrücken kann, macht ausgerechnet ihn, den Statthalter des Allgemeinen, zum Sonderling. Dabei erschreckt vor allem die Treffsicherheit, mit der das Abstrakte an einer Äußerung ausgemacht wird, ist doch der Spürhund, die Wünschelrute nicht effektiver als das von Rühmkorf so genannte Volksvermögen, wenn es darum geht, aus dem zusammengemengten Argument das Intellektuelle zu erspüren. Diese Treffsicherheit erscheint in der Tat merkwürdig. Es ist, als wehre sich der Instinkt gegen den Verstand, das Normale gegen das Perverse, das Lebendige gegen das Tote. Der Grund kann aber nur in der eigenen, nach den Bedürfnissen des Einzelnen umgeformten und in seine Grenzen gebannten Abstraktheit gesucht werden. Denn für ein wahrhaft Unmittelbares würde das Abstrakte, wie es in der Sprache der Verhaltensforschung heißt, weder als Konkurrent noch als Beute »erkannt«.
Ein als Instinkt drapiertes System ist allemal ein befremdliches Gegenüber. Wie soll man mit ihm umgehen? Wie ihm Rechnung tragen? Was es zu verteidigen hat, ist leichter zu beantworten. Identität scheint eine hohle, Aufwandsersparnis eine konkretere Lösung. Dass man nicht »ständig alles in Frage stellen« muss. Dass man am Tag des Herrn in die Kirche gehen kann und sich nicht fragen muss, was fange ich mit dem Sonntag an? Dass man in die Kirche gehen kann und nicht über Religion nachdenken muss. »Als hätte man nicht genug zu tun!« Dass man nicht über Religion nachdenken und zu einer Entscheidung kommen muss, ob man noch länger in die Kirche geht… Nicht bloß um eine funktionelle Ersparnis, sondern um eine sinnreiche Verknüpfung des Kleinen, das man selbst, mit dem Großen, das die Welt oder die Wirklichkeit ist, geht es. Aber wie kann jemand sich erdreisten, als Kleiner mit einem Verstand zu punkten, der ihm im Großen begegnet, als Ganzes in einer Form, sei es die des sakralen Baus, der persönlichen Herrschaft oder des bürokratischen Dschungels! Dass der Intellekt die urtümliche Form des Allgemeinen in jedem Einzelnen ist, das erscheint absurd und es ist absurd. Zwar ist er das Allgemeine und es ist in jedem Einzelnen, aber alles andere als urtümlich.
Ob man einem als Instinkt drapierten System Rechnung tragen kann, hängt vermutlich von der Bereitschaft ab, sich die erfahrene Ablehnung für die Kritik der eigenen Position zunutze zu machen, um die Entfremdung darin, die angemaßte Sprecherrolle oder Sprachrohrfunktion zu erkennen. Um eine doppelte Verlagerung geht es dabei, weg vom proklamierten Wissen hin zur Frage des Umgangs mit ihm. Ein Moment von Kontingenz ist am Werk, das sich mit dem Instinkt vergleichen lässt und durch einen Paradigmenwechsel aufgeklärt werden muss. Mitteilung oder Erzählung liefern das klassische Format, in dem das Allgemeine im Einzelnen erlebt werden kann, ohne dass Wahrheit sich in Ideologie verkehrt. Wer, anstatt Weisheiten »von sich zu geben«, von seiner Konfrontation mit ihnen berichtet, macht die weltanschaulichen Gegner zu Teilnehmern am Nachdenkprozess. Er zieht sie in den Vorgang hinein, mit dem sie am allerwenigsten zu tun haben wollen. So können sie ihren Teil an Arbeit und Verantwortung auf sich nehmen, spüren, wie es ist, gegen sich selbst zu denken. Wer bereit ist, die erfahrene Abneigung der andern für die detaillierte Bearbeitung der eigenen Anmaßung zu nutzen, kommt voran. Auch wenn allein schon die Richtung seines Nachdenkens mit seinen ursprünglichen Träumen, wenn sie denn auf »Herrschaft im Geiste«, zielten, nichts zu tun hat, so enthält das Ergebnis doch Aufregendes, ungeschönte Einsicht in die eigene Person, und lohnt sich.
* ↑ Siehe Ideolotterie. Ein Rückblick und ein Vorschlag (2024).
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt39.html.
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