Ilse Bindseil
Gedacht bloß als eine Persiflage auf KI, die Allgegenwart der künstlichen Intelligenz, überhaupt die Durchsetzungsfähigkeit, auch den − man kann auf deutsche Schlagwörter zurückgreifen – »Alleinvertretungsanspruch« von Themen, die sich auf die Tagesordnung setzen, hatte »Körper innen«* von Anfang an ein Moment von Betroffenheit, von peinlicher Nötigung: Wie konnte es sein, dass ich auf ein Allerweltsthema wie KI das Innerste nach außen kehrte! Dabei war ich nur nach der Regel der freien Assoziation gegangen und auf die Frage, was mir zu KI einfällt, war mir, der Buchstabenfolge entsprechend, »Körper innen« eingefallen.
Die Assoziation war das eine, die Analyse das andere. Es ist nicht das Innerste, hatte ich mir gesagt, es ist bloß das Innere des Körpers, und mich an die Arbeit gemacht. Hier ihre Fortsetzung.
In der ersten Staffel der Fernsehserie »Delhi Crime« (2019), in der Richie Mehta einen der spektakulärsten indischen Kriminalfälle rekonstruiert und in Szene setzt, wird ein junges Mädchen, das mit seinem Freund im Bus unterwegs nach Hause ist, Opfer einer Gruppenvergewaltigung, an deren Folgen sie stirbt, nicht ohne zu Protokoll gegeben und mit ihrer Unterschrift beglaubigt zu haben, was man ihr angetan hatte. Da sie von ihrem Körper wie abgekoppelt, nur noch Gesicht und Stimme und natürlich Erinnerung ist, tut sie es in der denkbar neutralsten Weise, als Zeugin.
Angesichts des erratischen, von einer schier unbegreiflichen Zerstörungswut geprägten Verbrechens sticht das Moment von wie immer zufälligem Sinn und Zusammenhang befremdlich heraus und muss als solches erwähnt werden, bevor es beiseite getan wird, hat die Tat doch auf irgendeine Weise mit den Umarmungen der jungen Frau und ihres Freundes, den als schamlos und vielleicht auch erregend empfundenen Zärtlichkeiten im leeren Bus zu tun, verdankt sich also nicht nur ganz allgemein der prekären Verfassung der Moral, sondern auch konkret einem aufgenötigten Voyeurismus, sprich Eifersucht und Neid. Was sich daraus ergab, folgte einer eigenen Logik. Mit der Primitivität des Verbrechens kontrastieren die diversifizierten, allein in einer gewissenhaften Aufzählung zu erfassenden Zerstörungen am Körper der Frau. Wie in einer Litanei müssen sie einzeln genannt werden und wie in einer Litanei werden Nachrichten aus dem Inneren einer unbekannten Körperwelt geliefert, Nahe- und Fernerliegendes wird zueinander geführt, Vertrautes und Befremdliches, Zusammenhängendes und Unzusammenhängendes, innen und außen, schlimmer noch: unten und oben. Es sind news, die sich zu keinem Bild formen wollen. »Ich weiß nicht, was sie da rausrissen«, sagt die junge Frau am Schluss. Ich kann sie trösten: Wir wüssten es auch nicht. »Sie schlugen …, sie stießen …, sie haben mir …«, sagt sie gleich in der ersten Aussage, mit ihrer eigenen Litanei anhebend. »Ich glaube, sie haben mir das Fleisch von innen herausgerissen.« Und in der Mitteilung an die Familie: »Es tut so weh.«
Wer wem auch immer vom Geschehenen Mitteilung machen muss, verfällt von selbst in diese nicht abzukürzende Aufzählung, und kein Ende ist, bevor nicht auch jene Verletzungen genannt sind, die mit den weiblichen Organen am wenigsten zu tun haben, mit umso größerer Sicherheit aber zum Tod führen werden. Niemand hört es sich freiwillig an, aber alle wollen sie wissen, was in einem Land, in dem Gruppenvergewaltigung nicht unbekannt sind, diesen Fall so besonders macht: Es ist das »Teuflische«, wie die abgehärtete Kommissarin sagt, das alle Vorstellung sprengt, verübt wie stets von Menschen, denen das Dämonische durchaus abgeht, in deren eher kläglichem Format das Ungeheuerliche gar nicht unterzubringen ist, es sei denn, man macht eine Ausnahme mit dem schmächtigen Anführer, in dem der Hass brennt.
* ↑ Siehe den ersten Teil in Ästhetik & Kommunikation 192/193: »My Year without a Nose«, Sommer 2024, S. 201/202.
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt40.html.
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