Ilse Bindseil

Kung-Fu Master

Erzählung

Er hatte, von ein paar Fotos und einigen seichten Texten abgesehen, nichts Einschlägiges studiert. Gar nicht mal jung, was den Zeitpunkt des Einstiegs betraf, reagierte sein Körper beim ersten Kontakt. Die Arme führten die seltsam schrägen Bewegungen aus, so als gäbe es Hilfslinien im leeren Raum. Die Beine glitten wie auf einer Eisfläche auseinander und machten nicht halt, bis auch der heikelste Teil des Körpers im festen Spagat auf den groben Planken aufruhte. Was ihm an ausgefeilter Technik fehlen mochte – oder vielmehr an den Drangsalen blindwütigen Trainings in einem Alter, wo man noch nichts durchschaut –, das wurde ihm durch ein intuitives Verständnis geschenkt, auch durch den klassischen Körperbau, hatte er doch griechisch geformte Füße mit hochgewölbtem Spann und mageren Zehen, die ihre Greiffähigkeit noch nicht verloren hatten. Seine breiten Hände verstanden zu schieben – drücken konnte jeder –, die kurzen Finger mit den winzigen Nägeln verwandelten sich bei Bedarf in Klauen. Freilich sah es nicht hübsch aus, wenn er nur einen Finger, noch weniger, von dem nur ein Glied krümmte, oder jedenfalls nicht menschlich. Sowenig die Zehen zu gestaltlosen Anhängseln eines Körperteils mutiert waren, der zum Halten und Stehen bestimmt war, sowenig hatten die Hände sich vergeistigt. »Er wehrte sich mit Händen und Füßen«: das Allerweltswort traf auf ihn nicht zu, oder wenn, dann in der raumschaffenden Weise des leichtfüßigen Gottes, der die Welt ausstampft, nicht in ihr herumtrampelt.

Wofür andere jahrelang trainierten, körperliches Terrain wiederzugewinnen, darüber konnte er mit Selbstverständlichkeit verfügen. Es wäre ihm nie eingefallen, bestimmte Teile seines Körpers geringzuachten oder sie erst dann zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie versagten. Der Bauch seiner frühen Jahre, wegen dem er »Opa« gerufen wurde, war so fraglos seiner wie das Fehlen einer bestimmten Kerbe am verlängerten Rücken. Sein Rücken und sein Po bildeten eine Einheit, was speziell die weibliche Bekanntschaft befremdete, wußten sie doch nicht, ob sie es nicht mit einem Cromagnon-Menschen zu tun hatten, einem Primaten, einem – Silberrücken. Daß Buddha mit seinem Bauch dachte, wunderte ihn kein bißchen. Er kämpfte mit seinem Bauch, tanzte mit dem Bauch, schwebte mit dem Bauch und, selbstverständlich, in seinen allnächtlichen Träumen vom Fliegen flog er auch mit seinem Bauch, oder nur weil sein Bauch flog, flog er! Als er nach einer – so schien es im Rückblick – paradiesischen Jugend zuerst auf den umzäunten Bolzplätzen seines Kiezes, später auf den Schotter- und Kunstrasenplätzen der ganzen Stadt schließlich bei einer esoterisch angehauchten Kampf- und Bewegungskunst landete, ging für ihn mehr zu Ende als nur ein Freizeitvergnügen. Mit ironischer Wehmut dachte er an die Vertreter der großen Vereine zurück, die ihm zugeraunt hatten: »Faro, du bist ein Talent.« Er hatte den Sirenenklängen widerstanden. Um ehrlich zu sein, seine Lunge hatte es nicht gepackt. Als das Interesse sich von ihm abwandte, erholte sie sich prompt, und danach war er bei der Kampfkunst gelandet. Dabei war für ihn nichts so göttlich wie Fußball, und in keiner Verkleidung hatte er sich so wohlgefühlt (und die Kumpels ihn geliebt) wie in den breiten, kurzen Hosen und dem durchgeschwitzten Trikot; das klebte ihm förmlich am Leib und malte seine Brust ab, die ein wenig zart geraten war – ein Kummer für ihn, aber ein Entzücken für die Mädchen.

Wie kam es, daß sein Unabhängigkeitsbedürfnis und seine Eitelkeit vor den kargen Regeln des Kung-Fu kapitulierten? Daß er bereitwillig in den Sträflingsanzug schlüpfte und sich in jener armselig-nüchternen Fabriketage einnistete, die ihm, der in Hinterhöfen aufgewachsen war, keinerlei Exotik zu bieten hatte? Er hätte sich schon zu dem einen oder andern äußern können, war mit seiner Besessenheit doch eine neue Beredsamkeit, eine nie gekannte Deutungswut und Erklärungslust über ihn gekommen. (Auf diesem Umweg war wohl der Heilige Geist seiner urchristlichen Gemeinschaft in ihn gefahren.) Aber keine Erklärung der Welt konnte das Gewicht verringern, das die neue Bestimmung ihm aufgeladen hatte. Fußball blieb, was er selbst fälschlich als Passion bezeichnete. Kung-Fu dagegen war sein Schicksal.

In Momenten der Hellsichtigkeit, die sich häuften, seitdem er zwar nicht Einkommen und Milieu gewechselt hatte, aber das Gesetz seines Lebens, die Uhr, nach der es lief, kam er immer wieder auf einen Punkt von urtümlicher Peinlichkeit zurück. Man hätte ihn am liebsten überhört, und die Feder sträubt sich festzuhalten, was er äußerte. Es war nämlich so etwas wie, er habe wohl sein Leben lang auf einen Meister gewartet. Er sagte das mit einer gewissen Resignation, wie jemand, den ein Glück heimsucht. Hatte ihn nach Jahrzehnten westlicher Großstadtexistenz der Archaismus seiner Heimat eingeholt? Mußte er unbedingt zurück in die Fußtapfen von Abraham und seinem Gott? War er als Waisenkind zwischen den Röcken fremder Frauen verkümmert, süchtig nach einer beschützenden Faust? Keiner, der ihn hörte, wäre auf die Idee gekommen, daß er einen in allen Techniken des Zuschlagens bewanderten Vater besaß, jede Menge Brüder, zahllose Onkel, Cousins und Großcousins; eine Sippe also, aber keine Familie.

Wenn er deshalb einen Meister brauchte, dann hätte er besser einen anderen gefunden. Denn der Leiter der Kung-Fu-Schule war selbst ein Entwurzelter und der Traditionsfaden, an dem er hing, hauchdünn. Es hatte ihn aus Djakarta direkt in die westliche Großstadt verschlagen. Aus Not, weil er nirgendwo hingehörte, wurde er zum Gründer; weil er sich nicht unterordnen konnte, zum Vorbild. Faro glaubte zu wissen, was in ihm vorging, und dieses Verständnis bildete ein Band, das zäher war, als jede Bewunderung zustande bringen konnte. Darin war er den anderen Schülern überlegen, die wiederum ihn im Schwärmen übertrafen, aber den Meister von heute auf morgen »durchschauten« und sich von ihm lossagten, während Faros Treue von Tag zu Tag wuchs.

Weiß der Himmel, wo er lieben gelernt hatte! Sein Gedächtnis reichte nicht bis zu der entscheidenden Stelle zurück, und er hatte auch noch nie jemand so selbstlos und verständig wie den Meister geliebt, mit einem hohen Anteil an Philosophie und einer genügsamen Sehnsucht. »Ich kann es nicht erklären«, sagte er immer wieder, »aber es ist, als hätte ich auf ihn gewartet.« Sein Gesprächspartner wußte nicht, ob er über die Naivität lächeln sollte, mit der Faro sein Geständnis vorbrachte, oder sich grausen. Für Faro war sie ein Ausweis der eigenen Nichtigkeit; mit Jugend, meinte er, hatte es nichts zu tun. Dazu hatte er zu tiefe Falten auf der Stirn. Ja seine empfindsame Haut war wie eine einzige Falte, so sehr mangelte es ihr an der festen Beziehung zum Untergrund. Sie war so wenig verwurzelt, daß man sie mühelos abheben konnte. Er fühlte sich uralt. Aber in unergründlicher Treue zur Natur hatte sein Gesicht das Kindchenschema bewahrt. Die Augen waren ein einziger Appell, während der Körper seine verläßliche Kraft hinter den Konturen eines kleingeratenen Erwachsenen verbarg. Gern machte er den Clown, zog die weite Hose, vom Fehlen einer Taille inspiriert, bis zu den Achselhöhlen hinauf und stemmte die Partnerin, ein robustes Mädchen. Tastend erarbeitete er sich die Schülerrolle, während andere, die auch vom Meister lernen wollten, sich nicht genug beeilen konnten, es ihm gleichzutun. Sie setzten eine herrische Miene auf, wenn sie mit ihm redeten, und sparten ihrerseits nicht mit Rat, ja suchten förmlich nach Gelegenheiten, wo sie den Spieß umdrehen konnten. Auf den Erinnerungsfotos umringten sie den Meister, hochaufgeschossene, baumlange Kerle, und obwohl die Kraft seines gedrungenen Körpers das Medium zu sprengen drohte und den Betrachter irritierte, wirkte er, an diese fremde Meßlatte gelehnt, doch breit, alt und geistlos, so als wäre er weder von hier noch von heute, eher Tier als Mensch; am falschen Ort.

Nie trainierte Faro so unerbittlich und hochkonzentriert, wie wenn die andern sich ihm unentbehrlich machten und dafür sorgten, daß »der Laden lief«!

In der letzten Zeit war alles zusammengekommen, was den Meister mürbe und der Ergebenheit seiner Schüler gefügig machen konnte. Man könnte es polemisch auch so ausdrücken: Er war schwach geworden. Vor ihm türmten sich nicht nur die gleichen Probleme – Finanzprobleme, Eheprobleme, Lebensprobleme – wie vor jedem Europäer. Diese ganz gewöhnlichen europäischen Probleme kamen zu den asiatischen vielmehr hinzu. Er ächzte unter der Last seiner Stärke ebenso wie unter der seiner Sünden. Nachts ging er allein auf die Pirsch, saß auf Barhockern, die unter seiner massigen Gestalt verschwanden, und niemand traute sich, ihn anzusprechen. Wer ihn kannte, zog sich lautlos zurück. Was sich in solchen Nächten ereignete, war seine Sache, allenfalls noch die der Leute, mit denen er zu tun hatte, Angehörigen beiderlei Geschlechts, vorzugsweise des einen; denn er hatte der Gewalt abgeschworen. Tagsüber wurde er von Freunden und Beratern abgeschirmt, die ihm, dem asiatischen Rohdiamanten, mit Rat und Tat zur Seite standen und selbst den flachen Pfad der Tugend wandelten. Ihnen stellte er präzise Fragen technischer Art, die ihre Hilfsbereitschaft herausforderten und seine Privatsphäre schonten. (Wie hielt er das nur aus, fragte man sich, wenn man sie einmal probeweise zu einem Zusammenhang fügte, der freilich nicht seiner war. Wie konnte ein einzelner soviel ertragen?) Aber auch wenn er mit dem europäischen Streß anders umging als ein Europäer, zugleich ängstlicher und gleichgültiger, so hatten die Geheimratsecken sich in letzter Zeit doch unübersehbar gelichtet. Der Nacken duckte sich unter dem realen oder symbolischen Gewicht der Sorgen. Er bildete einen Wulst, ein Gebirge aus Muskeln und Kummer. Auch am schleppenden Gang des Meisters schälte sich immer deutlicher der Tiger heraus, dessen Stil, als Kampfkunst, er lehrte. Schlich er nicht wie dieser schläfrig lauernd umher, den Kopf zwischen den Schulterblättern, ein Symbol der Stärke auf dem Rückzug? In der Tat war ihm das Leben zunehmend zum Dschungel geworden. Dabei hatte er die Schule bereits verkleinert, verdingte sich seit Jahren nicht mehr für spektakuläre Auftritte, begnügte sich mit einer bescheideneren Adresse. Aber der Druck war dadurch nicht geringer geworden. Die Unterrichtsetage mit den abgeblätterten chinesischen Fresken und den störenden Pfeilern im Übungsraum, den stinkenden Abflüssen in den sanierungsbedürftigen Duschen war durch schwindelerregende Mieterhöhungen unbezahlbar geworden, der Ort durch Sanierungspläne und Verkaufsgerüchte bedroht. Die Existenz der Schule stand auf der Kippe. Sie zu retten überstieg alle Kraft der Welt, wenn nicht ein Ansatzpunkt gefunden wurde. Wer bloß stark war, mußte einsehen, daß er mit seiner Stärke nichts anfangen konnte. Er schleppte sie mit sich herum wie die Schnecke ihr Haus, tunlichst gerollt. (Er wurde sie einfach nicht los.)

Wer den Meister zum ersten Mal sah, stufte ihn reineweg als verbraucht ein. Waren die Schule und ihr Leiter nicht gleichermaßen grau? Aber niemand konnte sich der Wirkung seines kindlichen Lächelns entziehen, weder das Kind, das dem Meister am ersten Tag die Hand geben, noch der Erziehungsberechtigte, der den Vertrag – ein wahrhafter Knebelvertrag! – unterschreiben mußte, nicht der Heranwachsende, den es überwältigte, auch nicht der gestandene Schüler, für den es den Hintergrund seiner Existenz bildete. (Von den Kindern ging übrigens das Gerücht, daß sie sich vor Schreck in die Hose pinkelten, wenn sie zum ersten Mal den berühmten Anfeuerungsruf des Meisters hörten, daß eins aber, im blinden Versuch, sich zu retten, zum offenen Fenster der hochgelegenen Fabriketage gerannt war und hinausspringen wollte.) Dieses Lächeln machte süchtig. Wer es einmal gesehen hatte, unternahm alles mögliche, um es wieder zu erleben; natürlich auch Faro, der am Meister das Mißtrauen und die mürrische Natur des Tieres nicht weniger als das beseligende Lächeln des Kindes und dieses Lächeln also mit einem ganz anderen Anspruch liebte. Die andern folgten bloß dem Gesetz des Entweder-Oder und empfanden immer nur die Hälfte, Faros aufmerksamer Blick umfaßte das Starke und das Schwache. Zur Schwäche sagte sein Blick, ich weiß, wie stark du bist, und zur Stärke, wie schwach. Für sein Verständnis wurde er mit einem ganz besonderen Lächeln, manchmal auch mit einem ungeheuchelt wilden Blick aus den Augen des Tigers belohnt.

Obwohl der Meister ein Parallelogramm widerstreitender Kräfte bildete, bei dem alles alles in Schach hielt, kam es in seinem Leben zum Bruch. Einer hatte sich in prähistorischer Zeit ereignet, der andere vollzog sich unter den Augen der Schüler. Damals hatte man ihn ins Gefängnis gesteckt, gewiß nicht für nichts, und hinterher war jenes Parallelogramm entstanden. Auch wenn es eine im physikalischen Sinn beklemmende Wirkung entfaltete, wagte niemand es in Frage zu stellen, und schon gar nicht hätte man erwartet, daß es von heute auf morgen zerfallen könnte (auch daß es zerfiel, ohne daß die Welt davon einstürzte). Dann trennte der Meister sich binnen weniger Tage sowohl von seinem Stellvertreter als auch von seiner Frau und zog von zu Hause aus. Nur seine Schule behielt er, in der sie die buchhalterische, der andere die sportliche und er selbst die geistige Verantwortung innegehabt hatte. Aber anstatt daß nun alles zusammenstürzte, entwickelte er ungeahnte Fähigkeiten, ein ganz neues Bewußtsein seiner Verantwortung und trat aus dem Nebel einer legendären Erscheinung heraus. Er kümmerte sich jetzt eigenhändig um den Ablauf, ja entwickelte sogar Projekte, die den sportlichen Bezug nicht ohne weiteres, um so deutlicher seine Ideen erkennen ließen. Die Macht delegierte er fortan nicht nur an einen, der ihm den Schneid abkaufte, sondern an viele und machte den Verlust an Ausstrahlung, den das Verschwinden des vom Kung-Fu besessenen Stellvertreters für die Schule bedeutete, durch eine Vervielfachung des Engagements wett, gleichsam eine Demokratisierung der Zuständigkeiten, die in dem exotischen Zusammenhang ihren Eindruck nicht verfehlte. Er selbst war mehr denn je präsent. Dabei war er nicht nur rührend pingelig und hielt sich bei Unwichtigem auf, auch das Charisma, das er leichtfertig abgetreten hatte, kehrte nach einer Zeit der ängstlichen Besorgnis und inneren Leere an seinen angestammten Platz, zu seinem rechtmäßigen Träger zurück.

Über den Weggang des Stellvertreters wurde nicht öffentlich geredet. Unerfreuliche Gerüchte machten freilich die Runde. Vorsichtig ausgedrückt, handelte es sich um einen Fall von überzogener Verehrung mit übertriebenem Anspruch – auf Fehlerlosigkeit, moralische Makellosigkeit und so weiter –, also um eine Enttäuschung. Was das Häusliche betraf, so war man immer davon ausgegangen, daß es eine Ehre war, die Frau des Meisters zu sein, zumal für eine Deutsche; jetzt hieß es, sie habe ihn vor die Tür gesetzt. Daß es kriselte, hatte der Meister gelegentlich angedeutet, indem er die Schüler ermahnte, an ihren Beziehungen zu arbeiten, achtsam zu sein, nicht nur beim Training. Nichts weniger als weise, hatten sie daraus geschlossen, daß er alles im Griff hatte. Als sie merkten, daß der Meister die Rechnungen eigenhändig abzeichnete, fiel ihnen auch die neue Telefonnummer auf; da er fast immer in der Schule war, mußten sie ihn kaum noch anrufen. Dann nahm er in aller Stille eine neue Frau, und auch darüber wurde eher geschwiegen.

Wahrscheinlich hatte der Meister die Ehe bei seinen Reisen nach Hause angebahnt, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten, und die Frau bei seiner letzten Reise schließlich geholt. Deutsch sprach sie fast gar nicht, fürs Geschäft konnte man nicht viel von ihr erwarten. Sie war jung, aber, wie Faro mit fachmännischem Blick feststellte, in mancher Hinsicht älter als ihr Mann, ohne kindische Erwartung und wie von Natur erwachsen, keineswegs ein Mädchen. Sie war schön. Ihr Mann rief sie mit einem Namen, der so klang wie Bandaranaike.

Für Faro war sie kein Thema. Er machte Kung-Fu.

Von seinem Können hatte er übrigens eine recht genaue Vorstellung. Daß man sich einschätzte, gehörte seiner Ansicht nach zum Übungspensum dazu, und deshalb meditierte er ja auch, obwohl der Meister hierzu wenig beisteuerte. Aber gegenüber der Öffentlichkeit konnte er sein Talent nicht vertreten, er hielt der Bewunderung nicht stand. Zwar träumte er sich stets auf einer Bühne und holte dank dieser Vorstellung selbst beim gewöhnlichen Training noch das Letzte aus sich heraus. Aber während er einen kerzengeraden Tritt gegen den Kehlkopf seines vorgestellten Gegners ausführte, ging er innerlich in die Knie. Er litt an diesem Widerspruch und hielt es für eine originelle Lösung, so zu tun, als wenn er allein wäre, und sich um die leuchtenden Blicke der Anfänger, die scheelen der Konkurrenten nicht zu kümmern. Da er sich gleichzeitig aber in den Lichtkegel einer dunklen Bühne dachte, bekamen seine Bewegungen etwas Kindlich-Heroisches, seine Anstrengungen etwas Tänzerisch-Sublimiertes und Verzweifelt-Geistiges, so als wäre er nicht Schüler einer Kung-Fu-Schule im zweiten Hinterhof eines deutschen Fabrikgebäudes, sondern kämpfte gegen Drachen und Dämonen; als jugendlicher Star der Pekingoper zum Beispiel. Sein fortwährender Kampf gegen fremde Einwirkung machte beklommen. Die stumme Forderung, ihn in Ruhe zu lassen und nicht zu stören – ihn zu verschonen! –, rührte. Auch die junge, importierte Ehefrau des Meisters konnte sich dem Ansturm der Botschaften nicht entziehen. Sie war übrigens von jener ganz und gar fernöstlichen Schönheit, die das Zarte und das Stabile perfekt vereinigte und jeden Hinweis darauf verweigerte, ob ihre Hand in der Heimat eher den Stock oder den Pinsel geführt hatte; vermutlich den Fächer. Ihre Hände waren klein und gepolstert. Die runden Arme ließen Muskeln erkennen. Ihr Teint war delikat. Die Backenknochen ließen dagegen einen gesunden Eigensinn erkennen. Für europäische Augen war es schwer zu entscheiden, ob sie mehr dem Chinesischen, dem Japanischen oder dem Thailändischen zuneigte. Aber jeder dachte bei ihrem Anblick an Kirschblüten und duftigen Schnee (oder an Mangos und frische Bananen). Es ging die Rede, der Meister hätte sie gekauft. Aber das war pure Sensationslust, Schülerromantik.

Indem er sie holte, hatte ihr Mann seiner Sehnsucht ein für allemal Ausdruck gegeben. Er war zwar kein Jüngling mehr, aber nach wie vor geschmeidig und in der Lage, seinen Besitz zu verteidigen. Niemand sollte sich täuschen und seine Unruhe mit Unstetigkeit verwechseln, so als wollte er nicht nur, sondern könnte auch nichts festhalten. Etwas Unberechenbares haftete ihm an, als vermißte er den Krieg und der Friede wäre nichts als ein klebriger Bonbon, geeignet, Kinder zu trösten, nicht Meister zu beschäftigen. Er hatte seine Jugend nicht vergeudet und durfte deshalb alt sein, zumal er seinen schwer gewordenen Körper mit Leichtigkeit regierte. Rechtzeitig hatte er sich vom Wettkampf verabschiedet und sich dem Denken zugewandt. Er predigte Einsicht (nicht Einkehr!), forschte nach den Grundbedingungen des Zusammenlebens (nicht nach dem Sinn des Lebens!) und brach eine Lanze für die Weisheit. Auf diesem Gebiet war er beileibe nicht vollkommen – das wäre ja auch nicht weise gewesen –, aber ohne Konkurrenz unter den jungen Leuten, die ihre Kräfte messen wollten. Zwar war er beileibe nicht der einzige unter den Meistern, der gewalttätig anfing und fromm aufhörte. In den alten Schriften kamen andere gar nicht vor; man mußte schon an Kausalität denken. Er kannte aber keine alten Schriften, und außerdem war er ein Entwurzelter. In Indonesien hatte er im Gefängnis gesessen, diese Episode hatte ihn geprägt. Sie hatte ihn zu einer anderen Auffassung über Nutz und Frommen der Kraft gebracht. (Kein Wunder, das war kein Arrest gewesen.) Man kann auch sagen, er hatte die eigene Stärke überwunden. (Die Unruhe war ihm freilich geblieben.) Später, in Europa, hatte er in der Schule einen Ort gefunden, wo er Gewalt andeuten konnte, statt sie anzuwenden, und über sie reden, statt sie zu gebrauchen. Mit Begeisterung engagierte er sich in Resozialisierungsprojekten jugendlicher Krimineller und verbreitete sich über das Geheimnis einer friedvollen Stärke. »Paß auf«, sagte er und schnellte herum, wobei er den Arm des Gegners mitnahm, so daß dieser sich schmerzhaft drehte. »Dann kann er nichts machen«, setzte er hinzu und lächelte sein kindliches Lächeln. »Dann kann er nichts mehr machen«, lachte er, glücklich, weil er die Gewalt gebannt hatte; auch die eigene. Am liebsten lehrte er seine Kunst die Jugendlichen von der Straße, in ihnen erkannte er sich wieder. Nur ganz wenige Regeln, lehrte er sie, waren wirklich wichtig, kaum mehr als eine. Die wichtigste hieß: Laß dich nicht demontieren. Seine persönliche: Geh nie wieder in den Knast. Die verriet er, wenn sie unter sich waren, daß heißt nur die Kids und er. Aber auch sie kam bei ihm erst an zweiter Stelle, und es mochte folglich passieren, daß er sich erst hinterher an sie erinnerte; aber dann hatte er wenigstens die erste befolgt. Was er den jüngeren Kindern predigte, klang harmloser und lief doch auf das gleiche hinaus. »Laßt euch auf nichts ein«, sagte er. (Nie hätte er gesagt: Gebt nach!) Er hielt seinen Arm schräg vor das Gesicht und blinzelte vergnügt durch die Finger. Gegen ihre Schulhofneigung beschlossen sie, stark zu sein und sich nicht zu prügeln.

Was fehlte ihm also, das die junge Frau begehren konnte?

Sie hielt sich jetzt öfter am Tresen auf, kassierte die Beiträge und quittierte (drückte den Stempel in die Mitgliederausweise und machte ein Häkchen). Da sah man, daß sie alles andere als eine Zuckerpuppe war, und man merkte ihr sogar eine gewisse Ernsthaftigkeit an, ein Interesse am trockenen Geschäft. Von ihrem zugigen Platz hatte sie einen perfekten Blick auf den Übungsraum hinter der Glasscheibe, von wo die Kommandos ihres Mannes gedämpft zu ihr herausdrangen. Sie sah ihn von einem Schüler zum nächsten schlendern, hier einen sparsamen Rat geben, dort einen Scheinangriff parieren. Wo er vorüberkam, fuhr die Aufregung in die trägen Glieder, und das sah manchmal so komisch aus, daß er, nur um nicht zu lachen, die Miene zu einer grotesken Grimasse verzog. Spott war in seiner Heimat ein harmloses Vergnügen, hier in Deutschland aber persönlich und kränkend, was er ebenfalls zum Lachen fand. Aber beleidigen wollte er niemand, am allerwenigsten seine Schüler, sich lieber selbst lächerlich machen.

Ihr Blick schweifte zu den Fortgeschrittenen hinüber. Sie kamen langsamer voran als die Anfänger, die es nach Abwechslung verlangte, am langsamsten gewiß Faro, der – in einer höchst uneigennützigen Weise mit sich selbst beschäftigt – den Rücken über das gestreckte Bein beugte und sein Seelenheil in Millimetern suchte, während die andern bereits dem ›freien Kampf‹ entgegenfieberten, Angriff und Block probten und asiatische Kampfschreie ausstießen.

Bandaranaikes Herz klopfte beim Anblick dieses, wie ihr schien, verzweifelten Bemühens um ein bißchen Können. Wollte er seinem Körper Leben einhauchen? Es ihm austreiben? Während der Saal von den Sprüngen, Tritten, Schreien widerhallte, rang er still und unnachgiebig mit seinen Sehnen und geriet dabei in ein solches Schweigen, daß sie unwillkürlich meinte, sie müßte zu ihm eilen und ihm beistehen, sie, die Einsame dem Einsamen! Was er suchte, um welche Vollkommenheit er sich bemühte, das war ihr unbekannt, aber nicht rätselhaft. So sehr schien er ihr durch Hingabe geschwächt, daß sie ihm ihre Stimme, ihre Stärke oder Seele, ja, selbst die Kraft ihrer Arme hätte leihen mögen, ihm Flügel anheften und den Schweiß abtupfen, kurz all die zarten Tätigkeiten für ihn ausüben, die ein festes Herz voraussetzten, sich so an dem göttlichen Werk beteiligend.

Es blieb nicht aus, daß auch die andern guckten, sogar der Meister warf einen undefinierbaren Blick zu seinem Schüler hinüber, war es doch nicht alltäglich, daß jemand mehr an seinen Möglichkeiten als an seinem Programm feilte, jedenfalls in Deutschland. Je deutlicher Faro die Blicke spürte, desto tiefer ließ er sich in die Konzentration fallen, und die Bilder von Bühnenglanz und Scheinwerfer-Einsamkeit polterten hinter ihm her. Um die Zudringlichkeit abzuwehren, riskierte er seinerseits einen Blick so voller Verzweiflung, ja an Haß grenzend, daß Bandaranaike aus ihrer Betrachtung aufgestört wurde.

Was fand sie an dem Jungen? Sie hatte alles, und es traf auch nicht zu, daß ihr Mann alt war. Aber Faro suchte etwas, und genau das fehlte ihr, und sie vermißte es ebenso bei ihrem Mann, der ja sie hatte, und sie hatte ihn. Wenn sie die Sache noch genauer aufdröseln wollte, mußte sie zu dem Schluß kommen, daß sie nicht das Alles ihres Mannes war – dafür hatte er einfach zu viele Seiten – und daß deshalb auch ihr etwas Entscheidendes mangelte. Was wiederum Faro fehlte, das hätte er, je nach Gemütslage, als Vollkommenheit oder inneren Halt bezeichnet; sie dagegen als die Liebe einer Frau. Daß aber ihrem Mann nichts fehlte – sie korrigierte den Gedanken noch ganz ohne Arg –, lag weniger an ihr als vielmehr daran, daß er ja der Meister war (und genau das war sein entscheidender Mangel).

Ein andermal sah sie die beiden im Gespräch. Obwohl beinahe so groß wie der Meister und von Statur ebenfalls recht stabil, wirkte Faro in dessen körperlicher Nähe so zart, daß man nur auf die Beißhemmung des stärkeren Männchens hoffen konnte; zugleich ungewöhnlich tapfer (und dabei hatte er doch gar nichts geleistet). Da Bandaranaike die Unterhaltung wegen der trennenden Scheibe nicht hören konnte, wurde sie für das unterschwellig Bedrohliche der harmlosen Szene empfänglich. So sah sie, daß Faro im Bemühen, dem Meister nicht zu nahe zu treten, in seinem Anzug förmlich versank, daß über sein vom Training gerötetes Gesicht eine respektvolle Blässe huschte, unter der die schmalen Wangen vollends hohl wurden, daß überhaupt die verheißungsvollen Merkmale der Jugend verschwanden und nur die armseligen übrigblieben, der magere Hals, ein hervorspringender Adamsapfel, die hängenden Arme.

Zweifellos war Faros Respekt eine Form von Hingabe, aber von Zügellosigkeit und Unterwerfung gleich weit entfernt. Daß er dem Meister die nackte Kehle bot, muß Bandaranaikes überhitzter Vorstellung zugeschrieben werden. Wahrhaftig, für einen Moment erschien ihr ihr Mann als die massige, bis in die alternden Züge hinein verwüstete Gestalt des Bösen. Aber kaum hatte sie sich gefangen, hatte sie auch für die unbewußte Intimität der Beziehung ein offenes Auge. Wie die beiden da standen und miteinander redeten, schienen sie ihr gleichermaßen nahe. In die eheliche Vertrautheit schloß sie Faro unwillkürlich ein und versäumte es auf diese Weise, den rettenden Unterschied zu bewahren.

Das mit dem Bösen war natürlich ein gefährlicher Unsinn, gab es doch keinen sanfteren Menschen als den Meister, und kein Lächeln war kindlicher als seins. Aber Bandaranaike hatte bereits den Blick der Ehebrecherin. Was hatte sie davon, daß ihr Mann herzensgut war, wenn er über dem, was sie mit ihm vorhatte, bösartig würde! Und was Faro von seiner Nachsicht, wenn er bei der ersten Gelegenheit, wo er ihrer bedurfte, sich als sein mörderischer Gegner entpuppte. Was nutzte seine Gelassenheit und altorientalische Fasson, wenn er bei der einzigen Probe versagte, auf die ein Mann gestellt werden konnte? (Aber vielleicht hieß »altorientalisch« ja genau das, bei der einzigen Probe, die es galt, überhaupt noch ausrasten zu können.) Was waren Weisheit, Alter, Freundlichkeit wert, wenn sie sich nicht in der Ausnahme bewährten? Wahrhaftig, im allerersten Augenblick konnte Bandaranaike an ihrem Mann kein gutes Haar mehr entdecken.

Während sie sich so in Gedanken von ihm entfernte, kam er zu ihr heraus, den Schüler im Schlepptau.

Faro wird die Montagsgruppe trainieren, sagte er statt einer Vorstellung. Bevor es Bandaranaike zu Bewußtsein kam, daß die gewohnte Nähe ihres Mannes, seine vertraute Anrede alles, was sie über ihn und Faro zusammenphantasiert hatte, ins Reich der Spinnerei verwies, hatte Faro, ganz ungewohnt aus sich herausgehend, ihr schon die Hand hingestreckt, eine breite, männliche Hand, die beherzt ergriffen und fest gedrückt werden wollte. Beruhigt durch den freimütigen Kontakt, glitt sein Blick die kräftigen Arme hinauf und blieb in offener Bewunderung bei ihrem Gesicht hängen. Er hatte soeben beschlossen, sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig zu erweisen, kein Schlappschwanz zu sein und seinen Mann zu stehen. So voller Zuversicht war er, daß er seine enge Erziehung und was an Lähmendem von ihr ausging, abschüttelte und der jungen Frau seines Meisters so begegnete, wie man es von ihm erwarten durfte, gewissermaßen von Mann zu Mann, auch wenn sich in die Empfindung anderes, aber durchaus nicht Beunruhigendes mischte; denn war es nicht natürlich, daß er sie hübsch fand, ach, was sagte er, überirdisch schön? Ihr kam seine Offenheit dagegen wie ein Geständnis vor, daß er sie belauscht hatte, und sie errötete; auch weil er nicht ganz so war, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, sondern irgendwie – männlich.

Später, als das Undenkbare passierte, das Stumme, für das es keine Sprache und zu dem es keinen Übergang gab, da stellte sich heraus, daß es dort stattgefunden hatte, wo Bandaranaike eine unerwartete Männlichkeit und Faro eine unerwartete Körperlichkeit spürte, sie also eine Männlichkeit, die Faro weiß Gott mit der Mehrzahl der Männer verband, und er eine Körperlichkeit, die Bandaranaike wohl oder übel mit dem Rest der Frauenwelt teilte. Das war ja ein Mann! staunte Bandaranaike, als er sie einmal unwillkürlich an sich drückte; aus Versehen war sie ihm zu nahe gekommen. Sie war eine Frau! staunte Faro, der merkte, wie sie reagierte, sie war erregt; und dabei hatte sie sich bloß zwischen Tresen und Wand durchmogeln wollen. Eine kindische Sekunde lang glaubte sie, seine Männlichkeit wäre, nun ja, zu groß und würde ihr den Weg versperren. Daß er, der idealische Jüngling und geborene Schüler, ›ein Mann‹ war und sie, die unberührbare Gattin des Meisters, ›auch bloß eine Frau‹, dieses Wissen schmiedete sie stärker aneinander als irgendein geäußertes Vertrauen. Gegen die übrigen glaubten sie sich unter der Maske der gewohnten Rolle vollkommen abgeschirmt. Niemand würde begreifen, wie sie wirklich waren: wie alle andern. Ja, hätten die vertraute Umgebung und die eigene Gewohnheit ihnen nicht Zwang auferlegt, sie hätten sich vielleicht vor aller Augen geküßt, so sehr waren sie von der Unsichtbarkeit ihrer Liebe überzeugt (daß sie etwas prinzipiell anderes war, zugleich das, was genau so sein mußte). Sie merkten nicht, daß die Augen des Meisters auf ihnen ruhten, so als wäre er sich nicht im klaren, worauf er achtgeben sollte. Da sie Tag und Nacht zu tun hatten, ihre junge Liebe zu begreifen, hielten sie es für undenkbar, daß ein anderer es ihnen gleichtat, sie gar überholte, und sei es der Meister. Oder vielmehr, am wenigsten er, dem in ihrem Drama eine Rolle zugewiesen war, aus der er unmöglich ausbrechen konnte. Sie sah nicht vor, daß er ihnen rechtzeitig auf die Schliche kam. Entweder oder, sagten sie sich, und: Wer liebt, der siegt.

Aber noch liebten sie sich nicht. Zuerst mußte Bandaranaike ihrem künftigen Geliebten das Einmaleins der Liebe beibringen und ihm klarmachen, daß sie nicht eins waren, sie und der Meister. Das war nicht so einfach; denn Faro kam immer wieder mit der Eins. Er wäre ja auch nie auf die Idee gekommen, am Meister selbst Unterscheidungen vorzunehmen, etwa seine Stärke hervorzuheben, aber seine Technik schlechtzumachen; oder seine Erklärungen zu loben und ihm zugleich einfältiges Deutsch zu bescheinigen; meinetwegen auch seine Meisterschaft anzuerkennen, dafür das pädagogische Talent zu bestreiten, oder umgekehrt an seiner Meisterschaft zu zweifeln, aber seine Pädagogik und so weiter. Das alles ergab keinen Sinn und schuf künstlich Unordnung, um nicht zu sagen Zwietracht. Es zerriß den natürlichen Zusammenhang und bestätigte letztendlich nur, daß man nicht genug nachgedacht hatte (der Meister gar nicht und man selbst nicht genug), daß man sich noch in den Gleisen des Dilettantismus und der Kleingeisterei bewegte, kurz auf dem besten Weg war, das Vollkommene vollkommen zu entstellen.

Erst Bandaranaike schaffte es, zwischen Faro und den Meister einen Keil zu treiben und die Einheit, in der der Schüler dank seiner eigenen, von ihm selbst unbemerkten seelischen Größe mit ihm gelebt hatte, zu zerreißen. Daß sie nicht sein Besitz war, sondern eine selbständige Person, war die erste und fundamentale Lektion, die sie Faro lehrte. In langen scholastischen Debatten, die sie einander immer näher brachten, erläuterte er ihr umgekehrt, daß der Meister der Größte für ihn war, in all seiner Fehlbarkeit unantastbarer als Gott. Sie dagegen wiederholte, daß sie nicht dem Meister gehörte, sondern sich selbst. Sie konnte aus eigener Machtvollkommenheit lieben und wollte um ihrer selbst willen geliebt werden. Hier drohte das nächste Mißverständnis. Faro vermochte sich die dunkle Herausforderung noch nicht zu deuten, aber mit Bandaranaikes tatkräftiger Hilfe wollte er sich ihr gewachsen zeigen. Zuweilen flackerte Verwirrung in den Augen des jungen Mannes auf, so als spürte er, daß Dinge im Spiel waren, die man nicht vergleichen konnte; schließlich, was hatten Bandaranaikes Mann und sein Meister miteinander zu tun. Trieben sie mit der Logik vielleicht ein unerlaubtes Spiel, oder wenn nicht mir ihr, dann mit dem Trieb (sie also nicht mit der Logik, die vielmehr mit ihnen)? Faro war verwirrt, fühlte aber, daß im Chaos eine neue, faszinierende Qualität steckte. Mit Liebe hatte das alles nichts zu tun, dachte er, auch wenn er die Frau des Meisters anziehend fand, schon um den letzteren nicht zu beleidigen. Natürlich war sie reizend, wer wollte das bestreiten. Aber unter ihrem beständigen Beschuß war er irgendwie impotent geworden, träumte vom Kloster. Nie wieder würde er in seinem Leben eine Frau anrühren! Sie hatte ihn kleingemacht mit der absurden Forderung, es dem Meister gewissermaßen gleichzutun. Jetzt mußte sie ihn eigenhändig wieder aufbauen. Das war schwere Arbeit, hatte aber den Vorteil, daß er von da an seine Kraft aus ihr schöpfte. Nicht ohne Ressentiment dachte Bandaranaike an ihren Mann. Sein Leben erschien ihr sündhaft einfach, geradezu verantwortungslos. Mochte sein Blick noch so lange bei ihr verweilen, er merkte nichts. Zwar fiel ihm auf, daß seine Frau erschöpft wirkte – Europa strengte an –, aber sein Stolz hinderte ihn zuzugeben, daß sie drauf und dran war, sich zu übernehmen. Daß sie ernsthaft ihre Gelassenheit verlieren könnte, diesen Gedanken schob er energisch beiseite.

So hatten sich unmerklich die Gewichte verschoben, und der Meister war auf die Soll-Seite gerutscht. Er feierte, während die andern sich quälten; dabei konnten seine breiten Schultern alle Last der Welt tragen, sie warteten nur darauf, daß sie ihnen aufgebürdet wurde. Schamlos nutzte er sein Amt aus, seine Autorität. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, schien sein Wahlspruch zu sein. Er war folglich schuld, wenn etwas passierte.

Inzwischen schien es Faro und Bandaranaike ganz unmöglich, daß nicht jeder von dem Drama zwischen ihnen wußte und es billigte. Ja, was den Meister betraf, war eine solche Ahnungslosigkeit undenkbar; die Unterstellung grenzte an Gotteslästerung. Wenn er nicht eingriff, dachte Bandaranaike in einer halsbrecherischen Volte, die alles auf den Kopf stellte, dann weil er darüber erhaben war (sprich nichts dagegen hatte), oder realistischer, weil er nichts dagegensetzen konnte und das einsah! Er liebte sie nicht, faßte sie kurzerhand zusammen, sonst hätte er ihr den Umgang mit Faro verboten, hätte indonesische Sitten walten lassen und sie ins Haus verbannt, vielleicht geschlagen. Nur ein Mann, der seine Bequemlichkeit mehr als seine Frau liebte, kurz ein gleichgültiger Mann, wußte von nichts, während um ihn herum die Funken stoben.

Faro und Bandaranaike waren ein Paar geworden. Es geschah kurz vor dem Neujahrsfest, und wie Faro fest glaubte, war es für immer. Aufgeweckt durch ihren beherzten Umgang, hatte er, der sonst eher im Verborgenen blühte, sich für die traditionelle Aufführung einen Soloauftritt erkämpft und trainierte besessen. Zum ersten Mal machte er vom Hauptschlüssel Gebrauch, und so geschah es, daß sie nach den Trainingsstunden aufeinandertrafen und sich mit einem »Da bist du ja endlich!« in die Arme schlossen, das bewies, daß der Zufall nur den geringsten Anteil am Zustandekommen dieses Treffens hatte und sie nicht zu den Dieben gehörten, die es nur aus Gelegenheit waren. Keiner von beiden konnte sich besonderer Erfahrung rühmen, Bandaranaike, weil sie sich bislang hatte führen lassen, Faro, weil er nicht mit innerem Anteil geliebt hatte. Dafür wußten sie genau, was sie suchten und, wenn sie es bekamen, wieviel sie würden bezahlen müssen. Sie machten sich keinerlei Illusion.

Laß uns weggehen, flehte Faro, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie verreist war und panische Angst hatte. Das gewohnte Leben verlassen und den Boden unter den Füßen verlieren war für ihn ein und dasselbe. Da er aber unmöglich über das Neujahrsfest hinausblicken konnte, fand er den Gedanken noch in glückhafter Ferne. Als er Bandaranaike bat, beim Auftritt sein guter Engel zu sein, versprach sie ihm das, stolz, daß ihre Gegenwart ihn stärkte.

In der trüben Jahreszeit war das Neujahrsfest das Ereignis schlechthin. Der Meister beteiligte sich schon lange nicht mehr aktiv, aber er war die Seele der Veranstaltung. Ob er die buddhistischen Mönche bediente, die die Räume segneten, sich mit den Kindern auf den Zuschauerbänken unterhielt – sich selbst parodierend, auf sein Alter und seine nachlassende Kraft anspielend – oder den Schülern bei ihren komplizierten Bruchtests assistierte, ob er beim Löwentanz trommelte, daß die Adern auf der kahl gewordenen Stirn gefährlich anschwollen: er war nicht nur der Urheber, sondern auch der Adressat der Darbietungen. Schneller als zum Publikum flog nach der Anstrengung der Blick des Auftretenden zu ihm hinüber, und sein anerkennendes Nicken erfreute mehr als der Beifall.

Hier kam nun alles ans Licht. Denn als Faro seine schwierige Übung beendet hatte, da suchten seine Augen nicht den Meister. Der hatte bis dahin in Würde angenommen, was die Schüler bei ihm abluden, und dem Ansturm der Gefühle standgehalten. Nach Faros Auftritt aber traf sein Blick so spektakulär ins Leere, daß er nicht umhin konnte, seinen Augen mit den eigenen zu folgen.

Bandaranaikes rundes Gesicht war von der mitgefühlten Aufregung rosig überglänzt. Zum ersten Mal stellte der Meister in beinahe europäisch nüchterner Weise fest, wie schön sie war. In scharfem Schmerz empfand er alle Regungen des Schülers und konnte dank dieser seltsamen Innenansicht nicht länger leugnen, daß er den Vertrauten seiner Frau oder, wie er es in einer letzten ironischen Regung für sich ausdrückte, den wahren Ehemann Bandaranaikes vor sich hatte.

War er so blind gewesen, fragte er sich und gestand sich sogleich ein, daß es aus Gleichgültigkeit geschehen war, nicht aus Gelassenheit. Diese Gleichgültigkeit war wie eine Krankheit. Aber jetzt war sie vorbei. Lächelnd und für seine Existenz gewissermaßen um Entschuldigung bittend, bahnte er sich durch das Gewühl der Zuschauer einen Weg zu seiner Frau und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Faro, der sich mit den anderen auf der Bühne versammelte, während der Klöppel, diesmal vom ältesten Schüler andächtig betätigt, zum letzten Mal den Gong streichelte, folgte ihm selbstvergessen mit dem Blick. Den Meister kümmerte es nicht. Er hatte es aufgegeben, sich für die Menschen zu interessieren, die er um des Geschäfts willen und aus asiatischer Freundlichkeit ehrte (die sie sich in europäische Freundlichkeit umdeuteten, so daß er sich selbst fremd wurde). Er hatte auch den Schüler aufgegeben, den er am meisten liebte, weil er ihn am wenigsten bedrängte. Unbekümmert beugte er sich zu Bandaranaikes Ohr, die sich von der massigen Gestalt schier erdrückt fühlte. »Geh nach Hause«, raunte er ihr, immer noch lächelnd, zu und als sie zwischen Nichtverstehen und Widerstand schwankte: »Geh jetzt.«

Da ging sie, um ihn nicht noch mehr zu erzürnen. Nicht sie würde es ausbaden müssen. Faro ließ sie zurück, in der vagen Hoffnung, die Erde würde sich auftun, um ihn zu verbergen, oder die Europäer entschlossen Front machen und die Tat verhindern. In der Menge der Teilnehmer, die sich auf der engen Bühne drängten, hatte er sich schon fast aufgelöst, war nur noch ein resignierter Punkt unter lauter hochgestimmten schwarzen Punkten. Allenfalls Bandaranaike hätte ihn noch herausgekannt. Sein Gesicht leuchtete vor Blässe und war plötzlich spitz geworden. Es war das Gesicht des Äffchens, dem er in Augenblicken abstrusen Selbsthasses im Spiegel begegnete. Jetzt konnten es alle sehen, aber es war ihm egal.

In der fernöstlichen Kultur kommt es vor, daß man einem geachteten Mitmenschen die Ehre antun muß, ihn umzubringen, und in einem solchen Fall verbeugt man sich vorher. Ein so schmeichelhafter Umgang wurde Faro nicht zuteil. Wie das Kaninchen vor der Schlange hatte er ausgeharrt und auf den fatalen Moment gewartet. Mit einem jener Schläge, vor deren Gebrauch der Meister seine Schüler immer gewarnt hatte, brach der ihm das Genick. Mit hartem Griff zerrte er den Körper durch die Brandschutztür des hinteren Ausgangs sodann nach draußen und warf ihn die eisenbeschlagenen Stufen hinunter. Die herbeigerufenen Sanitäter fanden nur noch den Meister vor. Er kehrte den Staub zusammen, den so viele fremde Füße aufgewirbelt hatten, und schob ihn achtsam von hinten nach vorn, den Einsatzkräften entgegen. Bereitwillig führte er sie zu der Treppe, die sich der Schüler hinuntergestürzt hatte, und stand den Polizisten Rede und Antwort.

Ich konnte ihm nicht mehr helfen, sagte er mit einem Lächeln, das alle irdischen Bemühungen auf ihren Platz verwies, und fing, während Techniker und Träger in Aktion traten, unauffällig wieder an zu fegen.


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