Ilse Bindseil

Abiturrede 02

Liebe Eltern, Verwandte, Freunde, Lehrer unseres Abschlußjahrgangs, liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

seit einer Weile schon stelle ich fest, daß ich in einem Alter angekommen bin, wo ich bei jeder Aufforderung, etwas auszuführen, von dem unwiderstehlichen Bedürfnis gepackt werde, stattdessen etwas zu erzählen. Und so will ich Ihnen erzählen, daß meine Mutter noch im Alter davon sprach, wie sie damals, als meine eigene Abiturfeier ins Haus stand, nächtelang gegrübelt hatte, wie sie mich an der Teilnahme hindern könnte, schien ich ihr doch irgendwie geladen, und sie fürchtete, die feierliche Atmosphäre der Abiturfeier würde das Faß, das ich in ihren Augen darstellte, zum Überlaufen bringen, wenn sie auch nicht im einzelnen zu sagen wußte, warum.

Mit ihrer Besorgnis lag sie gar nicht so falsch, aber wiederum daneben, da ich in Wirklichkeit vollkommen verstummt war, und keine Feier der Welt hätte einen Ton aus mir herausgebracht. Die unbändigen Erwartungen, die ich mit der Zeit nach dem Abitur verband und die wohl für den Eindruck verantwortlich waren, ich wäre eine Bombe, kurz vor der Explosion, hatten sich in einem Techtelmechtel mit der Magersucht niedergeschlagen, und mein Vater, der vor dem Jugendalter und seiner Entschlossenheit das empfand, was man in meiner schlesischen Familie Respekt nennt, nämlich Angst, zog mir beim Frühstück nur ein einziges Mal mit einer blitzschnellen Bewegung das Unterlid herunter, um zu sehen, ob ich Gelbsucht hatte oder meinen seltsamen Teint nur der Tatsache verdankte, daß ich nicht viel anderes aß als Karotten.

Nicht im Traum wäre mir damals eingefallen, daß ich meine Zukunftserwartungen in einem vertrauensvollen Gespräch mit Eltern oder Lehrern vielleicht besser artikulieren konnte als in jener zugespitzten Diät oder Reinigungszeremonie, mit der ich das medizinische Gewissen meines Vaters peinigte. Schließlich handelten sie von der Unendlichkeit, nicht mehr und nicht weniger, wohingegen meine Familie, mein Mädchengymnasium, meine Kleinstadt die Endlichkeit schlechthin verkörperten. Was konnte, selbst wenn man ein überirdisches Format der Erwachsenen annehmen wollte, bei einer solchen Herzensergießung denn anderes herauskommen als das so gut gemeinte, aber absolut böse, in bezug auf die erwähnte Unendlichkeit geradezu tödliche: »Jetzt wirst du so werden wie wir.«

Im Bewußtsein dieser Erinnerung verweigere ich mich jeglicher Versuchung, Ihnen Ihre Zukunft nach Maßgabe meiner eigenen Gegenwart auszumalen oder gar von dem zu schwätzen, wovon ich schon länger nichts mehr verstehe, nämlich von einem Leben ganz ohne Schule. Stattdessen will ich etwas über die Schule sagen und etwas über die Philosophie, die ich mit etlichen von Ihnen gemeinsam betrieben habe. Zum Abitur, also zu dem, was Sie gerade geschafft haben, hat die Philosophie herzlich wenig beizutragen, obwohl sie gewiß schon tausendfach in Abiturreden bemüht worden ist, den Abiturienten noch nachträglich den Rücken zu stärken und sie für das Geleistete auszuzeichnen. Als Theorie des Denkens, die sie heute vornehmlich ist, kann sie mit Unterschieden wie dem zwischen »Bestanden« und »Nichtbestanden« nichts anfangen, schon gar nichts mit der ausgetüftelten Skala der gemessenen Leistungsunterschiede. Vor dem Unterschied etwa zwischen 3,1 und 2,9 muß sie schlichtweg kapitulieren: sie kann ihn nicht denken! Das Zeugnis, das ihr einigermaßen entspräche, wäre jenes leere Blatt, das einige von Ihnen – es ist schon gute Tradition – nachher an Stelle des Zeugnisses überreicht bekommen, um wenigstens den Unterschied zwischen jenen, die ihre Formalien, und jenen, die sie noch nicht erledigt haben, nicht in Erscheinung treten zu lassen. Dieses leere Blatt, das auf ein Ganzes jenseits der Unterschiede verwiese, wäre das Reifezeugnis, das die Philosophie verleihen würde, gewissermaßen ein buddhistisches Reifezeugnis. – Mit Ihrem Jahrgang habe ich ja zum ersten Mal, seitdem ich an der Schule Philosophie unterrichten darf, orientalische Philosophie, nämlich ausgerechnet den »unsprachlichen« Zen-Buddhismus behandelt; es war in jeder einzelnen Stunde ein von Ihnen getragenes Erlebnis und eine Anstrengung, kurz, wie der irische Sänger Christie Moore sagt, »a precious time«.

Aber zur Schule kann die Philosophie etwas sagen und die Schule etwas zur Philosophie. Es gibt ja hier bei uns in Deutschland eine ganz alltägliche, tiefsitzende, fast schon unbewußte Verachtung der Schule und Furcht vor den Schülern, der wir tagtäglich begegnen und an der wir alle teilhaben; manchmal werde ich mir ihrer bei mir selbst bewußt, wenn ich, die ich mir auf »unsere Schüler« gehörig etwas einbilde, etwa zur Pausenzeit an einer fremden Schule vorbeigehe und daselbst Schüler »herumlungern« sehe, horribile dictu »fremde Schüler«, oder wenn ich von einem mir unbekannten, möglicherweise interessanten Menschen höre und dann erfahre, er ist Lehrer – »na ja«, denke ich dann im ersten, unkontrollierten Augenblick. Ich bin der festen Überzeugung, daß diese Verachtung der Schule und Angst vor den Schülern der Grund für unsere Bildungsmisere ist, und der ebenso festen Überzeugung, daß sie in Wirklichkeit gar nicht der Schule speziell gilt, sondern das gespaltene und im ganzen restlos unbegriffene Verhältnis ausdrückt, das die Gesellschaft zu sich selbst hat; daran, daß die Schule, die sie doch im Reinzustand verkörpert, zugleich der fremdeste Ort der Gesellschaft, in schönster Gleichzeitigkeit »bloß Schule« und unvergängliches Trauma ist, kann man erkennen, daß hier etwas verschoben wurde und die Schule eine Last zu tragen hat, die in Wirklichkeit auf viel breitere Schultern gehört.

Zu dieser Last hat die Philosophie durchaus etwas zu sagen, aber ich würde mich dazu versteigen zu behaupten, daß man ohne eine so überwältigende, man kann auch sagen zermürbende tagtägliche Erfahrung wie die der Schule die Botschaft der Philosophie fast nicht mehr verstehen kann. Wer von Ihnen mit mir gemeinsam das Semesterthema »Ethik« durchgestanden hat, weiß, wie schwer ich mich damit tue. Ich kann ehrlich sagen, nie hätte ich mir ohne Sie und die von Ihnen verkörperte unbedingte Gegenwart zugetraut, ein so abgewandtes, fremd gewordenes, zugleich abgegriffenes, trivial gewordenes Thema wie das des aristotelischen Maßes, der aristotelischen Mitte ins Auge zu fassen, weiß ich doch nicht einmal recht, was Ethik ist. Nur durch die gnadenlose Gleichzeitigkeit von ethischer Praxis und Theorie, wie sie sich in der Schule realisiert – das Ganze arrondiert durch Nachrichten sei's von PISA, sei's von Erfurt –, habe ich schließlich verstanden, daß die ethische Norm mit dem Sollen gar nichts, dafür alles mit dem Sein zu tun hat. (Natürlich hat man das früher bestens gewußt, aber es heute zu wissen ist eben schwer.) Daß wir das Maß wahren in der Schule, ist der Grund dafür, daß sie überhaupt stattfinden kann; es ist das Prinzip unseres Funktionierens, nicht das hehre Ziel unseres Sollens; und das einmalig Schöne an der Schule und regelrecht in ihr begründet ist, daß man gelegentlich sogar das Maß verlieren, sich als Schüler einen »jugendlichen Ausrutscher« oder als Lehrer eine »ungerechte Zensur« leisten kann, ohne das Ganze zu gefährden; daß es sich »bloß« um Schule handelt, kommt ihr hier freundlich zugute.

Leider muß ich aus Gründen der Ehrlichkeit sogleich eine Einschränkung machen; denn die Ethik, so wie ich sie sehe, ist verflixt neutral. Daß ein Schüler, der in der Schule um sich schießt, das Maß verloren hat, das kann sie mühelos erkennen. Aber wenn hier zum Beispiel Wachpersonal durch die Flure patrouillieren würde, dann würde sie, die Ethik, womöglich sagen: Das ist jetzt eben das Maß, die Bedingung, unter der Schule stattfinden kann. Nur, wie stünde es um die Mitte der Gesellschaft? Und wenn das Wachpersonal nicht auf den Fluren, sondern in den Klassenräumen gebraucht würde, um sagen wir die kostbare PC-Ausstattung gegen Diebstahl und Vandalismus zu schützen, wogegen sich die Lehrer diskret auf die Flure zurückgezogen hätten, um den Lernprozeß nicht zu beeinträchtigen, dann wäre das eben das Maß. Aber die Schule wäre nicht länger ein Herstellen der Mitte, sondern ein Lernen mit Mitteln. Weg wäre, im einen wie im andern Fall, was Schule auch ist und was mit dem Begriff der Mitte allein gemeint ist: der tägliche Ausgleich von Menschen, die einander nicht ausgesucht haben – Sie sich uns nicht, wir uns Sie nicht, allein schon an der Grammatik merken Sie, wie schwierig das ist –, die aber sich zusammengefunden haben, um in Selbstbegrenzung und gegenseitiger Begrenzung das einzige ernsthafte Projekt zustande zu bringen, das, vom ungewissen Jenseits einmal abgesehen, lohnt: nämlich zusammenzuleben. Alles andere, was mit diesem Projekt nicht zu tun hat, kann man zweifellos mit Mitteln besser realisieren als ohne: mit dem Rechner besser rechnen, gedopt schneller rennen, »zugekifft« länger miteinander aushalten, »vollgekokst« vermutlich auch schärfer denken. Aber »mein Musical« zu »dem Musical«, »meine Ausstellung« zu »der Ausstellung«, »mein Lieblingsthema« zu »unserem Thema« machen, in einem Wort gesagt, die blöde Unbegrenztheit des eigenen Anspruchs in die begrenzende Totalität des Zusammenlebens überführen und so die Mitte herstellen können diese Mittel nicht.

Auf Grund der Erfahrung, die wir alle, die wir an der Schule beschützend, beratend, belehrend tätig sind, mit Ihnen im gemeinsamen Herstellen der Mitte gemacht haben – ob es um den Schulalltag oder um die Highlights des Schullebens, um das Verdauen von schlechten Zensuren oder um die Produktion von glanzvollen Aufführungen, um Angst vor Klassenarbeiten oder Angst vor dem Bühnenauftritt ging –, möchte ich Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, zum Schluß ausdrücklich bitten, beim Bedenken ihres künftigen Berufs dafür Sorge zu tragen, daß diese Fähigkeit, die Sie so oft unter Beweis gestellt haben und die den eigentlichen Ruhm der Sophie-Scholl-Schule ausmacht, auch weiter gebraucht wird. Viel Glück!


Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt19.html.
Veröffentlicht in: LSA-Nachrichten für die Berliner Schule, 04.11.2002, 16–19 (ebenso im Sophie-Scholl-Magazin 2002).

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