Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(2) Die Dänin erzählt

Wir verließen den Übungsraum wieder einmal als letzte, S., E. und ich. Draußen stellte S. seine Sporttasche hin und schloß sorgfältig ab, ganz Hausvater. Im Schlüsselladen hatte er sich eine kleine leistungsfähige Taschenlampe gekauft, die einen scharfkonturierten Lichtkegel erzeugte, mit dem er mühelos das Schloß fand. Dann stapften wir wie immer durch den dunklen Hof zum Seitenausgang und stritten, da ich das Fahrrad mithatte, auch nicht, ob wir über den Hof gehen oder den kürzeren Weg durch den engen Flur des Vorderhauses nehmen sollten. Von dort roch es durch die Lüftungsklappe des französischen Feinschmeckerrestaurants durchdringend nach Bouillabaisse, und mir zogen sich die Magennerven zusammen.

An der Kreuzung standen wir noch einen Augenblick herum und redeten von diesem und jenem. Das heißt, S. und ich redeten. E., die während des Trainings wie ein aufgezogener Kreisel gewesen war und alles durcheinandergewirbelt hatte mit einer Mischung aus Späßen und Bekenntnissen und einer völligen Hingabe an die Übungen – sie war verstummt. Einmal hatte sie noch gefragt, wo man solche Taschenlampen bekam, in einem Ton, wie wenn es um einen Rettungsanker, um das lebensrettende Medikament in einer akuten Herzkrise ging, und so, als würde es jetzt schon gebraucht. Sonst hatte sie gar nichts gesagt. Seit sie sich im Umkleideraum, schon fix und fertig angezogen, zu ihren Schuhen gebückt und die Schnürsenkel zugebunden hatte, schien jede Kraft aus ihr gewichen zu sein. Sie verharrte in der gebückten Haltung, bis jede einzelne Strähne nach vorn gefallen und ihr Gesicht hinter dem Haarvorhang verschwunden war. S., der noch die letzten Handgriffe besorgte, wich ihr mit elegantem Schwung aus und stellte das Teetablett auf den Rand des Spülbeckens.

Apfel? hatte er gefragt.

Langsam hatte sie sich wiederaufgerichtet.

Apfel, murmelte sie und nahm das ihr hingehaltene Viertel. Langsam kaute sie. Und mit jedem einzelnen Bissen hatte sie auch noch den Rest ihrer Lebendigkeit hinuntergeschluckt.

Na, willste hier übernachten? hatte S. gefragt. Und mit der ihm eigenen Abruptheit, mit der er die Menschen, die aufgrund seines Berufs, aber auch seiner natürlichen Offenheit gewissermaßen in seine Intimsphäre hineinströmten, aus dieser wieder hinausbeförderte, hatte er gleich hinzugesetzt:

Aber ich will nach Hause.

Und dann hatte er die Tür zum Übungsraum hausväterisch abgeschlossen, und wir waren über den dunklen Hof gegangen. E. hielt mir die mit häßlichen senkrechten Stäben gegitterte schwere Tür auf und konnte dann die handlichen Stäbe kaum loslassen. Auch S. schien der Drang nach Hause, kaum daß er den Schritt ins Freie getan hatte, verlassen zu haben. Während ich die Sporttasche auf dem Gepäckträger zurechtzurrte, verwickelte er mich in eine Unterhaltung über die Hünengräber auf Langeland, wo ich den Sommer über an meinem Ferienhäuschen gebaut hatte, und E. hörte zu.

Also, dann will ich mal, sagte ich.

S. rührte sich nicht. Er strich an seiner Wollmütze herum, die er glatt anliegend wie ein Rousseauist trug, und ließ sich von den Hügelgräbern nicht ablenken. E. starrte ihm ins Gesicht, als könnte sie nur so seine Rede in Gang halten.

In dem Augenblick stürmte eine Gruppe junger Leute über die Kreuzung. »Da ist E.!« rief einer, und dann riefen sie: »Hallo, Frau E.!«

E. riß sich aus ihrer Erstarrung.

Geht ihr zur U-Bahn? rief sie und setzte sich sogleich in Bewegung. Sie schulterte die Sporttasche, warf uns ein piepsiges »Tschüs!« zu und langte rennend und stolpernd bei den jungen Leuten an.

Ich gehe mit euch, sagte sie, jetzt mit ihrer ganz normalen Stimme, die mühelos bis zu uns drang. Ich will nach Hause.

Sogleich wurde sie in die Mitte genommen.

Was machen Sie denn hier? wollte einer von ihr wissen.

Das weiß ich selbst nicht so genau, sagte sie.

Na, Sport, sagte ein anderer und wies auf ihre Tasche.

Und da haben Sie sich übernommen, sagte ein anderer.

Alle lachten.

Von wegen, sagte sie, streckte sich blitzschnell, zog ihm den verwegenen Hut vom Kopf, warf ihn in die Höhe und setzte ihn sich auf. Mit der einen Hand hielt sie ihn fest, während sie in der anderen die Sporttasche hielt, und fing an zu rennen.

Den siehst du so schnell nicht wieder, sagte ein Mädchen zu dem Jungen, dem der Hut gehörte.

Das wollen wir mal sehen, rief Yannick und setzte ihr nach. Lachend und rufend rannten die andern los.

Die da tun ihr offenbar besser als wir, sagte ich.

Ich komm nicht mehr mit bis zur Ecke, sagte S.


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