Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(5) S. erzählt

In die U-Bahn mußte ich sie fast schieben, sie stand einfach da auf dem überfüllten Bahnsteig, die Hände in den Manteltaschen, bockbeinig wie ein Esel, und ich mußte ihr einen Schubs geben, sonst hätten sich die Türen wieder geschlossen, und die Bahn wäre ohne uns abgefahren. Wie ich das hasse, mit leerem Magen auf einem überfüllten Bahnhof zu stehen, mitten im finstersten Neukölln. Und wie ich es verabscheue, jemanden anzufassen, wenn ich gerade niemanden anfassen will, mit den ganzen Leuten um mich herum, nicht einmal so einen bockbeinigen kleinen Esel! Ich gab ihr also einen wohlgezielten Schubs, nur so, daß sie in die U-Bahn hineinstolperte, und mußte es zur Strafe für meine Bosheit dann auch noch dulden, daß sie sich mit einer Hand am breiten Revers meiner Jacke festhielt; denn bis zu einer Stange war es zu weit, und da waren ja auch noch die andern Leute.

Ich bin eher zart gebaut. Aber wie sie da mit gesenktem Kopf vor mir stand und, ohne mich anzusehen, mit ihrer kleinen Hand entschlossen das Revers meiner Jacke umklammerte, da hätte ich ihr auf den Scheitel spucken können. Es juckte mir in den Fingern, ihr über den Kopf zu streichen, die Situation ausnutzend und damit ihr zu Bewußtsein kam, wie nahe ich war, und ihr richtig schwach wurde; aber auch weil ihre Haare mich an das Fell eines Kaninchens erinnerten. Kindisch und seidig waren sie, einfach absurd. Da das Schicksal uns nun einmal zwei U-Bahnstrecken lang aneinandergeschmiedet hatte und sie so klein und ich von allen Seiten eingezwängt und so bedrängt war, daß ich praktisch nur über ihrem Kopf auf ein Quentchen atembare Luft stieß, nutzte ich die Gelegenheit, ihr gewissermaßen von oben herab meine Sicht der sozialen Verhältnisse zu erläutern; da wir gerade hier waren, unter besonderer Berücksichtigung Neuköllns.

Von unseren zahllosen Wortgefechten wußte ich, daß das Thema und speziell meine Einstellung dazu sie nervten. Genauer gesagt gab es kein besseres Mittel, sie zur Weißglut zu bringen, und sie war auch nicht temperamentlos und beileibe nicht feige, wenn gelegentlich auch schon kleinmütig. Sie scheute sich nicht, gegen mich anzugehen und sich gegen mein, wie sie es nannte, unverantwortliches Gerede zur Wehr zu setzen, obwohl ihr die Gegnerschaft gegen den Strich ging. Aber sie hatte ihre Prinzipien und stand dazu, auch wenn ich sie gnadenlos aufzog, weil ihr Altruismus typisch bürgerlich war, und mit meiner Herkunft aus dem Wedding renommierte. Aber so dicht, wie wir beieinander standen, mein Jackenrevers als Faustpfand in ihrer Hand, mit ihrer Standfestigkeit allein von mir abhängig, sozusagen unter meinem Dach, fiel es ihr spürbar schwer, körperliche Nähe und geistige Gegnerschaft, wie man will, auseinander- oder zusammenzuhalten, und ich hatte meine Freude an ihrer Not. Sie litt, das sah ich an ihren Schultern, an den blassen Knöcheln ihrer kleinen Faust, an ihrem bekümmerten Profil, das sich dem Blick von oben ohnehin nicht besonders vorteilhaft präsentierte, und ich amüsierte mich und empfand sogar ein wenig Zärtlichkeit für sie. Unwillkürlich verschärfte ich den Ton und beugte mich im Eifer der Rede zugleich tiefer zu ihr hinunter und nahm jetzt auch die Hände zu Hilfe und machte mir einen liebevoll gemeinten Spaß daraus, ihr mit dem Zeigefinger argumentierend auf die immer noch bei mir Halt findende Hand zu klopfen.

Südstern, sagte ich und verpaßte ihr einen unwiderruflich letzten Klaps auf die Hand, du mußt aussteigen.

Sie sah verwirrt zu mir auf, entgeistert, daß die Fahrt zu Ende war, bestürzt, daß sie aussteigen sollte, außerstande, mein Revers loszulassen.

Na, mach schon, sagte ich nervös und mußte an mich halten, daß ich sie nicht schubste.

Du schaffst es noch …! brach es – ich muß auf den altmodischen Ausdruck zurückgreifen – aus mir heraus, und da hatten sich die Türen auch schon wieder geschlossen, und die U-Bahn fuhr los. E. blickte mich erschreckt, aber keineswegs um Entschuldigung oder Verständnis nachsuchend, eher trotzig aus ihren blauen Augen an, oder einfach auch nur verstört, und ich, sonst immer auf dem Quivive, vergaß wegzuschauen und versank in eine Träumerei darüber, wo das hinführen mochte, wenn hirnlose Wesen wie sie sich über die wenigen Signale, die das Leben regelten, hinwegsetzten. Sie glaubten, sie würden sich, befreit, auf einer komplexeren Ebene wiederfinden, befanden sich in Wirklichkeit aber mitten im Prozeß der großen Vereinfachung, im freien Fall.

Und was jetzt? fragte ich einigermaßen konsterniert.

Sie wich meinem Blick nicht aus – aber diese Darstellung stellt die Tatsachen bereits auf den Kopf, so als hätte die Wahl der Perspektive bei ihr gelegen. Dabei konnte sie nur den Blick von meinem nicht lösen. Aber zum ersten Mal, seitdem unsere Bekanntschaft sentimentaler geworden war, las ich so etwas wie Erbitterung darin. Wieder so eine, dachte ich, die über mich erbittert ist. Gott, wie langweilig!

Keine Bange, sagte sie rauh, ich fahr schon nicht mit bis zu dir.

Das würde ich auch zu verhindern wissen, wollte ich sagen, fand den Gedanken aber, daß sie es versuchen könnte, so absurd, daß ich statt dessen erneut in eine Träumerei über Wert und Nutzen der Signale versank, die lediglich unser Leben regeln wollten – und uns dann doch in einer wohltuenden Weise beherrschten.

Diese Signale waren gewiß einfach und unzweideutig, aber voller Tragweite. Sie regelten das Kommen und Gehen, das Einsteigen und Aussteigen, das Abbiegen und Stehenbleiben. Wer ihnen Folge leistete, machte sich vielleicht unglücklich – »Ich bin im Gehen, wie schade, daß du so spät kommst!« »Ach, du mußt nach rechts (oder links), ich muß nach links (oder rechts)!« Aber wer sich über sie hinwegsetzte – »Ich bin zwar gerade erst gekommen, aber wenn du gehst, gehe ich natürlich auch!« »Eigentlich müßte ich ja nach rechts (oder links), aber mit dir gehe ich nach links (oder rechts)!« –, der verlor am Ende allen Boden unter den Füßen.

Mit meinem Freund Holger, dem langen Schullehrer mit dem bitteren Gesicht, dem die Schulkinder nach- und die Frauen davonliefen, war ich in einer langen Nacht, in der wir Wasserpfeife geraucht und philosophiert hatten, zu dem Ergebnis gekommen, daß unsere besten Sätze regelmäßig das Ende einer Auseinandersetzung markierten. Es waren keine Anfangssätze, sondern Abschlußsätze, Abbruchsätze, Abschiedssätze. Sie enthielten so etwas wie die Quintessenz unseres Lebens. Das, woran wir am meisten hingen, war in ihnen kondensiert, oder was wir am liebsten gewesen wären, versinnbildlicht: entschlossene, aufrechte, ihr ehrliches Unglück jedem billigen Glück vorziehende Männer (wogegen wir, unbekifft und ganz bei Trost, wahrhaftig noch das billigste Glück dem heroischen Unglück vorgezogen hätten)!

Nach solchen Sätzen blieb nichts übrig, als die Klinke herunterzudrücken, die geöffnete Tür zuzuschlagen, dem geliebten Menschen den Rücken zuzukehren. Kurz, man mußte einfach gehen, auch wenn man liebend gern geblieben und vielleicht ja auch geduldet worden wäre.

Wir hatten uns angesichts dieses Befunds und der vorgerückten Stunde gefragt, ob das nicht typisch für uns Menschen – oder für uns Männer – war, daß wir den fettesten Teil unserer intellektuellen Kompetenz und unserer Emotionen darauf verwandten, uns unser eigenes Grab zu schaufeln. Warum, um Himmels willen, entschieden wir uns nicht einfach für die Liebe, gerade dann, wenn wir soeben noch dekretiert hatten: »Und deshalb hasse ich dich und verlasse ich dich!« Warum brachen wir nicht, kaum angelangt, sogleich wieder auf, um mit der Liebsten zu gehen, in ihrem Windschatten trottend, vom Ende der Welt zu träumen? Warum hängten wir den Mantel, kaum daß wir ihn übergezogen hatten, nicht an den Haken und harrten neben ihr aus, bis auch sie ging, ließen uns das Stühlchen gefallen, auf dem der Hintern gefährlich überquoll; was soll's, Hauptsache, wir blieben in ihrer Nähe? Warum bogen wir nicht nach links (oder nach rechts) ab, nur weil sie es tat und weil dies die causa sufficiens, der hinreichende Grund war? Warum klebten wir nicht unbekümmert an ihr, und warum um alles in der Welt gingen wir nicht voller Vertrauen in die falsche Richtung?

Weil wir uns nicht trauen zu lieben, hatte Holger, der Schullehrer, schon reichlich bekifft gesagt: weil wir Angst vor dem Glück haben!

Und mit einem bedeutungsvollen Blick auf mich:

Angst, daß es uns erstickt.

Weil ihm einmal eine Frau Klammern vorgeworfen hatte, fühlte er sich diesbezüglich ungefährdet. Weil ich bei dem Versuch noch stets gescheitert war, jemanden von der Grenzenlosigkeit meines Verschmelzungsbedürfnisses zu überzeugen – das zugegebenermaßen mit meiner Hingabefähigkeit nicht korrespondierte –, hatte ich, die Wasserpfeife bestückend, (so wie man es von mir erwartete) hinzugesetzt:

Ja, lieber unglücklich und unabhängig als …

Weiter kam ich schon damals nicht, aber ich weiß noch, Holger hatte befriedigt genickt.

Ich steig gleich aus, sagte E. und riß mich aus meinen Träumen. Sie hatte mein Revers losgelassen. Mindestens einen dreiviertel Meter von mir entfernt, bot sie den Anblick einer netten Frau, nicht besonders hübsch, aber von liebenswerten Umrissen, zugewandt und um Zuwendung ersuchend, und ich empfand Sehnsucht nach ihr, hätte ihr aber um jeden Preis das Erbetene verweigert. Wären wir Berliner Straße gewesen, ich hätte sie vielleicht mit zu mir nach Hause genommen, um meiner Sehnsucht Nahrung zu geben und mich am Anblick ihres Hungers zu weiden.

Aber wir waren am Kleistpark.

Arbeitest du neuerdings nachts? fragte ich entgeistert, denn ich wußte, daß hier irgendwo ihre Schule lag.

I wo! Sie lachte. Weder gehe ich arbeiten, noch ist es Nacht. Aber ich habe auf dem Schreibtisch ein paar Unterlagen vergessen, Anwesenheitslisten, die ich bis morgen überprüfen muß, und ein paar Facharbeiten. Außerdem probt meine Freundin mit ihrem Chor in unserm Haus. Ich kann jederzeit zuhören kommen, sagt sie, sie will, daß ich mitsinge. Sie glaubt nicht, daß ich nicht …

Während der Zug einfuhr, hatte sie immer schneller gesprochen, und jetzt brach sie ab.

Na, dann tschüs, sagte ich, geplättet von den vielen, ineinandergreifenden Verpflichtungen und unbestimmt beunruhigt wegen meiner eigenen, wenig verwurzelten Existenz, einen Augenblick sogar geneigt, der Frage nachzugrübeln, ob ich hätte singen können oder nicht.

Tschüs, murmelte sie, hob, wie es ihre Art war, die Hand und ließ die Finger grüßen, drehte sich dann abrupt um und hüpfte aus der U-Bahn, ganz vertraut jetzt auf ihrem Bahnhof, auf dem sie jeden Morgen ausstieg, und gleich irgendwie unabhängig, selbständig und erwachsen.

Ich war schon auf der rasanten Fahrt zurück in meine absolut vereinzelte Existenz, in der das Innere und das Äußere, das Vergangene und das Gegenwärtige, das Wirkliche und das bloß Gedachte in der haltbarsten Symbiose existierten und in der Bewegung nur stören konnte; da sah ich aus dem kontrollierenden Augenwinkel für einen Moment E., die den Bahnsteig keineswegs verlassen hatte, sondern bloß auf die andere Seite hinübergewechselt war, den Gegenzug erwartend.


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