Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt des Dilemmas

Die Freiheit könnte so schön, sie könnte vollkommen sein! Dabei ist sie, als die nie abgeschlossene Qual der Wahl, die als Aufruhr erlebte komplette Blockade, nicht nur ein Abgrund, vielmehr ein Schrecken ohne Ende.

Ja, wenn man die Dinge nicht stören müßte. Wenn man es bei ihrer Existenz, ihrer Betrachtung belassen könnte. Wenn man sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen würde, wenn man sich nicht entscheiden müßte! Das Welttheater würde zur Ruhe kommen, das Wirre gezügelt, das Chaos gebändigt werden, die Aufregung beschwichtigt. Die Dinge wären im Lot.

Auch dem formal wenig Geschulten, wenn er sich denn bemühte, würde sehr schnell klar, welch idealen Punkt er da erwischt hat. Es wäre der Weisheitspunkt, ästhetisch der Schwebepunkt, für ängstliche Gemüter: der Gleichgewichtspunkt. Würde man ihn suchen, wäre man ein Weisheit Suchender, hätte man ihn gefunden, beruhigt. Wer unter günstigeren Umständen vergeblich nach ihm sucht, könnte ihn hier, unter erheblich ungünstigeren, finden.

Die rechte Mitte zu finden ist groß, sagt Aristoteles. Es ist erhaben. Für den, der selbst der ungünstige Umstand ist, wäre nur der Anblick erhaben, leider. Auch die Welt wäre erhaben. Aber der Punkt selbst ist die Hölle. So kämpft er nicht nur unermüdlich, sondern auch unfreiwillig. Er hat es sich nicht ausgesucht, wahrhaftig. Kaum zugeben kann er, daß er kämpft.

Wer in einem Dilemma steckt, hat diesen Punkt weiß Gott nicht gesucht. Er, der Punkt, hat ihn gefunden. Er hat ihn heimgesucht. Steckte jemand dahinter, könnte man sagen: Unter seinem Blick ist alles erstarrt. Da dieser Jemand nur er selbst sein kann, der im Dilemma steckt, muß man wohl ihm den Basiliskenblick unterstellen. Unter seinem Blick erstarrt die Welt, ordnet sich, nimmt die Ordnung eines symmetrischen Gegensatzes, sozusagen die objektive Struktur des Dilemmas an.

Die Mitte mag noch so sehr das Maß verkörpern, hier, im dilemmatischen Zusammenhang einer zugleich zugespitzten und verunmöglichten Entscheidung, ist sie der Scheitelpunkt der Neurose, der Mittelpunkt, der das Bewegte lähmt, der fatale Ausgleich zwischen Kraft und Gegenkraft.

Es handelt sich sozusagen um die Katatonie des Dramas.

Dem, der in einem Dilemma steckt, könnte man eigentlich nur zur Untätigkeit raten. Bleib, wie du bist, müßte man ihm sagen, überlaß es anderen, sich zu entscheiden. Rühr dich nicht. Laß die Dinge, wie sie sind. Auf ihre Art sind sie vollkommen. Sobald du in ihnen herumfuhrwerkst, wendet sich ihre Ordnung ins Desaster. Mag sein, daß unter der Ägide der andern das Desaster sich in Ordnung wandelt, bei dir ist es umgekehrt. Nur ein Schritt fehlt, daß du dich selbst als Desaster erlebst. Pädagogische Gemüter würden das für einen Fortschritt halten.

›Ihre Art‹, das wäre die Seite der Betrachtung, die ganzheitliche Seite, die tatenlose Seite, die unengagierte, duldsame, interesselose, aber nichts weniger als gleichgültige Seite. Es handelt sich, wohlgemerkt, um die Liebe des Details zu sich selbst. ›Ihre Art‹, das ist zugleich ihre Notorietät, der Charakter einer alles Neue, Kürzliche zunichte machenden Wiederholung.

Erübrigt sich fast, daß die andere oder personale Seite engagiert, einseitig, energie- oder affektgeladen, wenn auch blockiert ist. Von ihr zu verlangen, daß sie sich nach der Mitte ausrichtet, bedeutet schon eine mittlere Vergewaltigung, noch aus anderem Grund. Schließlich ist sie nicht unbeteiligt an dem, was auf seine Art vollkommen ist. Offenbar ist der Furor der Entscheidung der »vollständigen Entwickelung aller Anlagen« durchaus günstig, bloß die Synthese fehlt, sprich die Entscheidung. Schließlich, um sie entscheiden zu können, muß man die Gegenstände recht genau betrachten. Man muß sie möglichst vollständig eruieren. Hat man sie in ihrer Vollständigkeit eruiert, kann man sie nicht mehr entscheiden; daß sie bleiben, wie sie sind, wäre ihre Art, sich zu entscheiden und eine reale Perspektive, wenn man selbst nicht wäre – unmöglich, den Frieden nicht zu stören, wenn sie selbst auch nur annähernd vollkommen sind.

Dem unbefangenen Beobachter wird schnell klar, daß die vollständige Wahrnehmung, Würdigung, Wertschätzung im Grunde das Negativ der Entscheidung ist. Was vollständig ist, braucht nicht entschieden zu werden; es fehlt ihm ja nichts, außer der Entscheidung, und die ist überflüssig. Faktisch wird ein Ganzes geschieden, und allenfalls die Begründung geht auf ein Ungleichgewicht, eine innere Mangelhaftigkeit, die sich in der Entscheidung profiliert. Noch die Symmetrie hat mehr mit der Entscheidung als mit den Verhältnissen zu tun, so daß die Entscheidung also über sie selbst gefällt wird. Wer im höchsten Maße entschlossen und gleichzeitig nicht in der Lage ist, der ist ein geheimer Partisan der Dinge. Er steckt in einem Dilemma.

Vielleicht geht die Absicht ja unwillkürlich auf Verhinderung. Wie könnte man soviel Welt zulassen, wenn man nicht bereits kapituliert hätte, nach dem Motto: Ich kann mich nicht entscheiden! Oder wie könnte man so genau hinsehen, wenn man über die eigene Lähmung nicht Bescheid wüßte, so daß im Grunde klar ist, sehen, wissen kostet nichts. Es ist also nicht wie im traditionellen Ordnungsmodell, wo der klare Kopf in die wuchernden Dinge eine Bresche schlägt; auf eine vertrackte Weise bedroht vielmehr die wunderbare ›Ordnung der Dinge‹ die Entscheidung, die wiederum sie bedroht.

Wer sich der Apparatur in seinem Kopf wohl bewußt ist, zugleich aber in einer wahnhaften Symbiose mit der Welt lebt, dergestalt, daß er gar nicht auf die Idee kommt, beides voneinander zu trennen, wer also auf die mögliche Disharmonie zwischen Innen und Außen, auf die Konsequenzen des Perspektivwechsels, den möglichen Niveau-, den möglicherweise kategorialen Unterschied zwischen beidem keine Rücksicht nimmt, der macht sich zum Schlachtfeld. Er läßt es zu, daß auf ihm eben dieser ungeklärte Unterschied ausgetragen wird; vermutlich, weil er für ihn ein Ausdruck des Zusammenhangs ist. Da er weder auf den Verstand noch auf die Symbiose verzichten mag, haftet seinem Anspruch etwas Wahnhaftes, seiner Existenz etwas Reduziertes an, das Dilemma erweist sich als Mangelform.

Wer im Dilemma steckt, muß es ausbaden, daß die Welt nicht getrennt werden kann und der Verstand nichts anderes kann als trennen; eine Tätigkeit, die sich nicht zuletzt gegen ihn selbst wendet, gleicht doch der Kopf, insofern er auf Symbiose besteht, durchaus den Dingen in der Welt, so daß die Hemmung von einem Tabu unterfüttert ist: Du sollst den Ast, auf dem du sitzt, nicht absägen.

»Ich befand mich wieder einmal in einem Dilemma«, lautet die klassische hochneurotische Formel, von jenseits des Dramas natürlich. Der Leidensdruck, für den sie steht und der nur Romanhelden unerschüttert läßt, ist immens, auch der Planungsdruck; wird doch abstrakt mehr verlangt, als konkret jemals geleistet werden müßte. Die Zeit läuft denen davon, die lange genug davongelaufen sind. Nun setzen sie auf die helfende Kraft des Muß. Die bewährt sich, sobald es im Grunde zu spät ist, von der Entscheidung auch nicht erwartet werden kann oder befürchtet werden muß, daß sie den klassischen Modus ändert.

Aber selbst wenn die Entscheidung erst in dem Moment fällt, wo der Zeiger auf Null zurückspringt: stets wird sie als Kapitulation erlebt werden, in der bilanzierenden Rückschau als Notlösung, in der Erwartung, im bedrängenden Augenblick davor als Explosion. Denen, die dabei zuschauen, durch Nähe, Identifikation und Mitleid involviert sind, Assistenz leisten und womöglich trösten müssen, ist es sonnenklar, woher die Explosivstoffe kommen und wer von der Explosion zerrissen wird. Leider sehen sie nur das Psychologische des Vorgangs und glauben, aus dem crash ginge die Welt unbeschädigt hervor. Da sie sich für den Neurotiker verantwortlich fühlen, fühlen sie sich nur allzu selten auch für die Welt verantwortlich, glauben sie doch, es käme gar nicht so sehr auf sie an, dafür alles auf die ›psychische Gesundheit‹ derer, die sie angeblich gestalten. Ein echter Partner sind sie darum nicht. Wer im Dilemma steckt, bräuchte jemanden, der ihm hilft, die Welt zu tragen, nicht einen, der ihn trägt. Oder wenn schon, dann müßte er ihn tragen, nicht ihn zerlegen; schließlich, auch er ist die Welt, die will getragen sein.

Wenn die Entscheidung immer schon Vergewaltigung der Person ist, die freilich in dem Druck, den sie verkörpert, selbst etwas von einem Vergewaltiger hat, wie sehr muß sie erst die Sache vergewaltigen! Im Sinne von Zen ausgedrückt: Im Augenblick der Entscheidung zerreißt der dünne Faden, der Himmel und Erde verbindet, und er, der die Sache ›verbaselt‹ hat, stürzt in den Abgrund, in den heillosen Zwischenraum zwischen Himmel und Erde.

Er hat den Bogen nicht richtig gespannt.

Andere sehen das natürlich viel harmloser, sogar der Schuldige. Zumindest hinterher ist niemand reizender als er: entspannt, entkrampft, gelassen, ein ruhiger Spiegel der Welt, gegen die er mit Zähnen und Klauen gekämpft hat, als es noch hieß, ich oder die Verhältnisse, und die jetzt wie ein Buch aufgeblättert vor ihm liegt. Als die Entscheidung über ihn hereinbrach, hat er die Welt für den Bruchteil einer Sekunde so gesehen, wie sie ist: ob er sich nun entscheiden muß oder nicht. Als Sturm im Wasserglas stellt sich heraus, was als Drama, unter apokalyptischen Vorzeichen begann, und er, der im Sturm gestanden hat, kehrt nachträglich den tapferen Ritter von der traurigen Gestalt heraus. Wo andere sich vorausschauend zügeln, da kämpft er gegen Windmühlenflügel. Im Grunde ist er stärker als alle.

Für seine Mitmenschen wird er selbst zum Dilemma, so wie er einen anrührt; dabei ist er die Verkörperung von Streß.

Nur schwer zu ertragen. Immer stärker zu meiden.

Daß er womöglich einen objektiven Widerspruch austrägt, für andere mit, diese Erklärung, die doch für ihn werben und mit ihm aussöhnen soll, schätzt er selbst überhaupt nicht. Sowenig, wie er den gegenteiligen Hinweis auf die neurotische Verfassung seiner Schwierigkeiten schätzt.

Er soll nichts sein? Auf seine Problemlösungskompetenz kommt es nicht an? Das soll neurotisch sein? Aber es ist doch so!

Auch von Verzeihen und Verstehen will der Betroffene nichts hören. Allenfalls gestattet er sich selbst, lächelnd, eine ironische Anspielung. Das geschieht in der Erzählform, nicht in der Kritikform, allenfalls in der Reflexionsform, jedenfalls nicht in der ›Tuform‹, vielmehr in der gehobenen Leideform; wenn er die Wunden leckt, notgedrungen betrachtender Stimmung, gewissermaßen in der Nachbereitung ist. Nur sein eigener Kommentar rundet das Erlebnis ab, stellt es nicht in Frage. Ohnehin sind für ihn jene, die ihm verzeihen und ihn verstehen wollen, bei aller Gutwilligkeit nicht auf der Höhe des Problems. Sie sind zu träge. Zu ängstlich. Zu dumm. Zu faul. Zu feige. Zu wenig erfinderisch. Auf eine Art auch zu wenig aggressiv. Anstatt sich einem Problem zu stellen, so wie es ist, nicht wie es die große Geste umreißt, machen sie ihm lieber den Vorwurf, selbst ein Problem zu sein. Anstatt über einem Problem zu verzweifeln, erklären sie es lieber für unlösbar. Ja, wahrhaftig, ein ›objektiver Widerspruch‹ ist für sie eine annehmbarere Vorstellung als das persönliche Scheitern! Auf ihre bescheidene Art sind es hochanmaßende Leute. Da sie nicht anspruchsvoll sind, können sie auch die Anstrengung anderer nicht würdigen. Sie wollen nicht. Oder sie können nicht. Sie sehen das Besondere nicht.

Dabei ist die Welt dessen, der im Dilemma steckt, ein in seine Einzigartigkeit gebanntes Bild. So als hätte er ›Perlicke‹ gesagt, und sie wäre erstarrt. ›Perlacke‹, sagt er, und sie rührt sich nicht.

Die Situation ist verfahren, der Mechanismus blockiert. »Nichts regt sich um ihn her«, wie ein Mühlrad dreht es sich dafür in seinem Kopf. Er sortiert die Gesichtspunkte, schichtet die Argumente um, werkelt ungeschickt an den Verknüpfungen. Er geht zurück, fragt sich, wie alles anfing oder um was es ging. Aber so präzise sein Gedächtnis sonst funktioniert, wo der Grund im Motiv zu suchen wäre, da befällt ihn eine eigentümliche Amnesie. Ratlos stellt er die Reihenfolge um. Am Ende verwirren sich ihm noch die Fakten.

Der Gelähmte schöpft die Kraft zur Lähmung aus der Energie, die aufgewandt wird, um sie zu überwinden – oh, süße Erinnerung an fruchtlos geschlagene Schlachten! Er macht sich den Feind auf archaische Weise zunutze, inkorporiert ihn. Nacht um Nacht vergeht bei dem Transfer der Kraft vom ratlosen Lebendigen ins machtvolle Tote; bis kurz vor jenen Punkt, an dem die Nichtentscheidung selbst zur Entscheidung wird. Da fällt die Entscheidung auf einmal ganz leicht. Was einem die Verhältnisse aus den Händen winden, kann doch nicht so wichtig sein. War wohl zu hoch angesetzt, das Ganze.

Im klassischen Dilemma, das als Gipfel sophistischer Streitkultur in Erscheinung tritt beziehungsweise als einziges von ihr übriggeblieben ist, ist das Subjekt als formaler Urheber einer schicksalsträchtigen Frage in höchst obliquer Weise präsent. Das unlösbare »Soll ich oder soll ich nicht?« ist die absurde Folge. Wo das Subjekt gefordert ist, kann es schon aus Gründen der Nomenklatur nicht um ›Sein oder Nichtsein‹ gehen; wo es um letzteres geht, nicht um das Subjekt. ›So oder so‹ ist bloß für den Neurotiker eine Frage von Nichtsein oder Sein. Sein Dilemma konstituiert sich aus der größtmöglichen Souveränität, der unumschränkten Verfügung über – nichts. Er selbst ist das heimliche Etwas. Als Substanz wird es der Neurose überantwortet. Je mehr sich der Neurotiker engagiert, desto radikaler ist er mit seiner Frage allein.


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