Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt der Hexe

Sie ist zu Unrecht exkulpiert worden – von Aufklärern, die ihr die Dämonie, von Geschlechtsgenossinnen, die ihr die Bosheit nicht gönnen wollten. Wie immer war das erste Urteil richtig: Sie ist eine Hexe, und sie gehört verbrannt.

Wenn unsere Hexe geboren wird, denkt sie, die Welt gehört ihr. Ihr Leben lang wird sie versuchen, das verlorene Terrain zurückzuerobern; da es im Bösen nicht geht, muß sie es im Guten probieren. Durch Fürsorge, Betreuung und Bekehrung, angetrieben durch praktische Nächstenliebe und einen unbändigen Organisationsdrang, kombiniert mit Talent, wird sie sich bemühen, dienend in Besitz zu nehmen, was ihr längst gehört, worauf sie einen Titel hat. Rundheraus gesagt, wäre sie das Musterexemplar einer Frau mit Ambitionen, wäre da nicht eine private Erdung, die den Elan bricht, anstatt ihn zu beflügeln, und wären da nicht Herrschsucht und Rechthaberei, die die Uneigennützigkeit ins Zwielicht tauchen.

Je intensiver sie sich den Menschen zuwendet, desto mehr wird sie akzeptiert, ja geliebt. In der spröden Schale steckt ein generöser Kern. Dennoch kommt es zu verstörenden Konfrontationen. Viele fühlen sich benutzt, nachdem sie anhaltend versorgt und gepflegt worden sind. So als hätten sie sich ahnungslos auf den Lieblingssessel der Katze gesetzt, und diese wäre ihnen auf den Schoß gesprungen; von der Katze aus gesehen: Hauptsache, der Platz stimmt. Sie fühlen sie sich geehrt, aber wehe, wenn sie aufstehen, um an ihre Geschäfte zu gehen. Da fährt sie ihre Krallen aus, blitzschnell fährt ihnen ihre Pfote ins Gesicht. – Eine Ohrfeige, autsch!

So gleitet auch die Hand der Hexe über die Sorgen der andern Menschen, mal zart, mal mit Krallen und gefährlich; insgesamt eher ordnend als beschwichtigend, weniger streichelnd, als erspürend: man will ja fühlen, was einem gehört! Versucht man, sich der Berührung zu entziehen, faßt sie blitzschnell nach dem Gelenk, drückt mal kräftig, prüft die schwächliche Moral, das bedeutet: Wenn du mich nicht hättest. Autsch, jaulst du, autsch!

Nicht daß sie etwas gegen dich persönlich hätte; obwohl, man könnte ebensogut sagen, es ist rein persönlich, du stehst ihr im Licht. Du widersetzt dich; achtest nicht ihrer höheren Bestimmung – weiß der Himmel, worin diese besteht! Magst du dich noch so harmlos und kultiviert gebärden, in Wahrheit bist du ein Heuchler, kurz, du willst ihr was wegnehmen! Manchmal freilich hast du das Gefühl, als blinzelte sie dir verschwörerisch zu. Nimm das Ganze nicht so ernst, scheint sie zu sagen, es ist ja nur meine Rolle, soll heißen, sie tut doch nur, was sie muß. Denn ein Herrscher ohne Volk ist wie ein Haus ohne Bewohner. (Und ein Bewohner ohne Haus?) Bist du auf sie angewiesen, schutzlos und hilfsbedürftig, wie du nun einmal bist, so ist sie nicht weniger auf dich angewiesen; die Form braucht nun mal die Materie. Ihr Vorschlag: Erkenne die natürliche Ordnung an. Ihr Versprechen: Du fährst nicht schlecht dabei.

Wie vorsichtig du mit ihr auch umgehst: entweder du verlierst dich, oder du verfängst dich. Und dann herrscht Krieg. Ein Kampf nicht um Argumente, sondern um Rechte findet statt. Da zählt es mehr, daß das Revier markiert, als daß mit Worten um Perspektiven und Standpunkte gerungen wird. Hauptsache, der Anspruch wird demonstriert. Tatsächlich geht es weniger um Grundsätzliches als um Primitives, weniger um Elementares als um Archaisches. Und es geht auch gar nicht so sehr um Ideologisches oder um Materielles; nicht auf den Besitz, sondern das In-Besitz-Nehmen kommt es an. Es geht eben auch nicht um Sprachliches, wie der bestürzt feststellen muß, der über nichts als eben über Worte verfügt. Es geht, um es herauszusagen, um so etwas wie die Wiedergeburt der Engel. Nichts ist groß verändert, aber sie, die Hexe, das traurige Fossil, im physischen und moralischen Sinn verjüngt, wie rosig überhaucht.

Jemand hat ihr die Welt zu Füßen gelegt, damals. Aber nicht alle wollen es wahrhaben, und nicht alle wollen sich fügen. Sie glaubt, sie machen ihr den Platz streitig; sie kann sich nun einmal nicht vorstellen, daß die Welt nicht voller Hexen ist. Verweigert jemand die Auseinandersetzung, verbucht sie das als einen besonders niederträchtigen Schachzug. Da will sie jemand als Hexe abstempeln, wo sie doch nur mit älteren Rechten und im Grunde auch mit den besseren Karten ausgestattet ist; deshalb greifen die andern ja zu ihren perfiden Methoden.

Kinder kommen nackt auf die Welt. In anständigem Gewand in die Grube zu fahren ist ihr Lebenssinn. Mit nichts fangen sie an, mit allem versehen scheiden sie aus dem Leben. Auch die Hexe wird nackt geboren, gewiß. Aber auf ihr ruhen die entzückten Augen des Vaters, er spielt mit ihren Fingern, sonnt sich im Wunder der Wiedergeburt, sieht sich vollendet. Wenn sie auf die Welt kommt, stellt er das Empfangskomitee. Er liebt sie bereits, wenn die Mutter von den Schmerzen der Geburt noch gedemütigt ist, entsetzt über die Häßlichkeit des Neugeborenen, enttäuscht, daß es bloß eine Tochter ist. Bestellt er die Musik, so läßt sie die Parzen hereinschlüpfen. Mißgunst und kleingeistiger Neid werden dem Glückskind das Leben vergiften.

Da ihr vorbehaltlose Liebe vom Vater entgegengebracht wird, wird sie in ihm zuerst den Mann und dann den Vater erblicken; in der Mutter dagegen zuerst die überflüssige Frau und dann erst die unentbehrliche Mutter. Mühsam lernt sie, deren Rechte zu akzeptieren und den Mann zu teilen. Aber immer wird sie in der Mutter den Ersatz sehen, die Gattin zweiter Wahl, gewissermaßen die juristische Frau. Dabei ist sie selbst man möchte sagen von Geburt an bürgerlich, und es gibt niemanden, der an die Kategorien von Liebe, Ehe und an die Rolle der Gattin so bedingungslos glaubt wie sie – wahrhaftig, sie ist als Gattin auf die Welt gekommen!

Sie würde sich die ganze Welt zutrauen. Aber erstens läßt man sie nicht so, wie sie will, da sie eben dies seltsame Talent hat, gewisse Dinge als ihr zustehend zu betrachten und sich damit erhebliche Mißhelligkeiten zuzuziehen. Und zweitens, wenn sie sagen wir Präsidentin des Akademikerinnen-Vereins oder Aufsichtsratsvorsitzende eines Konzerns würde – wozu sie allerdings den Kopf, aber seltsamer Weise nicht den Mumm hat –, dann würde ihre wesentliche Bestimmung verdunkelt. Sie ist eben nicht nur die geborene Managerin und Menschenführerin, sondern die Herzensfreude ihres Vaters, ein Geschenk vor allem an ihn. Dieser Rangfolge verdankt sie ihren hochfahrenden Ton, aber er verurteilt sie zugleich zu einer introvertierten Existenz und wenn nicht zu einem besinnlichen, Leben, so doch zu einer innerlichen Lebenshaltung. Tatsächlich haftet ihr etwas in sich Gekehrtes an; Ahnungslose fragen sich vergeblich, woran sie denkt. Wäre sie extrovertiert, wie ihre Talente es ihr vorgeben, dann könnte man sie mit jeder x-beliebigen Frau verwechseln, die ihre Erfüllung in der Karriere findet und es dem Mann nachtut: die Leiter Sprosse für Sprosse hinaufsteigt. Aber wer auf dem Thron geboren wurde, hat keinen Sinn für das Abenteuer des Kletterns.

Obwohl mit kaltem Rechenvermögen und kluger Umsicht ausgestattet, durch und durch ein planender Verstand, ein klarer Kopf und organisatorisches Talent, wird sie daher nicht den spektakulären, sondern den stillen Berufen zuneigen; Wunder genug, daß sie nicht Nonne wird! Dabei bleibt nicht aus, daß sie unter den Bedingungen gewaltsamer Zurückgenommenheit ein wenig seltsam wirkt, wie ein Apparat, dessen Schaltplan verloren gegangen ist, hat sich ihre Begabung doch keineswegs in nichts aufgelöst, und es ist deshalb auch nicht anzunehmen, daß sie ihre Ansprüche aufgegeben hat. Immer noch hat sie unbändige Lust, eine Sache zu durchdringen, auch ein ungestilltes Bedürfnis nach Anerkennung. Freilich, ihre Welt ist so still, daß einem schon unheimlich wird, leitet sie doch nicht Aktionärsversammlungen oder Interessenverbände, sondern leitet zur Meditation an, dringt auf Selbsterfahrung, erspürt im Gegenüber das Mikrokosmische, Unsichtbare, die schemenhafte Regung; läßt es ihn selbst erspüren. Sie wird dem Stummen ihre Stimme leihen (vielleicht tönt die deshalb so laut, weil sie nämlich immer und immer nicht gehört wird). Dem ohnmächtig Empfundenen wird sie ihre Sprache leihen (und vielleicht ist die deshalb fordernd, schrill, eben wie unter dem Befehl einer fremden Empfindung). Dabei kann sie das Drakonische nicht ablegen, das Raumgreifende und Besitzergreifende, so daß eine unklare Aura von Mißgriff und Übergriff entsteht.

Bei alledem ist die Hexe die Spießerin par excellence. Die Attitüde der Unangepaßten täuscht. Nichts wäre verkehrter – und nichts liegt näher –, als das Widerständige ins Revolutionäre zu verlängern. Die Distanz der Hexe zu den bestehenden Verhältnissen verdankt sich ihrer Gebundenheit. Aus ihr speist sich in eins ihre Gehemmtheit und ihre Kraft. Sie macht sie immun gegen die aktuellen, modischen Verführungen, verleiht ihr die Aura der Freiheit, wo sie doch mehr als alle andern gefangen ist, die Aura des Besonderen, ihr, die der Konventionalismus förmlich durchdringt, nicht nur der naturhafte Konservatismus, der auf die Familie zielt, auf Vater, Mutter, Kind, sondern der gesellschaftliche, der von der inneren Bestimmung tönt.

Nichts liegt ihr ferner, als die Welt umzukrempeln. Sie braucht sie vielmehr, um das Geheimnis, aus dem heraus sie agiert, das ständige Drama der Inbesitznahme und Wiederaneignung vorzuführen. Deshalb hängt sie auch an den Menschen und den Verhältnissen mehr als andere, muß sich mit den letzteren arrangieren, muß die ersteren brüskieren. Da es um eine keineswegs sublimierte, sondern bloß ins Innere abgedrängte Bestimmung geht, braucht sie die äußerliche Welt, um auf die innere hinzuweisen; die Welt bleibt ihre. Da sie auf das Besondere hinauswill, das in ihr steckt, braucht sie die Welt so, wie sie ist: konventionell. Nichts, aber auch gar nichts liegt ihr ferner, als sie zu ändern. Umsturzpläne, die verheißungsvoll in ihr zu rumoren, nur noch nicht zu Wort und Begriff gekommen scheinen, sind ihr nicht nur völlig fremd, sondern lenken eher von ihr ab, machen ihr Konkurrenz. Nie fühlt sie sich lebendiger, beweglicher, doppelbödiger als im damenhaften Kostüm. Guckt mal, ruft sie, sich neckisch um sich selbst drehend, wie findet ihr meine Verkleidung?

Mit der Verkleidung meint sie es ernst, obwohl sie genauso aussieht wie eine Frau ihres Alters und Einkommens nun einmal aussieht; das Äußerliche weißt dem Inneren den Weg, da will es hin. In allen bürgerlichen Ehren möchte sie sein, was sie ihrer innersten Bestimmung nach ist. (Leider kann man den Satz auch umdrehen.) Unverdrossen arbeitet sie daran, daß Ideal und Wirklichkeit sich im jeweils anderen erkennen. Manchmal hat sie das Gefühl, noch klein zu sein; dann muß sie eben wachsen. Ein andermal findet sie sich groß unter lauter Kindern. Habe ich mich nicht hübsch verkleidet! ruft sie ihnen zu. Wenn niemand weiß, daß ihre Verkleidung echt ist, dann ist es eben: Verkleidung.

Immer wird der Hexe der Nimbus anhängen, sie hielte es im Grunde mit Frauen. Dadurch erscheint sie reizvoller und gefährlicher, als sie ist, zugleich leblos – kein Wunder, auf diesem Feld blüht sie nicht. Die Leute denken es nur von ihr, auch sie denkt es womöglich von sich, aber so, wie man über Denkstoff denkt, eher beschaulich. Zwar spielen Frauen in ihrem Leben eine große Rolle, und ob in die Phantasie sich nichts Gleichgeschlechtliches einschleicht, ist nicht gewiß. Da aber der Vater die erste und einzige Privatangelegenheit ist, haftet auch dem vertrautesten Umgang mit Frauen etwas Gesellschaftliches an, geht über das intime Gespräch nicht hinaus.

Das Alter der modernen Hexe – sofern Gott und ihre Feinde ihr gestatten, es zu erreichen – ist gnädiger als vielleicht bei andern Menschen. Ihre Bestimmung wird schwächer in dem Maß, in dem ihre Kräfte schwinden. Nicht nur das Leben, auch ihre Bestimmung rinnt aus ihr heraus. Ihre Unduldsamkeit nimmt ab, ihre Herrschsucht, ihre Einmischungswut. Frei geworden, wendet sie sich der Vergangenheit zu, schwelgt in Erinnerungen, die den bitteren Geschmack der Niederlage, den bitteren Geschmack des Wollens verloren haben, jetzt –neutral schmecken. Während andere sich mit dem unauflösbaren Widerspruch quälen, ständig weiser und dabei schwächer zu werden, und am Sinn des Lebens verzweifeln, lebt die Hexe zum ersten Mal in ihrem Leben im Einklang nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit andern. Sie hat ein Alter erreicht, in dem die qualitative Differenz, auf die sie ihr Leben lang Anspruch erhob, sich nicht mehr auswirkt, also auch nicht mehr erkämpft und ertrotzt werden muß. Das gewaltige Problem der Anerkennung hat sich erledigt.

»Seltsam«, sagte einmal eine Frau zu mir, die ich schon länger im Verdacht hatte, zum edlen Geschlecht der Hexen zu gehören, »ich glaube, ich habe mein Leben verträumt.« Es klang gar nicht traurig, nicht einmal richtig bedauernd. »Aber«, setzte sie in einer Anwandlung der alten Angriffslust sogleich hinzu, »ich habe immer gemacht, was ich wollte.«


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