Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Nach Hause und zurück – Porträt einer Heimkehr

(Nach der eigenen Erzählung In einem Jahr, Berlin: Reiner Matzker, 1986.
Der Text ist vor 1995 verfaßt.)

 

Eine Frau gerät in einen psychischen Ausnahmezustand. Ihr Freund ist gestorben, der Mann, mit dem sie in verläßlicher Weise zusammengelebt hat. Ein monatelanger Albtraum ist zu Ende, eine Zeit voller Angst, sinnloser Hoffnung und wachsender Resignation, die am Ende von Erleichterung nicht mehr zu unterscheiden war. Durch chronischen Schlaf- und Nahrungsmangel, tagelange Einsamkeit auf Krankenhausfluren und Parkbänken, am Bett ihres bewußtlosen Freundes ist sie in einen Mangelzustand geraten, den sie freilich als Hochstimmung wahrnimmt. Immerhin ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben über ihren Schatten gesprungen, hat sich über ihren von Vorbehalten und kleinlichen Bedenken gekennzeichneten Charakter hinweggesetzt und in eine rückhaltlose Symbiose mit ihrem sterbenden Freund begeben. Zugleich hat sie sich in einem ihr bis dahin unbekannten Maß mit sich selbst beschäftigt, so daß sie gar nicht umhin kann, die Krankheit ihres Freundes als ein auf sie gemünztes bedeutsames Ereignis und seinen Tod wenn nicht als Befreiung, so doch als Beginn einer neuen, vielversprechenden Existenz zu begreifen, die sich in den Koordinaten einer geschärften Selbstwahrnehmung, eines ausdrücklicheren Glücksverlangens entfalten soll.

Obwohl es ganz unmöglich ist, an dem Zustand, in den die Frau geraten ist, den bedrohlichen Zug zu verkennen, so hilft er ihr doch wesentlich über die erste kritische Zeit nach dem Tod ihres Gefährten hinweg. Mit einem neuen Egoismus, im Vollgefühl des persönlichen Opfers, das sie in den zurückliegenden Monaten gebracht hat, unterbricht sie ihre Berufstätigkeit, läßt sich zum ersten Mal in ihrem Leben einen Kuraufenthalt verschreiben und fährt nach Pyrmont. Ohne genau zu wissen, was sie tut, nur in einem ungewöhnlichen Zustand der Erwartung, der in ihrer ebenso ungewöhnlichen Erregung begründet ist, tut sie das einzig Richtige, läßt den Alltag, dem sie in ihrem Zustand ohnehin nicht gerecht werden kann, im Stich und ihrer Erregung damit Zeit abzuklingen und ihrer Erwartung, sich zu verbrauchen. Wie eine läufige Hündin, nach ihrem eigenen, aber beileibe nur innerlichen Gefühl, streicht sie durch den Kurort, im Bann einer halluzinierten Zweisamkeit, die ihr jeden Vorübergehenden an die von ihrem Freund geräumte Seite stellt. Nachts, wenn sie nicht schlafen kann, träumt sie sich in die feudalen Zeiten des Badelebens zurück. Der überreizte Zustand ihrer Nerven erscheint ihr wie ein Beweis ihrer natürlichen Zugehörigkeit zu den prominenten Gästen von einst. Erst gegen Morgen, wenn der Lärm des Berufsverkehrs anschwillt, schlummert sie erleichtert ein. Dem Personal, das von den ausgedehnten Unterbrechungen ihres Schlafs keine Ahnung hat, erscheint sie in ihrer vertrauensseligen, durch keine Arbeitsgeräusche, keinen Kummer zu beeinträchtigenden Langschläferei selbst wie ein Relikt aus früher, aristokratischer Zeit, geradezu ein wenig verdächtig.

Aber nicht groß genug ist ihre Euphorie, daß sie die Trostlosigkeit des vorfrühlingshaft kalten Kurorts nicht empfände. Sie kann sich ihre Isolation nicht verhehlen, die Tatsache, daß es Abgründe gibt zwischen ihr und den spärlich vorhandenen andern. Jetzt meint sie es ganz deutlich zu erkennen, daß zu Hause in der vertrauten Stadt die Chance auf sie wartet, die der Kurort mit seiner endlosen Muße nur scheinbar für sie bereithielt. In einem Anfall von Heimweh bricht sie die Kur ab, Erleichterung hinterlassend bei denen, die für sie verantwortlich waren und ihre Unansprechbarkeit, ihre geheime Reserve, ihre mangelnde Kurbereitschaft sattsam kennengelernt und mit einem unangenehmen Ausgang, hervorgerufen durch eine schon krisenförmig zugespitzte Nahrungsverweigerung und die zügellose Schlafsucht, gerechnet hatten.

Heimgekehrt, kann sie nicht umhin, die gröbsten Auffälligkeiten zu lassen und sich wieder einzuleben. Zwar eilt sie gleich nach ihrer Rückkehr auf den Friedhof, so als könnte sie dort am ehesten an den euphorischen Zustand der letzten Wochen und Monate wiederanknüpfen. Aber schon kann sie das Grab ihres Freundes, das erste und einzige, das sie auf dem Friedhof zu besuchen und zu pflegen hätte, nicht mehr finden und rennt, als sie die neugierigen Blicke der routinierten Friedhofsbesucher auf sich gerichtet fühlt, in Panik davon. Nicht ohne Ressentiment beschließt sie, den Friedhof aufzugeben. Sowenig es ihrem Freund zu seinen Lebzeiten gelungen war, ihr einen festen Platz im Leben zu verschaffen, sowenig hat er offenbar durch seinen Tod ein Besuchs- und Aufenthaltsrecht auf dem Friedhof für sie erworben. Mit einem nur durch die Undeutlichkeit der Erinnerung gemilderten Grauen denkt sie an die Beerdigung zurück, die so gar nichts von einem feierlichen Begräbnis hatte und ihr nicht nur die eigene, sondern auch die mangelnde Verwurzelung ihres Freundes drastisch vor Augen führte. Im Stupor ihrer tränenlosen Ergriffenheit hatte sie sich nicht gemerkt, wohin eigentlich der kleine Zug ging, und klaglos trennt sie sich jetzt vom Projekt einer Verwurzelung durch Grabpflege. Einen Moment spielt sie mit dem Gedanken, alles aufzugeben und in einem übersprunghaften, die letzten zwanzig Jahre auslöschenden Entschluß, zu ihren Eltern in die Kleinstadt zurückzuziehen, es sich in ihrem Häuschen bequem zu machen und das Erbe im Vorgriff anzutreten. Das Projekt hat etwas Verlockendes, überwältigend Einfaches, zumal es ihr vorkommt, als wenn sie aus der Stadt spurlos verschwände. Aber sie ist die großen Entschlüsse leid, fürs erste jedenfalls. Außerdem ist ihre Ärztin drauf und dran, sie gesundzuschreiben, und sie will auch wieder arbeiten. Sie hat ihre Wohnung in Augenschein genommen und voller Erinnerungen gefunden. Sie weiß, was sie auf ihrer Arbeitsstelle erwartet. Sie will in ihrem Bett schlafen, ihren provisorischen Haushalt versorgen. Sie denkt nicht daran, mit dem bißchen Leben, das sie zu verwalten hat, kurzen Prozeß zu machen. Sie ist süchtig nach Alltag.

Insgeheim ist sie neugierig, wie sie sich einrichten wird. Zwar neigt sie dazu, ihr Leben für unbedeutend und sich selbst für erfahrungsunfähig zu halten; wenn sie sich ihrer eigenen Nichtigkeit nicht so bewußt wäre, würde sie sagen für hysterisch. Jedenfalls ist sie hilflos, sobald sie sich nicht nach dem Urteil eines Partners richten kann. Andererseits hat sie Ressentiments so gut wie jeder andere, und aus denen müßte sich doch so etwas wie eine Richtschnur gewinnen lassen. Sie hätte ums Leben gern herausgefunden, ob sich hinter ihnen etwas anderes als mangelnde Tatkraft, eine umfassende Kontaktschwäche und grundlose Ängstlichkeit verbarg. Immerhin lebt sie schon seit Jahren allein, wenn sie auch den größten Teil der Zeit mit ihrem Freund verbracht hat. Sie hätte gern gewußt, ob die Abhängigkeit von einem Gefährten genauso hart beurteilt werden mußte wie die von den Eltern oder ob sie womöglich etwas von ihm gelernt hat, was sie von ihnen nicht lernen konnte; wenn es darauf ankam, nämlich, ohne ihn zu leben. Der Himmel mochte wissen, wie das gegangen war. Wahr war es trotzdem, und sie hat es ja auch gelernt, nur dazu stehen muß sie noch. Manchmal kommt es ihr vor, als wenn nicht ihre Unabhängigkeit, sondern ihre Ängstlichkeit eine Chimäre wäre, eine Übereinkunft zwischen ihr und ihr über sich, reine Konvention. Sie hätte das ums Leben gern herausgefunden, und zwar nicht bloß aus theoretischer Neugier oder aus allgemeinen Überlebensgründen, sondern weil ihr schwant, daß sich hinter dieser vagen Möglichkeit die konkrete Utopie ihres künftigen Lebens verbirgt.

Dazu kommt, daß sie dem Geheimnis ihres Verlusts auf der Spur ist. Sie ist der festen Überzeugung, daß ihr das am ehesten gelingen wird, wenn sie eine Weile allein lebt, aber nicht, weil sie dann zu spüren bekommt, was sie an Partnerschaft verloren hat, sondern weil sie nie einsamer gewesen ist als mit ihrem Freund oder weil nie jemand so einsam gewesen ist wie sie beide zusammen. Hätte sie je den leisesten Zweifel an den äußeren Umständen gehabt, das elende Häuflein bei der Beerdigung würde ihn beseitigt haben. Und was die inneren Umstände betraf, die zwischen ihm und ihr, da nützte es wenig, daß ihr Freund sein Leben ewig mit ihr hatte teilen wollen. Nicht nur, weil es sich hierbei bereits um eine beschönigende Einschätzung von diesseits der Krankheit handeln mochte, mit der Betonung auf ›ewig‹. Wer mit dem Leben, das sie führten, zufrieden war, der mußte einsam sein. Nicht so wie sie, die zwischen ihren Träumen umherirrte und allenfalls durch einen Kuß zum Leben erweckt werden wollte, sondern in einer zugegebenermaßen düsteren Übereinstimmung von Gefühl und Tatsachen. War er nicht heimatlos, ein Flüchtling, ein Geretteter und auf der Ebene des Überlebens so bei sich wie sie auf ihrer Ebene verloren?

Sie zieht ihre älteste Strickjacke an, die mit den ausgebeulten Taschen, die ihr beinahe bis in die Kniekehlen hängt, und geht hinaus. Im Vollgefühl der Verantwortung reißt sie die Augen auf, erstaunt, daß sie sich traut, und glücklich über die Ruhe in ihrem Innern; wäre sie nicht glücklich, sie würde meinen, sie hätte keins. Für gewöhnlich hat sie eine schlechte Orientierung. Wenn sie mit ihrem Freund zusammen war, hatte sie es nicht nötig, sich umzusehen, und wenn sie allein ging, fand sie sich nicht zurecht. In ihrem neuen Realismus nimmt sie die Orte ihrer früheren Niederlagen in Augenschein, mustert amüsiert den Nachtbriefkasten, bei dem man ihr auflauern, die Kreuzung, an der sie selber schuldig werden konnte. Technische Phantasien, die ihr so gar nicht ähnlich sahen, hatten sie geplagt: wie sie jemanden im rechten Augenblick schubsen, ihm ein Bein stellen würde, so daß er unters Auto, sie selbst unentdeckt davonkam. Mit der Miene eines ethnologischen Forschungsreisenden betritt sie das armselige Kino-Foyer, schnuppert den vertrauten Geruch nach muffigem Tapetenzeug und verbrauchter Luft und spürt für einen Augenblick nicht nur die Unfreiheit der letzten, in falscher Genügsamkeit verbrachten Jahre, sondern auch die jener ersten davor, in denen sie vor lauter Angst und Krampf gar nicht gelebt hat, dafür mit geradezu lasterhafter Regelmäßigkeit ins Kino ging.

Ihr Blick fällt auf das Plakat von einem Hollywoodfilm, einem Dokument hellenistischen Zerfalls und jedenfalls nichts weniger als eine ziselierte Komödie. Sie errötet, wenn sie an diese Zeit denkt, in der sie sich in jeden x-beliebigen vergaffen konnte, wenn er nur fremd war. Das mochte ein Filmstar oder sonst wer sein, der in eine äußerliche Verrichtung wie sein Fahrrad abzuschließen oder einen Bus zu lenken vertieft war. Seine geheimnisvolle Anziehungskraft machte ihr die Liebe zu einem Schicksal und den vertrauten Umgang ihres Freundes verächtlich, während sie für den Verrat mit peinlicher Abhängigkeit und verdoppelter Anhänglichkeit büßte.

Nie war ihr der zielbewußte Ausdruck seiner Liebe so unverständlich wie in dieser späten Zeit, als ihre Wünsche sich schon wieder selbständig machten und sie von einer Zukunft träumte, in der sie mit einem Fremden davonginge, während der Freund von Tag zu Tag sich unbefangener in ihrer Nähe einrichtete. Er hatte keine Ahnung, daß sie aus den bedeutungsschweren Blicken und Berührungen, deren Zeuge sie im Kino gewesen war, die erotische Realität herausfilterte, und fühlte nicht, wie es sie überlief, wenn sie das triviale Bild synthetisierte, und ihr Körper angesichts der Vorstellung einer unerhörten Vereinigung sich aufbäumte. Merkte er nicht einmal, wenn er mit ihr schlief, daß sie in ihren Gedanken woanders war? Vielleicht glaubte er, sie hätte mehr davon, wenn sie sich abwesend und widerständig gab, wie ein Paket, das man beim Umschnüren festhielt, damit es nicht zurückkippte. Womöglich spürte sie nur dann ihren Körper, wenn er in Besitz genommen wurde, aber sie nicht. Befremdet stellte sie fest, daß ihr Freund sich bei ihr besser auskannte als sie, auch wo er nicht recht, dafür aber eine Vorstellung hatte, und das war erheblich mehr, als sie von sich sagen konnte.

Zu ihrer Verblüffung rächte sich das permanente Mißverständnis, in dem sie miteinander lebten, nicht. Als das Unglück über sie hereinbrach, erwies sich die Symbiose als intakt; war etwa die Täuschung bloß Täuschung gewesen? Sie war nicht verdorben genug, sich einen Helferkomplex zu unterstellen, ebensowenig wie sie auf die Idee gekommen wäre, mit ihren Zicken hätte sie den Freund in die Krankheit getrieben. Während sie in den Wechselfällen eines am Ende von Hoffnungslosigkeit gekennzeichneten Verlaufs die Balance zu wahren versuchte, meinte sie bei sich gelegentlich die Konturen einer neuen, weniger armseligen Person zu erkennen. Aber unter der Erschöpfung und Resignation trieb die Entwicklung nur vermeintlich der Apotheose, in Wirklichkeit der Zerrüttung entgegen. Als ihr Freund starb, flatterten ihre Phantasien wie von einem lästigen Gewicht befreit wieder auf, erhoben sich die zurückgedämmten Stimmen in ihrem Innern, und das Sicherheitssystem brach zusammen.

Überwältigt von Erinnerungen, staunt sie über ihre Tagträume, die sich buchstäblich von Film zu Film hangelten, ohne daß die Wirklichkeit sich störend dazwischenmengte. Sie spürt, daß es schwer werden wird, etwas dagegenzusetzen, zumal ihr dank langdauernder Gewohnheit die Fähigkeit abhanden gekommen ist, anderen Bereichen des Lebens ein Interesse abzugewinnen. Zwar ist sie nicht unempfänglich dafür, daß die Leute ihre neue Ansprechbarkeit erkennen und auf sie zugehen. Aber die Begegnungen bleiben blaß. Gewissenhaft und weil sie nichts anderes von sich zu erzählen weiß, berichtet sie vom Tod ihres Freundes und wartet nicht ohne Neugier, wie er sich in der Reaktion der andern spiegeln wird, ob er Kontur gewinnt. Vielleicht, daß sie so etwas über sich erfährt. Aber noch während sie erzählt, verflüchtigt er sich zu einem Element des Small talk, der unterschwelligen Ruhmrednerei. Sie kann es nicht verhindern, daß sie mit ihrem Verlust protzt, und verachtet sich dafür, aber auch die andern, denen sie vorübergehend interessant wird. Sie möchte, daß man auf sie eingeht, aber nicht, daß man auf sie hereinfällt. In seiner geradezu skandalösen Harmlosigkeit hat ihr Freund nie aufgehört, an ihren Wirklichkeitssinn zu appellieren. Er hat sie mit ihren Phantasien allein gelassen und sie dadurch vor sich selbst bloßgestellt und ihre Wut auf sich gezogen. Aber von folie à deux konnte keine Rede sein. Sie ist entschlossen, das strapaziöse So-tun-als-Ob aufzugeben und nichts mehr mitzutragen, was sie nicht mit ihren eigenen Kräften aufrechterhalten kann, auch wenn sie dadurch noch sparsamer in ihren Lebensäußerungen wird. Offenbar bildet Realismus sich entschieden weniger im Zulassen von Erfahrungen als im Abbau von Illusionen heraus und führt weniger zu einer verläßlichen Einrichtung des Lebens als vielmehr zu einer unleugbaren Reduktion, einer schon beklemmenden Verarmung.

Sie lebt sich ein, und zwar nicht schlecht. Allein, festzustellen, daß das Leben weitergeht, ist für sie eine alles andere als selbstverständliche Erfahrung. Ihr schwant, daß sie von erträglichen Umständen kaum mehr als das entsprechende Urteil trennt. Vielleicht mangelt es ihr ja bloß an der rechten Einstellung, wer weiß. Als ihr Betrieb zumacht, läßt sie nichts anbrennen und leitet sogleich eine Umschulung in die Wege, die sie weiterhin an den Ort binden wird; kaum daß sie sich Gedanken macht über den Verlust eines Arbeitsplatzes, an dem sie ausgebildet wurde und zwanzig Jahre tätig war. Ihre Eltern sollen nicht denken, daß sie jetzt verfügbar sei. So als wollten sie der Tochter deren Verlust vor Augen führen, stellen sie ihre liebevolle Beziehung, sie hätte beinahe gesagt, zur Schau. Früher, oder ihr gegenüber, eher kühl, sind sie unter dem Druck von Alter und Krankheit zusammengerückt und jetzt nur noch auf ihre gegenseitige Schonung und Pflege bedacht, während die Tochter sich einseitig beruflich orientiert; so als glaubte sie, denkt sie unwillkürlich die Gedanken der Mutter, sie bliebe ewig unabhängig, müßte keine Abstriche machen und sich nicht zur Nächstenliebe bequemen. Dabei sind ihre Eltern, soweit sie zurückdenken kann, in ihrem Beruf aufgegangen und haben sich auch bei der Tochter vor allem für das Fortkommen, weniger für das Wohlergehen interessiert und erst in dem Moment – beinahe sieht es so aus –, wo diese sich den elterlichen Standpunkt zu eigen macht, die Fronten gewechselt. Litte sie an Verfolgungswahn, könnte sie meinen, sie habe es mit einer Parodie ihres eigenen Verhaltens zu tun; wobei sie nicht weiß, wer letztlich das Abziehbild ist, womöglich nämlich sie, die nicht nur alles falsch macht, es vielmehr auch zur Unzeit erlebt. Verschwörungstheorien sind ihr denkbar fremd, und was ihre Eltern betrifft, würde sie sich eher über böswilliges Im-Stich-Lassen als über Klammern und Verfügen beklagen. Aber wenn sie ihrer Mutter zuhört, die von ihrem kranken Mann so berichtet, wie sie selbst Monate zuvor vielleicht von ihrem Freund berichtet hat, dann kommt es ihr vor, als wohne sie der authentischen, freilich durch Anspielungen ironisch gebrochenen Aufführung eines Stücks bei, das sie selbst unautorisiert nachgestellt hat, dafür im Brustton der Überzeugung. Für ihre Mutter gäbe es keinen Zweifel: Schuld an solchen Zweideutigkeiten kann nur die mangelnde Legitimität eines Verhältnisses sein. Aber diese Erklärung lehnt sie natürlich ab. Nicht die Sicherheit der Beziehung, sondern die Sicherheit der Liebe hat gefehlt, die ja keine fröhliche, sondern eine dem Leben sowieso, aber auch sich selbst gegenüber ängstliche, in ihrem eigenen Kern unerlöste Liebe war. Wenn diese Liebe zum traurigen Ende hin dann Züge einer verläßlichen Zuneigung annahm, so bedeutet dies doch nicht, daß nicht Unreife das Fundament der Beziehung gewesen wäre und Verstörung – anstatt Trauer – nicht das Hauptkennzeichen der späteren Gefühle.

Als sie die letzten Lebenstage ihres Vaters an der Seite ihrer Mutter verbringt, die Heroisches leistet, begreift sie, daß nicht angemaßte Klugheit, sondern Ökonomie das leitende Prinzip der Aufopferung ist; man kann das auch Pflicht oder Liebe nennen. Erleichtert atmet sie auf. Es war kindisch von ihr zu glauben, die Mutter könnte noch immer die Hände nach ihr ausstrecken, und gleichzeitig gekränkt zu sein, wenn sie es nicht tat. Auch in ihren demonstrativsten Einmischungen beschreibt sie doch nur den eng gewordenen Kreis ihres Lebens. Übergriffe kommen sowenig in Frage wie Anleihen. Das ist kein Prinzip, das man übernehmen kann, wenn einem etwa die Begrenztheit der eigenen Kräfte noch gar nicht in den Blick gekommen ist. Auch wenn später alles auf dasselbe hinauslaufen wird, noch gibt es Unterschiede. Derweil die Mutter sich bereits mit Ökonomie begnügen darf, muß die Tochter erst noch einen Sinn entwickeln.

Nach dem Begräbnis ihres Vaters drängt es sie nach Hause. Die intensive Zeit, die sie mit ihrer Mutter verbracht hat, ist einer heilsamen Trennung günstig, das muß sie nutzen. Außerdem haben die Aufregungen sogar die krisenfeste Ökonomie ins Wanken gebracht; Müdigkeit macht sich im elterlichen Haus breit und bedroht die vorhandenen Kräfte mit Lähmung. So macht sie sich mehr oder weniger davon, in der sicherlich nicht falschen Überzeugung, daß ihre Mutter sich in den heiklen Fragen des Überlebens besser auskennt als sie und voller Hoffnung, daß es ihr diesmal gelingt, der Entfremdung Herr zu werden, die sich bislang in alle Orientierungsversuche eingeschlichen hat, einen Anfang zu finden, der trägt.

Auf der Heimfahrt sieht sie sich den Zudringlichkeiten eines Vertreters ausgesetzt. Einen Moment schwankt sie, ob sie ihn loswerden oder als Repräsentanten der im Elternhaus so schmerzlich vermißten eigenen Realität festhalten soll. Als er ihren mangelnden Widerstand als Zustimmung auslegt, verliert sie vollends den Mut, sich gegen das von ihm als gemeinsame Absicht unterstellte galante Abenteuer zu wehren. Zwar wird sie, je näher der Augenblick des Beischlafs rückt, desto mehr auch dessen konventioneller Auslegung durch ihren Verehrer gewahr. Zugleich wächst ihr Respekt vor dem als unvermeidlich akzeptierten Gang der Dinge. Zu ihrer Feigheit, sich gegen ein anerkanntes gesellschaftliches Vergnügen zu sträuben, gesellt sich die Versuchung, den unbedingten Überredungswillen des Vertreters im Sinn eines Achtung heischenden Begehrens und die routinierte Technik, die er an den Tag legt, im Sinn einer Orientierung bietenden Realität – man muß schon sagen gezielt – mißzuverstehen. Ehrlicherweise müßte sie zugeben, daß sie auf eine alle Bedenken hinwegfegende Unterwerfung hofft. Vergeblich sucht sie in ihrem Innern nach einem Argument, das ihr das Experiment verbieten könnte. Erst als sie das Abenteuer hinter sich hat, das sie leider so gar nicht in der Rolle eines leidenschaftlichen Opfers, vielmehr eines gedemütigten Beobachters erlebt, wird ihr klar, daß der Grund für ihren mangelnden Widerstand weder in grenzenloser Unterwerfungslust noch in anpassungsbereiter Neugier zu suchen ist. Sie hat keinen verläßlichen Bezug zu sich, nichts, was man eine primäre Bindung nennen könnte. Wie soll sie für sich eintreten!

Gegen die aufsteigende Panik kommt ihr der Anruf eines Kollegen zu Hilfe, der sie zur Teilnahme an einer Protestaktion gegen die Schließung des Betriebs verpflichten will. Obwohl sie sich längst anders orientiert hat und, wie sie sich spaßig ausdrückt, auf ihre technologische Runderneuerung setzt, ist sie sich der Verführung, die von seinem Ansinnen ausgeht, bewußt. Offenbar hat sie sich über ihre eigenen Bedürfnisse getäuscht, als sie sich dem imponierend selbstbewußten Willen des Vertreters auslieferte. Was sie in Wirklichkeit bräuchte, wäre die solidarische Gruppe, die kollektive Aktion, das höhere Interesse. Zwar schämt sie sich ein bißchen, weil sie sich von den Betriebskollegen Hilfe vor allem gegen den Vertreter erhofft. Aber wenn sie sich an einer Betriebsbesetzung beteiligte, stünde der Liebhaber bei ihr vor verschlossener Tür.

Sie ist nicht ohne sentimentale politische Erinnerungen an eine Zeit, in der private Fluchtmotive sich noch nicht so drastisch in ihre politische Perspektive mengten. Entsprechend lau, muß sie zugeben, war ihr politisches Engagement. Aber sie sieht nicht ein, warum sie nicht den Stier bei den Hörnern packen und aus der privaten Not eine öffentliche Tugend machen soll. Für einen Moment gewinnt die Euphorie die Oberhand. Was muß sie sich um die politische Reinheit der Motive sorgen!

In ihre mit Panik untermischte Aufbruchsstimmung platzt ein Anruf ihrer Mutter, die ihr ein Angebot der angesehenen Firma unterbreitet, bei der der Vater gearbeitet hat, verknüpft mit der Einladung, zu ihr ins leer gewordene Haus zu ziehen, auf höchst sachlicher Basis, versteht sich. Sie ist pikiert, zumal das berufliche Angebot ihr mehr der sprichwörtlichen Zuverlässigkeit und Loyalität ihres Vaters als ihrer fachlichen Kompetenz geschuldet scheint. Erst vor wenigen Tagen ist sie in die Stadt zurückgekehrt, zum ersten Mal vielleicht im Bewußtsein eingestandener Zuneigung als der Basis wirklicher Trennung. Ihre Mutter würde von nun an allein leben, da sollte sie es doch auch können, hatte sie sich gesagt. Der Gedanke, in dieser Verknüpfung, war neu, ja, er schien ihr unerhört anregend, geradezu lustig. War das kein lustiges Gefühl, sie und Mutter wären erwachsen? Hatte es nicht etwas von Screwball-Komödie, von wenig Substanz und himmlischer Verwechslung? Liebend gern würde sie das Angebot ablehnen und die Mutter an das Erreichte gemahnen. Aber durch das amouröse Abenteuer ist ihr der Boden wie unter den Füßen weggezogen. Außerdem, was soll sie der Mutter entgegensetzen, die bereit ist, zugunsten eines vernünftigen Arrangements auf das geheime Glück der Verzweiflung zu verzichten? Zumal ihre formelle Selbständigkeit ja gar nicht in Zweifel gezogen wird.

Noch ist ihr, als könnte sie nein sagen. Aber schon betrachtet sie die Gegenwart aus der Perspektive der Erinnerung. Immerhin hat sie vor ein paar Monaten selbst noch erwogen, der Stadt den Rücken zu kehren. Ist der Gedanke schlechter, nur weil er nicht von ihr kommt? Man will sie, hat ein Interesse an ihr, ist das nicht ehrenvoll, aufregend? Und selbst wenn ihre Mutter Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um sie unter ihr Dach zu kriegen, ist nicht auch, Tochter zu sein, ein Schema, das sie erst einmal ausfüllen muß, eine Erfahrung, so neu wie jede Alternative?

Kein Grund also zu Panik oder Resignation. Schmerzen bereitet ihr nur die plötzliche Deutlichkeit dessen, was sie aufgibt. Es wird noch eine Weile dauern, bevor sie in der neuen Welt angekommen ist, und sie kann froh sein, wenn sich dabei die eine oder andere Gelegenheit für subjektive Empfindung ergibt.

Sie bekommt einen Vorgeschmack davon, wenn Aufregung und Ratlosigkeit in Müdigkeit übergehen. Im Dämmer stellen sich die süßen Bilder der Vergangenheit ein, die sie als Zukunftsahnungen deutet. Sie wandert durch den Garten. Bei den Stauden vor dem Küchenfenster bleibt sie stehen und sieht ihrer Mutter bei den Haushaltsverrichtungen zu. Geduldig räumt sie das Geschirr in die Spülmaschine, wischt die Herdplatten ab, hat ihre Tochter vergessen. Wenn sie hereinkommt, wird sie überrascht lachen.

Bei dem Gedanken lächelt sie und kuschelt sich tiefer in die Kissen. Mag ja sein, denkt sie in ungetrübter Klarheit des Urteils, daß ihre Heimkehr das Ende aller Dinge ist. Aber sie kann sich nicht helfen, sie freut sich auf zu Hause.


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