Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

Zum Inhaltsverzeichnis


Porträt eines prädisponierten Junkies

Er ist schwach, spillerig, mädchenhaft, voller Ängste. Deshalb muß er viel einstecken. Für den Erwachsenen ist es unmöglich, auf seine kindliche Anmut nicht zu reagieren, deshalb unmöglich für ihn, auf sie und was er durch sie erreichen kann, gänzlich zu verzichten, auch wenn er längst auf das andere Pferd gesetzt hat: daß, wer viel einstecken muß, auch viel austeilen darf. Wenn Gewitter ist, wird er sich jemand zum Kuscheln suchen; wenn er bekifft ist, hört er in der stillen Nacht die Neonazis johlen; wenn er seinen Kiez verläßt, fühlt er sich schlechthin umzingelt.

In solchen Momenten, wo er sich anlehnt, ist er rückhaltlos ansprechbar. Leider ist er auch ansprechbar für das, was ihm Angst einjagt. Schon früh hat er gemerkt, daß er ein Junge ist – vielleicht daran, daß er ein Sohn ist – und sich an den Jungen orientiert. Wenn ihm jemand eine reinhaute, dann war das für ihn Erfahrung aus erster Hand: So verhält man sich, wenn man ein Junge ist, genau das ist auch seine Perspektive. Der ihn schlägt, tut es gewissermaßen für ihn, damit er ein Vorbild hat und eine Erfahrung macht. Denn alles kann er nicht von seiner Mutter lernen. Und wenn man auch hochgradig ansprechbar und Argumenten, gutem Zureden zugänglich ist, dann muß doch ständig etwas vorfallen, etwas Sinnloses, Erschreckendes, etwas mit brutaler Perspektive, Perspektive einer rätselhaften Grausamkeit und Bestialität, damit die Tugenden sich bewähren können und der gesamte Apparat, der Ansprechapparat und Anlehnungsapparat, in Gang gesetzt werden kann.

Wenn ihm einer eine reinhaut, dann macht er sich ans Lernen. So kommt es, daß man ihn immer ganz nah bei denen sieht, vor denen er sich fürchtet und gegen die man ihn gelegentlich beschützen soll. Eine Sisyphusarbeit, ihn von seinem kriminellen Umfeld zu sondern. Flöhe hüten ist einfacher. Ein Floh, hüpft er immer wieder auf die andere Seite, mitten hinein.

Da steht er, inmitten seiner Feinde, wippt auf den Zehenspitzen, ein fasziniertes Lächeln im Gesicht, das andere für faszinierend halten, denn schon längst ist er selbst ein Feind, andere schielen nach ihm, sitzen schief in der Schulbank, schief hin zu ihm, lehnen sich unbewußt zu ihm hinüber: Da ist ein Großer, auch wenn er spillerig und klein ist, an dem können sie sich orientieren.

Können sie auch. Denn während er größer wurde, aber beileibe nicht stärker, breitschultriger oder muskulöser, höchstens schmaler, lässiger, allenfalls sehniger – wenn man an die Vergeistigung des Körpers glaubt –, hat er enorm dazugelernt. Der Witz ist der: Er weiß jetzt, daß seine Zukunft nicht in seiner körperlichen Stärke liegt. Das ist bitter, hat aber auch sein Gutes: Er muß nicht auf die Zukunft setzen, kann gleich anfangen, hier und jetzt, der Stärkere zu sein, auf seine – wenn auch von einem strengen, das heißt Macho-Standpunkt bloß kompensatorische – Art. Irgendwie muß er das schon immer gewußt haben, denn immer schon oder beinahe immer war er nicht nur schwach, sondern auch clever, und immer schon hat er mit seiner Cleverness das Böse im Auge gehabt. Das hat er sich bei den Starken abgekuckt. Oder bei seiner Mutter. Die ist auch clever, und vielleicht denkt er ja, als Frau schwach.

Lehnt sich bei seiner Mutter an und identifiziert sich mit den Männern, eigentlich geht es gar nicht normaler. Aber er lehnt sich zu sehr an, ist bei Gelegenheiten ein rechtes Nervenbündel, und identifiziert sich zu sehr mit den Männern: nicht stark, sondern ein Mann muß man sein. Bei jeder Gelegenheit, wenn ihn die Nerven in Ruhe lassen, kehrt er den Mann heraus. Ein Mann fickt, eine Frau liebt höchstens. Ein Mann argumentiert, eine Frau winselt. Ein Mann benutzt seinen Verstand, eine Frau hält es mit der Klugheit. Unglücklicherweise glauben sie ihm, und er treibt mutterseelenallein weiter, dem Abgrund entgegen.

Wahrscheinlich würde er ihn gar nicht finden und so gewissermaßen aus Versehen in einem normalen Leben enden, wäre da nicht ein Wegweiser in ihm drin, nicht in den Macho-Türken und Araber-Gangs um ihn herum, nicht in seiner Mutter und nicht in denen, in denen er sich sonst noch spiegelt – immer aufmerksam, nicht gierig, aber immer interessiert, eine Information über sich zu erhaschen, so als wären ihm andere, eher introspektive Informationswege verschlossen –, sondern in sich. Bei einer Sache kann er sich auf sich verlassen, und jeder stinknormale Alkoholiker wird es ihm bestätigen: Da er nicht nur nervenmäßig, sondern auch physisch zart besaitet ist, auf jede kleine Ausschweifung nicht bloß mit einem Kater, sondern mit einem regelrechten Zusammenbruch reagiert – unter dem tut er’s nicht –, braucht er bloß diese Schwäche ins Auge zu fassen, sich auf sie zu konzentrieren, an ihr herumzutrainieren, das ist die Autobahn ins Nichts. Da er zudem von klein auf erlebt hat, daß eine sang- und klanglose Untat schwer zu vertreten ist, ein zähneklappernder Zusammenbruch aber in die Höhen mütterlicher Fürsorge führt, ja daß letzterer die Verarbeitung der ersteren schon öfter erleichtert, abgebrochen oder förmlich beendet hat, kann er, indem er den ›inneren Schweinehund‹ bekämpft, zugleich die orgiastischen Erlebnisse der Kindheit beschwören, wo er, ganz gleich welchen Scheiß er gebaut hatte, umsorgt und behütet, gepflegt und verwöhnt, geschont und grenzenlos liebgehabt wurde. Ganz hart sein müssen und ganz schwach sein dürfen – da erst der Zusammenbruch die vorgeschobene Grenze zu messen erlaubt –, das kommt im Spezialtraining, dem Training für süchtig werden Wollende, glücklich zusammen.


 ← Zurück |  → Weiter

Zum Inhaltsverzeichnis

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 109 (2000), 83–84.

Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© 1995–2005 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.