Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Katrina – Porträt einer Romanheldin

Katrina,* eine Bauerntochter von der Ostseeküste hoch im Norden Schwedens, verliebt sich in einen beredten jungen Seemann von den Ålandinseln, der ihr die vergleichsweise südlichen Gefilde seiner Heimat in den Farben persönlichen Reichtums schildert. Sie setzt es bei den Eltern durch, daß sie ihn auf der Stelle heiraten darf, und verzichtet sogar auf den Brautschatz, mit dem sie sich nach seiner Ansicht nur blamieren würde; schließlich ist dort, wo sie hin will, alles feiner, glatter, auf Schmücken, nicht wie im rauhen Norden auf Wärmen berechnet. Als sie auf Torsö ankommt, findet sie den geschilderten Reichtum, die von Apfelbäumen umrahmten, in hellen Farben gestrichenen Häuser, die Weizenfelder, vor; nur gehört er anderen. Ihr Mann aber ist ein über die Inseln bekannter Schwätzer und Aufschneider – weshalb er von dort auch nie eine Frau bekommen hätte –, sie selbst, die mit ihm in einer Kätnerhütte hausen wird, gehört mit ihrer Arbeitskraft den Grundeigentümern und Kapitänen, denen sie dienen und denen sie Matrosen und Mägde gebären soll. Von nun an ist sie, die freie Bauerntochter, bestenfalls halbfrei; gezeichnet nicht nur von Armut, sondern auch von Dummheit; denn nur wer nicht alle Tassen im Schrank hat, kann sich mit Johan einlassen, der zwar einmalig schön ›holl rait‹ sagen, aber sonst nichts, rein gar nichts kann.

Da stand sie nun, »und in wenigen Minuten schwanden … alle ihre stolzen Hoffnungen, ihre schönen Träume, die Liebe zu ihrem Mann und die Achtung vor ihm dahin. Vor ihr lag die nackte, grausame Wahrheit. Eine Hütte, nahe am Einstürzen, ein kahler Berghang – dafür hatte sie ihr Elternhaus verlassen. Und ihr Mann war ein haltloser Schwätzer, über den alle lachten und dem niemand Glauben schenkte, niemand – nur sie, die sich in ihrer kindlichen Einfalt von ihm hatte narren lassen.« Nach Hause wird sie sich nie mehr trauen. Von ihrem früheren Leben ist sie endgültiger abgeschnitten, als wenn ein Erdrutsch ihr Heimatdorf verschüttet hätte. Sie schämt sich.

So beginnt ein åländisches Lehrstück, eine Variation über das Thema Was ist ein Mensch?, radikalisiert, so scheint es, bis zum Experiment durch die Überschaubarkeit der Inseln, ihrer Produktionsverhältnisse, und durch Katrinas Fremdheit, die es ermöglicht, Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, wo sonst nur Schicksal und Natur erkennbar wären. Lediglich auf den ersten Blick gibt es Bezüge zu Robinson Crusoe oder den Höhlenkindern, wo jeder, auf seine eigene buchhalterische Weise, bei Null anfängt, gleichermaßen begierig nach Wiederholung und Neubeginn. Wenn dagegen ein Vergleich trägt, dann der mit dem Sklavenhandel, wo Freie in Sklaven verwandelt werden. Auch ihnen ist das neue Leben, bevor sie es kennenlernen, bereitet; es muß keineswegs von ihnen entworfen, von ihnen nur noch gelebt werden.

Der untergründige Optimismus des Buches rührt daher, daß es sich nicht um eine Form der Vernichtung durch Arbeit, sondern um eine altertümliche Subsistenzform handelt. Arbeitskräfte sind rar auf den Ålandinseln; man bringt sie nicht eigens um. Katrina, die über eine gewisse Freiheit des Urteils, eine grenzenlose Bereitschaft zum Zorn, auch auf sich selbst, verfügt, ist unfreiwillig tapfer, stur. Sie zimmert sich ein Leben, das es schließlich an selbstbestimmter Realität mit dem früheren aufnehmen kann. In diesem Leben hat sogar ihr Mann Platz, der sich sukzessive aus einem bösen in einen schwachen Menschen, aus einem Betrüger und Scharlatan in einen unfertigen Mann, ein großes, anlehnungsbedürftiges Kind verwandelt und zu dem sie sich ein Verhältnis mütterlicher Innigkeit und ehelicher Zusammengehörigkeit erarbeitet, das sie gegen alle Welt, sogar gegen die eigenen Kinder verteidigt. Wäre er nicht so dumm gewesen, erklärt sie später ihrem Mann, nicht ein so unfähiger Betrüger, wäre er nicht seiner eigenen Ruhmredigkeit aufgesessen und hätte er nicht – in einer wahrhaft seltsamen Verwechslung von ›Spatz in der Hand‹ und ›Taube auf dem Dach‹ – ihren Brautschatz ausgeschlagen: sie wäre niemals bei ihm geblieben. Frühzeitig stirbt er, von ihr, die ihm mit blindem Vertrauen gefolgt war, gepflegt und gehütet wie ein Kind. Durch seinen Tod gewissermaßen autochthon geworden, einheimisch, seßhaft, immer schon da, macht sie sich an das letzte Kapitel der Parabel zum Thema Was ist ein Mensch?, das ja nicht erschöpfend behandelt ist, solange nicht alle Bezüge, die sorgfältig geschaffenen, wieder gekappt sind und die Fragestellung selbst durch den philosophischen, freilich vom konkreten einzelnen zu exekutierenden Sprung von der Qualität in die Quantität korrigiert worden ist: Was ist ein Mensch?

Das ist das Autonomiemodell, das Katrina, auf brutale Weise aus allen Gattungsbezügen herausgelöst und gleichsam zum männlichen Vorfahren gemacht, lebt. Es ist nicht das einzige Modell oder einzig mögliche Modell, wie die Strategie Johans, des heimlichen, allerheimlichsten Helden dieses Romans, beweist; hat er es, und zwar nicht im Rekurs auf eine bei ihm gar nicht vorhandene, im Rekurs vielmehr auf den Gattungszusammenhang selbst, doch ebenfalls geschafft, sich ein Leben zu zimmern – die Psychologen würden sagen: indem er sich anlehnt. Von seiner stillen Existenz, die ohne Katrina nie vollkommen, ja gänzlich unmöglich wäre, geht eine leise Kritik, nicht an ihr, aber am unvermeidlich Quantitativen des Autonomiemodells aus. In ihrem ältesten Sohn, der nur erlebt, wie der schändliche Name seines Vaters an ihm klebt und der den Namen wechselt, sieht sie bereits das Zerrbild der mühsam erkämpften Autonomie.

So schnell ist ein Modell durchgespielt. So schnell ist der Mensch am Ende.

*  Den gleichnamigen Roman von Sally Salminen – die, 1906 geboren, nach eigener Aussage den finnischen Namen ihres Vaters trägt und in ihrer Muttersprache Schwedisch schreibt – fand ich zunächst auf französisch, später, ebenso wie die beiden anderen besprochenen Romane, auf deutsch mehrfach in Bücherkisten von Antiquaren und Trödlern. Die mir vorliegende Ausgabe von Katrina, aus der auch das einzige Zitat stammt, ist 1958 im Bertelsmann Lesering in der Übersetzung von Edzard Schaper erschienen (Zitat S.–16). 


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
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