Ilse Bindseil
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(Porträt der Unschuld, Unversehrtheit, Unbefangenheit, Ursprünglichkeit usw.) –
Über Ionescos Unterrichtsstunde: La leçon
Das guterzogene junge Mädchen aus Eugène Ionescos Einakter La leçon, das den ergrauten Nachhilfelehrer aufsucht, mag für andere eine Karikatur sein; sie dagegen erkennt sich in ihm wieder. Schwebte ihr nicht auch ein doctorat total vor, als sie, beim Schulabschluß nach ihren Plänen befragt, das Studium der Geisteswissenschaften, ja wenig später ihren Berufswunsch mit »Privatgelehrter« angab, wohlgemerkt mit »r«? Auf der Suche nach einer Antwort hatte sie nur das eine im Sinn gehabt: die Totalität, die ihr vorschwebte, nicht unnötig einzuschränken beziehungsweise sich an der eigenen Totalität nicht zu versündigen. Der einzige Rest, der ihr von aller Religion geblieben ist, das ist der feste Glaube an den Jüngsten Tag, wenn Gott sie fragt: Was hast du mit der dir von mir verliehenen Totalität gemacht? – Wohlgemerkt, es ging nicht darum, sich alle Optionen offenzuhalten, Medizin, Philosophie oder Tanz, sondern die wunderbare, aber leider auch einzige Korrespondenz zwischen ihr und der Welt, das einzige Band nicht leichtfertig zu zerschneiden.
Was aber das Karikaturhafte – des jungen Mädchens, aber auch ihre eigene Lächerlichkeit – angeht, so sieht sie heute nicht mehr die Zukunft, bloß noch das Ideale darin, und zu diesem Ideal steht sie, mögen andere die famose kleine Heldin überzeichnet finden, schlechterdings absurd. Für sie ist sie Vorbild und Doppelgängerin in eins, ihr billigt sie zu, wessen sie sich bei ihr selbst immer ungewiß bleibt: ein Mehr an reinem Wollen oder an Reinheit, das sich in keinem Kompromiß verausgaben will. Wie gesagt, sie weiß nicht genau, ob es dabei eher um die Energie oder um die Beschaffenheit geht? Um Unschuld, nicht als Zufall oder als Zustand, sondern als Lebensform geht es. Der Rubikon ist längst überschritten. »Voll peinlich«: das über Wohl und Wehe entscheidende Urteil besagt nichts mehr. Die Peinlichkeit ist durch und durch unschuldig; nichts kann sie treffen.
Sie gibt zu, daß sie vor der Peinlichkeit immer zurückgeschreckt ist. Obwohl, bei Licht besehen, erscheint ihr nichts peinlicher als diese Antwort: »Geisteswissenschaften«. Das doctorat total in seiner auffälligen Unauffälligkeit scheint ihr dagegen merkwürdig gelungen; alles andere als größenwahnsinnig, eher wie ein Understatement und an der Sache orientiert. Wenn es um die Totalität geht, ist sie deshalb weniger Sache?
Doctorat total, in ihren Ohren klingt das uneigennützig und irgendwie neutral.
Aber Ionesco ist ja auch ein hervorragender Künstler.
Vielleicht ist sie ja selbst ein wenig »überzeichnet« – aber das ist eine ästhetische Kategorie, und sie ist eine empirische Person. Jene andere aber, die nouvelle élève, wenn sie nicht ein ästhetisches, sondern ein empirisches Geschöpf wäre, würde niemand zögern, sie als »durchgeknallt« zu bezeichnen. Für den lüsternen prof jedenfalls ist sie eine so leichte Beute wie für einen Raubvogel ein flaumiges Vögelchen, das noch im Nest sitzt,
Immerhin verfügt dieses alberne Geschöpf, das sich an seinen Wünschen und Träumen berauscht – und man muß hinzufügen: es sind Bildungsträume, wie sie spießiger nicht sein können –, auch über ungeahnte Ressourcen, nicht nur über eine gehörige Portion weiblicher Dummheit und Dämlichkeit, sondern auch über eine bockbeinige Widerständigkeit, die sich in dem furiosen Jammerlaut Bahn bricht: J’ai mal aux dents, ich habe Zahnweh, mit dem sie den Monolog des Lehrers skandiert (und war nicht eigentlich der furios?). Ihre Kraft braucht sie auch, hat sie sich mit ihrer sprichwörtlichen Dummheit doch nicht nur die Zukunft, sondern mit ihrer entschieden zu weit getriebenen Unschuld und Spießigkeit auch den Professor nach ihren illusionssüchtigen Wünschen zurechtgemodelt und kann die Zeichen der Gefahr an ihm nicht mehr erkennen. Wenn es schon längst zu spät ist, muß sie daher scharfes Geschütz aufbieten: Mais, que j’ai mal aux dents! Was ich für Zahnweh habe! Ist das aber auch ein Zahnweh, Donnerwetter!
Das intime Arbeitszimmer des weltfremden Geisteswissenschaftlers und Privatgelehrten wird sich unter dem Ansturm wehrhafter Gefühle in ein Irrenhaus verwandeln und die aus lauter Wahnsinn und Schwachsinn gefügten Mauern der bürgerlichen Personen zum Einsturz bringen. Das junge Mädchen wird ermordet und der staubtrockene Lehrer zum Mörder werden. Aber bevor er mit dem Messer zustößt – in einer verglichen mit seinen furiosen Reden bemerkenswert schlappen Aktion –, wird die von ihm nach allen Regeln bürgerlicher Herrschaft und Einschüchterung aus dem niedlichen, aber dürftigen Mädchen herauspräparierte Kreatur noch ihre Krallen gezeigt haben, so daß ihr Untergang zugleich ihre Apotheose ist oder vielmehr die Apotheose ihrer unschuldigen Körperlichkeit und Dickköpfigkeit über den hervorragend differenzierten, vielfach gebrochenen Geist: Ah, j’ai mal aux dents!
Eigentlich müßte man hier splitten; denn das eine ist Dummheit, das andere Kraft. Aber das erstere ist nicht die gepanzerte Dummheit, vor der man erschrickt und für die man sich schämt. Wie eine schützende Haut legt sie sich um die durch keine Fremdeinwirkung zu beschädigende, heile Person, schützt sie vor den gewalttätigen Einflüsterungen des fremden Mannes, der ihr bald ein Ohr, bald einen Finger, bald vielleicht ein Auge ausreißen will; als Beispiel, versteht sich. Das Messer muß her, auch wenn es so scheint, als würde das Theaterstück von Anfang an darauf hinauslaufen und bestünde nur in der Zurichtung des Mädchens für die finale Tat. In Wahrheit muß Dummheit von Dummheit geschieden werden, die Dummheit, die schützt, von jener, die beschädigt; Mord ist das Resultat. Die Trennung des Identischen aber ist mühevoll, nicht von vornherein zu durchschauen. Nicht einmal der Autor hat vermutlich geahnt, daß die Dummheit, die das Mädchen in die Falle lockt, diese Mischung aus weiblich-kindlicher Zutraulichkeit und bildungswütiger Spießigkeit, es zugleich vor dem Zuschnappen der Falle bewahrt. Nicht eine Sekunde lang wird sie das böse Spiel mitspielen, von wegen, es macht ihr Spaß! Sie will nicht, daß man sie berührt, verstümmelt, verzehrt, nicht mal im Geist. Beispiel und Hypothese zählen als Ausrede nicht; sie ist einfach zu dumm, um den Unterschied zwischen einer obliquen, indirekten, und der konkreten, die Tat vorwegnehmenden Sprache auch nur zu bemerken. Auf eine nicht ihr selbst, aber ihrem Geist verschlossene Weise ist sie zu klug, um sich die körperliche Unversehrtheit abluchsen zu lassen, und deshalb muß ihr Körper vernichtet werden. Was keinen Unterschied macht; denn jeder Ersatz ist in Wirklichkeit bloß eine Vorstufe; nur, Ersatz macht mitschuldig, kein Ersatz, rettet die Unschuld. Sie ist zu dumm, die geistige Beschädigung als Ersatz und Vorstufe der körperlichen Beschädigung zu dulden; sie nimmt immer alles gleich wörtlich! So vollbringt sie das Wunder, sich ein solches Abstraktum, wie es die körperliche Unversehrtheit nun einmal ist, nicht abschwatzen zu lassen; sie hütet sie, als wäre sie die konkreteste Sache von der Welt, ein echter Schatz! Vermutlich war Ionesco sich über die Bedeutung dieses Abstraktums für sein Stück gar nicht im klaren, als er sich daran machte, es niederzuschreiben, und hinterher – falls er sein Stück verstanden hat – hat er sich dann gewundert: seine kleine Heldin war sage und schreibe heil geblieben. Wie eine der kleinen Märtyrerinnen, die das frühe Christentum aufzubieten hat, war sie aus dem heimtückisch, aus niedrigen Motiven geplanten Mordanschlag unversehrt hervorgegangen; mausetot zwar – und die Nachfolgerin klingelt auch bereits an der Tür –, aber unversehrt wie nur irgendeine strahlende Märtyrerin. Sie hat nicht mitgemacht, sich an ihrer Verstümmelung, dem Massaker an ihr nicht beteiligt.
Das erstaunlichste für wirkliche Menschen ist dabei, daß sie nicht erst hinterher begreift, worauf es ankommt – angekommen wäre! –, sondern vorher oder rechtzeitig oder eben ohne daß sie es begreift. Auch wenn das Stück ihre Dekomposition, ihre Fragmentierung, ihre Zurichtung fürs Messer zeigt, so dient dieser Prozeß doch zugleich der Herausarbeitung jener abstrakten Kategorie der Unversehrtheit, der sie ihr Leben opfern wird. So als wüßte sie, daß alles andere als Abstraktes dahintersteht. Man kann das nicht wissen; man spürt es oder nicht. Der Mörder dagegen und sein Schöpfer würden wohl darauf beharren, daß der »blindwütige« Widerstand des Mädchens ihn, den Lehrer, zum Äußersten treibt – wäre der nicht von vornherein zu allem Bösen entschlossen – und geradezu als Hefe der in ihm gärenden Gewalt benötigt wird. Aber weiß man denn, ob die zahllosen unglücklichen Vorgängerinnen der Heldin die »Spirale der Gewalt« nicht durch eine entgegengesetzte, auf Vernunft und Deeskalation zielende Strategie ausgelöst haben? (Davon einmal abgesehen, daß der prof eben so ist, wie er ist, es ist halt absurdes Theater!) Ebensowenig weiß man, ob der intellektuelle Einzelgänger sich zu seiner blutigen Tat immer auf die gleiche professorale Weise vorgearbeitet hat: vom Geistigen zum Praktischen, vom Teil zum Ganzen, vom willkürlichen Beispiel zum absoluten Zweck: der causa efficiens oder finalis. Natürlich, die comedy lebt von der Wiederholung, und so warnt auch Marie, die Haushälterin, die den sturen Ablauf kennt, vor dem Immer-Gleichen, in dem sie die Stufen der Gewalteskalation wiedererkennt, vor dem Einsatz von Sprachwissenschaft und Mathematik. Aber das junge Mädchen, das sich unter Einsatz ihres kranken Körpers gegen die Kränkung dieses Körpers wehrt, ist auf seine Art doch einzigartig, und kein vorgefaßter Plan, keine sture Wiederholung kann verhindern, daß sie den entscheidenden Anteil an dem guten Ausgang des Dramas hat: Sie stimmt ihrer Hinrichtung nicht zu! Der böse Ausgang mag auf das Konto der Wiederholung gehen, der vorgefaßten Tat.
Zwischen diesen beiden ach so identischen und zugleich himmelweit unterschiedenen Ausgängen entwickelt sich die abstrakte Kategorie der körperlichen Unversehrtheit – als eine Kategorie, zu der man sich so oder so verhalten kann – zu einer apodiktischen Forderung: so oder so muß sie sein. Sie ist Telos und Tatsache in einem, und wenn sich diese durch nichts aufzuhebende Einheit dennoch zerlegt – dergestalt, daß der prof, Schlappschwanz, der er ist, nicht nur das unschuldige, sondern auch das wehrhafte Opfer braucht, um sich zu Gewalt und Mord aufschwingen zu können –, so weil es eben ein absurdes Stück, ein in geradezu absurdem Ausmaß überdeterminiertes Stück und eine Komödie ist: es lacht. Dazu gehört, daß das junge Mädchen, das zu Beginn, in seiner heilen Bürgerlichkeit – den frischen Wind von draußen noch in seinen Haaren und den Falten seiner Schürze –, ein Nichts, eine absolute Nichtigkeit ist, je mehr es dem Tod entgegengetrieben und de facto aufgelöst wird, desto mehr zu einer haltbaren, was sag ich, einer unumstößlichen Tatsache wird.
Woher nimmt sie die Frechheit, in den erhabensten Momenten des Lehrervortrags ihr mal aux dents zu äußern, in jenem Ton unverstellten Schreckens, in dem das Staunen die Oberhand über die Angst behält, jenem Ton, in dem man Erdbeben kommentiert, der die Mauern des Tempels zum Einsturz bringt; den Professor bringt dieser Ton auf Touren. Woher nimmt dies dumme kleine Mädchen überhaupt die Intelligenz, daß es merkt, wann es bedroht wird und wann es Zeit ist, daß es sich wehrt? Sie, die zweifellos intelligente Verehrerin, die sich das kleine Mädchen zum Ideal gewählt hat, weiß das nie, und vielleicht hat sie es deshalb erwählt. Die dumme Gans weiß, daß es ihr an den Kragen geht; sie läßt sich nicht blenden von den Ausreden des Verstands, dem verführerischen »nur mal angenommen«. Die Verharmlosungsstrategie zieht bei ihr nicht. Bei der Verehrerin hat sie noch immer gezogen; um so wichtiger, daß sie sich das bockbeinige, sture kleine Mädchen zum Vorbild erkoren hat. Vielleicht verfügt es ja nicht gerade über ein klares Urteil. Aber so klar ist es immerhin im Kopf, daß es weiß, wann es nicht mehr darum geht, an der Beschönigung der Welt zu arbeiten oder selbst einen tadellosen Eindruck zu machen, wann man also den Verstand ausschalten muß, mag auch das Image der Welt darüber zerbrechen; mag man sich als der sträfliche Dummkopf präsentieren, der man ist.
Wenn zwei und zwei zusammenzuzählen der Logik des eigenen Untergangs entspricht, dann, spätestens, ist es Zeit, sich zu verrechnen. Ihr, der Verehrerin, wäre es vermutlich immer noch wichtiger zu zeigen, daß sie rechnen kann; mag sie auch darüber zugrunde gehen. Können, was die Welt zusammenhält! Zeigen, was man kann! Würde sie es überhaupt merken, wenn es nicht mehr ums Können ginge? Sie traut es sich zu, daß sie es nicht merkt. Wenn sie noch beten würde, würde sie jeden Abend beten: Lieber Gott, mach, daß ich es merke! Da sie schon lange nicht mehr betet, ist das richtige Ideal um so wichtiger.
Lassen wir die allerdings wohlgelungene Pointe beiseite, daß die Kleine bloß nicht subtrahieren kann. Das Prinzip der Abstraktion ist ihr fremd. Addieren kann sie phantastisch, aber subtrahieren kann sie nicht; dies die Kritik des Körpers an der zersetzenden Tätigkeit des Verstands. Der Körper will heil bleiben, er will sich nicht vermindern lassen. Dem Verstand ist das egal, im Wortsinn gleich. Lassen wir auch beiseite, daß die Verehrerin nichts so wie das Vermindern liebt. Nicht daß sie die Abstraktion liebt, hier empfindet sie ähnlich wie das junge Mädchen. Aber daß der Verstand, die abstrahierende Instanz, seinerseits abstrahiert werden muß, das ist ihr klar, und die Retourkutsche gefällt ihr: daß der Verstand nein sagen muß zu sich selbst.
In der »Unterrichtsstunde« sagt er zum Körper nein, und deshalb muß ihm das Handwerk gelegt werden.
Vous avez trois oreilles ! tönt der prof.
Sie widerspricht, sie weiß, zuviel ist nur der Anfang von zuwenig.
Je vous arrache une! Il vous reste combien ?
Deux.
Je vous arrache encore une ; il vous reste combien ?
Deux ! Deux ! Deux !
Man kann rechnen, soviel man will, immer wird sie zwei Ohren haben; nicht mehr und nicht weniger. Gegenüber dem möglichen Geschick – dem, was ihr passieren kann – nimmt sie auf einmal den abstrakten Standpunkt ein: der Mensch hat zwei Ohren, das gehört zu seinem Menschsein. Hat er nur ein Ohr, dann fehlt ihm etwas. Sein abstraktes und sein konkretes Menschsein sind eins.
Der Körper und der Verstand dagegen sind zwei. Das liegt daran, daß sie verschiedenen Kategorien angehören. Der Körper, als ganzer, ist immer ein einzelner, der Verstand ist stets ganzer Verstand. Bekanntlich ist der Verstand ja die bestverteilte Sache der Welt; kein Wunder, denn jeder hat ihn ganz. Auch als einzelner ist er ganz, kann er ungefährdet einzeln sein. Wären Verstand und Körper nicht kategorial verschieden, dann wäre es dem Menschen unmöglich, auf sich aufzupassen.
Vielleicht wäre es dann ja auch nicht nötig, auf sich aufzupassen; aber das nur beiseite.
Das Gör aus der Unterrichtsstunde jedenfalls weiß, wie man sich gegen das Bündnis, die kategoriale Einheit des eigenen Verstands mit dem allgemeinen Verstand, schützt: man zieht den Stecker raus.
Man entscheidet sich vorbehaltlos für die Dummheit.
Den Stecker rausziehen, das findet die Verehrerin immens. Vorbildhaft. Einfach großartig.
Leider kann die erleuchtete junge Dame aus dem Theaterstück La leçon das Schlimmste nicht verhindern. Sie stirbt. (Es wird also nicht das Schlimmste gewesen sein.) Wer dem allgemeinen Verstand Paroli bietet, wird nicht darum herumkommen, daß man ihn vergewaltigt und ermordet; es gehört gewissermaßen dazu. Er – oder vielmehr sie – stört den Gang der Dinge, den Gang der Abstraktion, die Subtraktion. Der prof, lui, stört nicht, er ist nur gestört. Man kann mit ihm umgehen, wie das Beispiel des robusten Dienstmädchens beweist; man muß nur wissen, wie, und man darf nicht heikel sein.
Nicht heikel heißt, angesichts der Barbarei des Verstands nicht wanken. Das kann man nur, wenn man selbst barbarisch ist. Das Dienstmädchen ist barbarisch, aber das ist ein anderes Thema (und es ist ja auch nicht ihr Ideal, obwohl).
Das junge Mädchen, elle, stört. Mit viel Aufwand, aber erstaunlich wenig Kraft setzt der Lehrer sein Messer ein. Hat er sein Pulver verschossen? Hat er seine Kraft in den Deduktionsketten, den endlosen Ableitungen verbraucht? Fehlt es, nur logisch, beim Abschluß?
Denken erfrischt, aber Ableiten laugt auf heimtückische Weise aus. Es ist wie mit dem Haß; der laugt auch aus und ist auf seine Weise endlos, nichts als eine Kette von Ableitungen.
Wer deduziert, fühlt sich mächtig. Aber die Deduktion ist wie ein Vampir. Sie saugt die Kraft aus den Adern.
Am Ende reicht es beim erschöpften Professor nur noch zu einem kleinen Stoß; einem Stößchen.
Glücklicherweise ist das Messer von verläßlicher Beschaffenheit.
Wenn zwei sich vereinigen, zitiert der japanische Schriftsteller Murakami eine alte Weisheit, dann erschaffen sie die Welt jedesmal neu. Die sprachlose Verehrerin der kleinen durchgeknallten Schülerin aus La leçon erklärt sich das so: Sie versöhnen den ungesellschaftlichen Körper mit dem gesellschaftlichen Verstand. Als die Theaterheldin, die sich von Anfang an als das ideale Objekt einer Zurichtung, als Opfer par excellence präsentiert, schließlich am sexbewehrten Verstand zugrunde geht, hat sie etwas klargestellt: Zwischen Unschuld – sträflicher Naivität und reinster Kindlichkeit – auf der einen, Schuld auf der anderen Seite besteht ein Wesensunterschied. Man kann zu dumm zu sein, um am Leben zu bleiben, aber man muß an seinem Tod darum noch lange nicht mitschuldig sein oder gar am eigenen Untergang Lust empfinden. So klar formuliert, ist es auch klar. Auf den Untergang kommt es indessen an, er ist das chemische Reagens, er stellt den Unterschied fest; ohne ihn bliebe ein Zweifel. Als das junge Mädchen sich umbringen läßt, legt es die Karten auf den Tisch und offenbart den Preis, zu dem seine Integration zu haben ist. Nicht daß es nicht auch klug sein möchte, an hirnloser Solidarität mit dem Verstand fehlt es bei ihr nicht. Ob sie gern lieben würde, steht dahin. Was das betrifft, ist sie ein so unbeschriebenes Blatt, daß man Mühe hat, sie als »normal« zu bezeichnen; aber das Stück handelt eben nicht von der Liebe. Der Grund für ihre heillose Naivität fällt mit den Bedingungen zusammen, die sie unfreiwillig stellt. Nur unfragmentiert wäre sie zu haben, sonst gar nicht. Heil, integrierte sie sich sofort: in die Gesellschaft, die (Sex)welt der Erwachsenen, den allgemeinen Verstand. Aber wenn Übergriffe impliziert sind, ein Sich-Vergreifen am Körper als der Instanz ausgerechnet, die Übergriffe zu registrieren vermag – der Verstand tut es ja nicht, er meldet ja nichts! –, dann integriert sie sich nicht. Das ist ihre Impotenz; die des prof wie gesagt ist eine andere.
Dann ist sie dumm, einfach hoffnungslos naiv.
Die Verehrerin kann sich gar nicht genugtun, sie zu bewundern.
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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 138 (2007), 51–55.
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