Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Verwirrt – Ein Augenblick im Leben meines Vaters

Das schönste Foto von meinem Vater entstand ein halbes Jahr vor seinem Tod. Er sitzt am Küchentisch und ißt. Der Morgenmantel gibt den Blick auf den Hals frei und läßt den grazil gewordenen Oberkörper erahnen, die schmalen Schultern, die Säuglingsbrust, die sich nach vorn wölbt. Jedes Gramm Fett, früher – in der Zeit, als alle wichtigen Nomen mit ›Wohlstand‹ anfingen – reichlich vorhanden, ist verbraucht. Glatt umspannt die Haut den mager gewordenen Körper. Falten haben, meinen Erwartungen entgegen, in der Altersökonomie offenbar keinen Platz, sind als Ressourcen aufgezehrt oder als Ballast über Bord geworfen worden. Mein Vater hat in den letzten Jahren dramatisch abgenommen, auch wenn er gelegentlich nach alter Gewohnheit noch schwer und reichlich ißt. Aber sein Körper, vor der Alternative, sich bei den Speisen oder bei sich selbst zu bedienen, hat sichtlich auf letzteres umgeschaltet. Vielleicht ist das auch nur eine beschönigende Umschreibung für (Ver)hungern: wenn die Nahrung nicht mehr genutzt wird und, was längst in Körperbausteine verwandelt ist, in Nahrung zurückverwandelt wird. Vor meinen durch die abgrundtiefe Häßlichkeit der später fünfziger und frühen sechziger Jahre traumatisierten Augen hat sich mein Vater in seinen letzten Lebensjahren in einen Jüngling zurückverwandelt, und es bedurfte seines faktischen Tods, um mir klarzumachen, daß die Reise nicht in die Kindheit ging und die glatte Haut nicht die fettgepolsterte des Kindes, sondern eine Haut für Hartes, Knochen oder Schädel, also Schwarte war, geeignet, das Kühlhaus längere Zeit zu überstehen.

Auf dem Foto hat mein Vater die lang gewordenen Finger aneinandergelegt und sorgfältig gekrümmt, um den schmalen Henkel der Tasse zu greifen; erst im Alter, denke ich, ist er auf diese vornehme Methode verfallen, stets hat er, solange er arbeitete, die ganze Tasse umfaßt, und ich habe es ihm nachgemacht. Vielleicht hatte er sich das ja in den besseren Hotels angewöhnt, in die er im Alter mit meiner Mutter reiste. Oder aber – der finstere Verdacht steigt in mir auf, während ich das Foto betrachte – er erinnerte sich in dem Moment seiner alten Gewohnheiten nicht mehr und versuchte, dem fremd gewordenen Gegenstand gerecht zu werden; wenn die Tasse einen Henkel hatte, dann war er zum Anfassen da. Ich erinnere mich an den Moment des Fotografierens: Als mein Vater nach der Tasse greift, ist er verwirrt, zum ersten und so gut wie einzigen Mal in seinem Leben. Aufmerksam betrachtet er die Tasse, realisiert die Aufgabe, die sie verkörpert, den Appell, den sie an ihn richtet. Mit kindlicher Konzentration bringt er die großen Finger auf das Format des kleinen Henkels und faßt zu.

Seine Hände waren, wie eine gute Kaffeetasse zu sein hat, rund und ›bauchig‹. Alles was ›affig‹ aussehen konnte, lehnte er ab, und es hätte auch nicht zu seinen Händen gepaßt. Der abgespreizte kleine Finger war ihm so schrecklich wie eine durchdringende Stimme, die nach Blech klang. Ekel kannte er nicht, es sei denn vor Dingen, die er für ›affig‹ hielt. Beim Essen die Hände zu benutzen galt ihm für alles andere als unanständig. Er bediente sich aber gern der Werkzeuge und wechselte sie rasch, je nach Bedarf, benutzte stumpfe für Stumpfes, spitze für Spitziges. Sorgfältig schabte er das kostbare Fett aus der pergamentenen Haut des Räucherfischs oder die billige Teewurst aus der Pelle; wer seinen Beruf kannte, ›sah‹ ihn curettieren. Knochen, auch Knorpel nagte er mit den Zähnen ab, schließlich lagen sie blank auf dem Teller. Unverdauliches wurde ausgespuckt; Weintraubenkerne zum Beispiel, die wir Kinder aus Bequemlichkeit hinunterschluckten. Wenn ihm etwas zu mühselig war, verzichtete er lieber ganz auf den Genuß. Der Körper war doch kein Mülleimer!

Vaters Essensmoral war von den Hungerjahren und dem ersten Weltkrieg geprägt, die Art, wie er mit der Speise umging, von seinem Beruf. Nichts verkommen zu lassen war ein Grundsatz, den er, der allen Küchendingen fern und zum Kaffeekochen nur mit Anstrengung in der Lage war, allein mit seiner Autorität durchsetzte. ›Untersuchen‹ und ›Behandeln‹ waren die Fähigkeiten, die er den Speisen angedeihen ließ; techn´ stand im Vordergrund, nicht Gier, auch nicht Hunger nach Erkenntnis oder Herrschaft. Vater war Arzt; da er Frauenarzt war, nahm das Untersuchen in seiner Tätigkeit einen vielleicht noch größeren Platz ein als das Behandeln. Sich des Körpers zu bemächtigen hatte dabei keinen Sinn; ein malträtiertes Organ gibt sein Geheimnis nicht preis; es will palpiert werden. Auch beim Behandeln war Zweckmäßigkeit das oberste Gebot, weder der gute Wille zählte noch die Inbrunst der Überzeugung oder der gute Glaube. Es hatte keinen Sinn, viel Salbe zu nehmen, wenn sie nicht an die richtige Stelle kam, oder den Wunsch zum Vater der Prognose zu machen. Ein paarmal hatte er im Gegenteil erlebt, wie der Verzicht darauf dem Wunsch zur Erfüllung verhalf; das war – man errät es – in der Sterilitätsberatung geschehen.

Wenn mein Vater die Hände rührte, dann dachte man keinen Augenblick an einen Künstler, nicht einmal an einen Handwerker. Dabei saß jeder Handgriff. »Noch sitzt jeder Handgriff«, bemerkte er nicht ohne Stolz zu seiner Frau, wenn ihm in den letzten Jahren seiner Berufstätigkeit eine »seltenere Sache geglückt« war; er sagte übrigens immer ›geglückt‹, nie ›gelungen‹. Ein Künstler bringt etwas hervor, auch ein Handwerker bringt etwas hervor. Er brachte Kinder zur Welt. Aber nicht einen Augenblick lang bildete er sich ein, daß er sie hervorbrachte. In Gottes Welt hielt er sich strikt an seine Aufgabe: Die Welt war geschöpft, sie brauchte jemanden, der sich auskannte, der geistig auf der Höhe der Schöpfung war, nicht einen Schöpfer.

Vaters Welt war die der Antike, keine Schöpfung, sondern eine Welt. Auf seine Art war er umtriebig. Er schuf in seinem Leben nie etwas, weder ein Bild noch ein Buch oder eine Speise, weder ein Blumenbeet noch ein Fotoalbum oder eine selbstgefertigte Bastelarbeit. Er dilettierte in keiner Kunst; daß er nahezu perfekt pfeifen – aber keinen einzigen Ton singen – konnte und zu seiner eigenen Unterhaltung die schwierigsten Passagen aus Beethovens und Mendelssohns Violinkonzerten pfiff, wußte nur, wer mit ihm über längere Strecken im Auto gefahren war. Er liebte die freie Rede; nicht den systematischen Begriff, sondern das geschliffene Wort. Eine gute Rede halten zu können war eine Gabe, sie zu halten eine Frage des Glücks. Je nichtiger der Anlaß, desto besser die Rede. »Ich war in Form«, sagte er schmunzelnd zu seiner Frau; er lobte sich nicht selbst, er gab nur wieder, was die andern gesagt hatten. »Ich war sprühender Laune«, berichtete er. Er hatte sich der Einfälle nicht erwehren können; kaum daß er sich die Zeit nahm, sie zu polieren und leicht angeschnitten wie Tischtennisbälle an sein Publikum weiterzugeben.

Vergänglicher Triumph! Was ich als eine Verdoppelung des Todesurteils empfand, unter dem wir alle leben, das war für ihn das Größte: der unsterbliche Moment. Denn das Leben mußte nicht übertroffen, es mußte gefeiert werden. So wurde der Tod überlistet, ohne daß man Gott, sofern es einen gab, zu nahe trat. Der geglückte Augenblick, dieser kleinste unter allen denkbaren Zeitmaßen, war der wahre Spiegel der Unendlichkeit; nicht der zerdehnte Gedanke, die eitle Grübelei.

Zu letzterem neigte mein Vater, er bezeichnete sich selbst als depressiv. Wo er in der zweckmäßigen Tätigkeit, in der erlebten Korrespondenz von Absicht, Ziel und Mittel nicht aufging, wo er in diese Korrespondenz nicht eingebunden war, da bedurfte alles einer Extraanstrengung, eines ´lan. Dieser ´lan – das war die Tücke der Depression – zielte nicht auf eine Extraleistung; vielmehr war in solchen Momenten das Leben selbst zur Extraleistung geworden. Es war, wie bei manchen modernen Fabrikaten, Leben und ›Extra-Leben‹ in eins, als einfaches Leben ohne Extras nicht mehr zu haben. Vater kapitulierte nicht selten vor der geforderten Anstrengung, dem notwendig gewordenen Aufwand und fiel in ein brütendes Schweigen. »Vater ist depressiv«, sagte meine Mutter dann. »Er läßt sich hängen«, sagten seine realistischeren Freunde. Das ging so lange, bis er wieder einmal »sprühender Laune« war und eine ganze normal deprimierte Gesellschaft unterhielt. Die liebte ihn dafür, so wie man den Arzt liebt, der einem die helfende Spritze verabreicht. Sein Tod war für seine Freunde mit dem unpersönlichen Gefühl des Verlusts an schierer Lebendigkeit verbunden. Sie betrauerten ihn, als wäre ein Teil von ihnen gestorben, als hätte der ´lan vital, der sie alle am Leben hielt, sich halbiert. Daß dieser Elan aus depressiven Quellen rührte – für mich ein Grund, ihn geringzuschätzen – minderte weder die Qualität des Spenders noch seine eigene; im Alter, das mußte sogar ein Existentialist wie ich zugeben, war es egal.

Vater sitzt im Morgenmantel am Küchentisch, bemüht, die Tasse zu greifen. Er kämpft gegen die Verwirrtheit, sucht wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Nur keine Überforderung jetzt; was ihm die vergangene Nacht beschert hat, war Überforderung genug. In der Notaufnahme haben sie ihn entlassen. Er darf es zu Hause noch einmal versuchen. Aber er muß sich zusammenreißen. Sich nicht zuviel zumuten und sich nicht hängenlassen. Um den Rahmen müssen sich seine Kinder kümmern; da mitzureden, auf Autonomie und was weiß ich zu beharren wäre nicht nur vermessen, es wäre ein Beweis für Verwirrtheit. Aber die kleinen Dinge, die einen am Leben halten, wird er selbst bewältigen. Er fängt mit der Tasse an. Wo fängt es bei der Tasse an? Beim Henkel. Was ist das Ziel? Nichts zu verschütten.

Vater verschüttet nie etwas, auch im Alter nicht; er hat die sprichwörtlich ruhige Hand. Daß ich ein phantasievolles Kind war, freute ihn. Daß ich in allen meinen Lebensäußerungen ein wirres Kind war, unordentlich, alles andere als reinlich, nicht eigentlich wild, aber beileibe nicht gesetzt – heute würde man sagen schlecht organisiert –, ohne Maß und Mitte, ohne Form, das betrübte ihn. Daß meine Buchstaben jedes Kreuzworträtsel entstellten, malträtierte sein Gefühl für Ordnung, sein ästhetisches Gefühl. Daß ich nicht imstande war, irgendeine meiner Tätigkeiten korrekt durchzuführen und angemessen zu beenden, kränkte ihn nicht nur, es mitzuerleben schmerzte ihn geradezu körperlich. Um sich selbst zu schonen, bemühte er sich, es zu übersehen; ich zog daraus den Schluß, daß es ihm nicht wichtig war. Es wäre ein Beweis für mangelnde Größe gewesen, wäre es ihm wichtig gewesen, und hätte ihn in meinen Augen herabgesetzt. Unordnung deutete auf Genialität; um hier einmal ganz genau zu sein: sie ließ der Genialität eine Chance (ließ einem die Chance, genial zu sein, auch wenn man herumlief wie ein Depp und sich bei jeder Gelegenheit verstolperte und verhaspelte). Den Auftrag zur Genialität aber meinte ich von meinem Vater erhalten zu haben; nicht mehr und nicht weniger und von niemand anders. Eine Form zu bewahren, bevor man sie gewonnen hat, war für mich ein Ausdruck schändlichster Mittelmäßigkeit; erst mußte die Genialität sich bewiesen haben, dann kam die Form. Daß mein Vater von meiner Unordentlichkeit, der von mir angerichteten Häßlichkeit sichtbar gepeinigt war, aber keine Konsequenzen daraus zog, legte ich mir als Zustimmung zu meinem Konzept aus: erst ein Genie zu werden, dann die dazugehörige Form zu gewinnen.

Die Griechen und Römer hatte mein Vater in der Schulzeit studiert. Sie waren ein Bestandteil seines Lebens, nicht seines Denkens. Er liebte die Sprache, die die Katastrophen ebenso wie die Einsichten bändigte, so daß sie sich nicht verselbständigen konnten, niemals; die Leben und Tod umeinander schlang und aus der Synthese Verse schmiedete. Die Philosophie liebte er nicht, oder aber er bildete sich ein, daß sie bei den Griechen lauter Sprache war, lauter Musik; daß er ihr Wesentliches erfaßt hätte, ohne es zu studieren, und was sich darein nicht fügte und nicht daran hielt, deutete für ihn bereits auf die spätere Verselbständigung des Denkens gegenüber dem Leben hin, auf dieses schreckliche Wort: Theorie. Ohne daß er die Philosophie weiter gekannt hätte, wußte er, daß sie spaltete. Daß sie sich einmischte und Forderungen stellte. Daß sie Konsequenzen verlangte, und sei es die, eine Sphäre des Denkens abseits von der des Lebens zu konstatieren. Die Sprache dagegen vereinigte das Gespaltene. Die Sprache des Epos sang. Die der Maximen und Sentenzen leistete Steinmetzarbeit: schlug, schliff und formte. Das war ihre Art, konsequent zu sein. Wenn mein Vater den Anfang der Ilias oder, mit der geschmäcklerischen Betonung eines erfahrenen Komponisten, ein Distichon rezitierte, dann konnte er durchaus auf das Universum an Bedeutung verweisen, das sich dahinter verbarg; war es doch gebunden, und es bestand keinerlei Gefahr, daß es frei werden könnte, gefährlich. Der nackte Gedanke dagegen machte ihm angst. Er lehnte ihn ab oder sicherer, er vermied ihn mit einer instinktiven Sicherheit, die mir ein Rätsel, ein Anlaß ungläubigen Staunens war, stürzte ich doch von einem Gedanken in den nächsten, und immer waren sie unglaublich nackt. Er hörte im richtigen Augenblick auf zu denken. Schweifte ab. Kam auf anderes, was horizontal daneben, nicht vertikal darüber lag, also aus dem Leben stammte, nicht aus dem Denken, aus dem Erleben, nicht aus der Abstraktion. Oder aber er zitierte und rezitierte.

Dank der Erziehung durch seinen Großvater war mein Vater praktisch ein Zögling des 19.Jahrhunderts, überdies Kriegswaise; wie er selbst sagte, ein mutterfixiertes, weiches Kind. Als Heranwachsender litt er unter der »Demütigung von Versailles«, so wie er unter dem Verlust seines Vaters hätte leiden müssen, den er freilich gar nicht kannte; und außerdem hatte er ja den Großvater. Später, als brillanter Medizinstudent, »Turner« (also, wie er selbst betonte, »nicht schlagend«), profiliertes Mitglied im NS-Studentenbund (aber nicht Parteimitglied), hatte er als intellektuelles Rüstzeug oder Rüstzeug der Reflexion, des Nachdenkens und der Selbstbesinnung, nur was ihm das 19.Jahrhundert in Gestalt seines Großvaters und der Lehrer des Breslauer Gymnasiums vermittelt hatte: die Trennung von Körper und Geist, von Weg und Ziel, die Trennung des bloß Äußerlichen vom wahrhaft und deshalb wahrhaftigen Innerlichen, des bloß Begriffenen vom tief Empfundenen und deshalb empfundenen Tiefen, des Materiellen vom Geistigen, Vergänglichen vom Ewigen – kurz alles dessen, was Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen als den Philosophieersatz des deutschen Bürgertums zusammengefaßt und wozu er sich, einer für alle, bekannt hat. Mein Vater kannte das Buch »selbstverständlich« nicht (es war ja nicht aus dem 19.Jahrhundert). Aber er dachte genauso.

Er kritisierte meine Unordentlichkeit und mangelnde Form, bedauerte mich aufrichtig, weil ich kein Griechisch, bloß Latein lernte, also niemals gebildet sein würde, überdies sprunghaft und unzuverlässig war, noch dazu mathematisch unbegabt, hielt mich aber nicht ernstlich zur Ordnung an und drang mitnichten auf Konsequenz, sondern offenbarte darin seine eigene Unzuverlässigkeit und mangelnde Entschlossenheit. Ich reagierte, als wäre ich er, seine Ohnmacht als Ironie interpretierend, und so als wüßte ich, worauf es uns gemeinschaftlich ankam. Nie, jedenfalls, hätte ich daran gezweifelt, daß der beinahe religiöse Existentialismus von ihm kam, der mich am Leben hielt und hinderte und den mein protestantischer Vater bedenklich fand – zumal er gelegentlich in eine existentialistische Religiosität umkippte, die freilich am ehernen machismo der katholischen Religion zuschanden wurde –, daß diese beständige Inbrunst, dieses fundamentalistische Kleben am Wesentlichen, am Geistigen, diese schuldsüchtige Liebe zu einer Wahrheit, die gebeichtet oder für die gestorben werden mußte, seinem Lebensgefühl entsprach und das Wertgerüst war, das er an mich weitergegeben hatte; zu treuer Verwaltung, versteht sich, ein Vermächtnis vom Vater an die Tochter, ein Geschenk und Auftrag von metaphysischem Gewicht. Was Vater mit dem Griechischen wollte, verstand ich nicht. Sprache war ein Instrument, Poesie ein Dogma, bestenfalls eine Methode. Das Zitat war per definitionem vom Sinn befreit, das Rezitativ die Schwachstelle der Oper. Nichts schien mir hohler als eine Sentenz, nichts lächerlicher als eine Maxime. Aber mein Leben lang war ich davon überzeugt, daß ›Inbrunst‹ von ›Brust‹ käme und ›in der Brust‹ der Brust das n geliehen hatte. Da der Protestantismus meines Vaters, der in eine katholische Familie hineingeheiratet hatte, sich bei ihm notgedrungen – und, wie ich später lernte, auch konfessionstypisch – ›in der Brust‹ abspielte, war es für mich klar, daß ich die Inbrunst von ihm hatte; meine katholische Mutter erschien mir demgegenüber als oberflächlich.

Für mich war es schwer, im Grunde eine Lebensaufgabe zu begreifen, daß mein Vater alles andere war als ein Philosoph. Daß die verblasene, ganzheitliche Lebensphilosophie des späten 19.Jahrhunderts, die er sich zu eigen gemacht hatte, der typische und vulgäre Philosophieersatz des Bürgertums, recht eigentlich ihre Anti- oder Antiphilosophie-Philosophie war, nicht nur Ersatz für, geschweige denn Vorstufe von, sondern Waffe gegen striktes Denken. Wie konnte jemand, der abwechselnd über Unaussprechlichem brütete und Gesprochenes rezitierte, kein Philosoph sein? Natürlich waren ihm ethische Probleme, alles was mit der praktischen Philosophie zusammenhing, nicht fremd, allein schon aus Gründen seines Berufs; durch ihn aber bereits umzentriert und zu Gewissensfragen entstellt. Was darüber hinausging, vermied er mit dem angeborenen Mißtrauen des Bürgers, der weiß, daß er kritisiert werden wird, und fand hierbei in der Oberflächlichkeit meiner Mutter einen sicheren Halt. Allzu bereitwillig gestand er, »davon« nichts zu verstehen. Für mich war dieses Bekenntnis kontingent, schlechterdings unverständlich, apokryph; um so mehr, als es eine Debatte – oder ein Leben –, abschloß und nicht begann. Daß es einen Schlußpunkt setzte: Ende der Unterhaltung Punkt. Tatsächlich kam die Unterhaltung zwischen meinem Vater und mir für lange Jahre ins Stocken.

Begriff jemand die gesprächsausleitende Bedeutung dieser Äußerung nicht – und natürlich passierte das in Gesprächen mit meinen studentischen Freunden notorisch –, dann ergab sich, was für meinen Vater so etwas wie ein lebendiger Beweis des philosophischen Dogmatismus war. Er sollte zu etwas gezwungen werden, nicht bloß zu einer Unterhaltung, die er in der Form ablehnte, sondern auch zu einem Geständnis. Unreife, junge Menschen, die das Abstrakte des Gedankens mit dem Allgemeinen des Lebens verwechselten, wollten ihm, der auf diesem Gebiet und in ihrem Alter massiv geirrt und seitdem sich der konkreten Vielfalt des Lebens zugewandt hatte und das Hohelied des Alltags sang, nicht nur etwas über das Denken erzählen – das wäre für einen Abend noch angegangen –, sondern etwas über das Leben.

Nach Jahrzehnten der Entfremdung, als die Umstände uns zwangen, einander als wirkliche Menschen zu sehen und in einer direkten, nicht durch Infantilismus und familiäre Nähe verzerrten Sprache miteinander zu reden, fragte er mich einmal, aus einer seiner grüblerischen Träumereien auftauchend, übergangslos nach meiner literarischen oder theoretischen Arbeit; so genau unterschied er nicht. Bislang hatte er sich allenfalls nach meiner schulischen Tätigkeit erkundigt, und der für mich offensichtliche Ersatzcharakter dieser Frage hatte mich stets geärgert und meine Bereitschaft zu einer ehrlichen Antwort gemindert.

Ich erschrak, als er mich so direkt fragte. Mir schien, als wäre er jünger geworden, mutiger. Als wäre er im besten Alter, wo man konzis wird, weil man beschäftigt ist. Mißtrauisch blickte ich zu ihm hinüber. Wie alt war er wirklich? Ging er tatsächlich auf die Neunzig? Die Kopfbewegung, mit der er dem Traum entstiegen war, schien die eines Jünglings. Der hellblaue Blick war scharf, die Frage klipp und klar; sie verlangte nach einer Antwort.

Ich fand mich nicht schlecht in der Bredouille, hatte mein Vater mir das Ineins von Philosophie und Leben doch gewissermaßen vererbt. Um es so zu sagen: Ich liebte die philosophische Klarheit mit der Inbrunst meiner unklaren Person. Außerdem, wie sollte ich ihm etwas beschreiben, was ich, um es für ihn beschreiben zu können, gemeinsam mit ihm hätte konstruieren müssen; für ihn existierte es ja nicht! Wie sollte ich ihm sagen, daß ich auf einem Grat zwischen Philosophie und Kritik, zwischen Literatur und Philosophie, Kritik und Literatur wandelte, wenn nicht ein einziger dieser Bereiche, von deren Abmessungen ich mich emanzipieren, deren Grenzen ich nicht respektieren wollte, ihm etwas sagte; wogegen mir über der Konstruktion beständig neuer Grate allmählich die Bereiche abhanden kamen.

Wie sollte ich ihm unter diesen Auspizien seine klipp und klare Frage beantworten?

Der Fortschritt hin zur Wirklichkeit, den wir in unserm Umgang erzielt hatten, zählte mehr als jedes Bedenken. Die Antwort mußte ehrlich sein, und sie mußte rasch erfolgen, sonst hatte mein Vater seine Frage vergessen. Ich gab sie also, so gut und knapp es ging, und fügte – aus kindischer Rache, gewiß, aber auch als Bitte um Nachsicht für die Mängel der Erklärung – hinzu, daß es sich um etwas handelte, was sie, die Eltern, nicht gekannt hätten und dessen Existenz oder Nichtexistenz ihnen deshalb gleichgültig gewesen sei.

Das ist aber schlimm, sagte mein Vater. Der Satz kam wie aus der Pistole geschossen.

Ist egal, sagte ich. Was sollte ich sagen?

Er sah mich forschend an. Das in diesem Augenblick sich vollziehende Vergessen wurde zum Ausdruck reinsten Interesses, zum Ausdruck der Wißbegier an sich. Dann gewann die Diskontinuität des erschöpften Alters über die Kontinuität des hellwachen Geistes die Oberhand, und der Gedanke »hörte im Herzen auf zu sein«. Mein Vater wandte sich wieder seinen geliebten mathematischen Spielereien zu, mit denen er sich ein Leben lang abgelenkt hatte; statistischen Spielereien, wie ich vermutete, die wir hoffnungslos überschätzten.

In den zweieinhalb Jahren zwischen dem Tod seiner Frau und seinem eigenen Tod überraschte er mich öfter mit solchen Fragen. Es kam mir vor, als blickte er auf sein Leben wie auf ein fortgeschrittenes Puzzle, in dem bloß hier und da noch eine Lücke klaffte. Das war nicht schlimm, das Verständnis war ja nicht behindert, nur der Gesamteindruck gestört. Was die fehlenden Teile selbst anging, so wußte man freilich nie, was es mit ihnen auf sich hatte. Genügte ein Blick, um sie zu erkennen, ein Handgriff, um sie einzufügen, oder waren sie hinuntergefallen und, unbemerkt aufgekehrt, im Staubsaugerbeutel gelandet, verloren? Überdies schien ihnen etwas Zweideutiges eigen: Kaum hatte ich sie meinem Vater nach gewissenhafter Prüfung überreicht, schon rutschen sie erneut unter den Teppich.

Also waren es keine Ergänzungsfragen, sondern diskontinuierliche Fragen, Schlußfragen, Abschlußfragen. Vater machte seinen Saldo. Danach trat er in das Leben zurück, wandte sich erneut dem Kontinuum zu, suspendierte den Schluß. Noch war er nicht soweit, aber er probierte es schon mal, und durchaus in der Wahrnehmung des Bruchs.


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