Ilse Bindseil
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Er muß ganz für mich sein, und er muß ganz für sich sein, nicht größer, nicht kleiner, sondern ein anderes Modell. Er als Person bezieht sich auf eine andere Norm als ich; auf ein anderes System.
Indem ich über ihn nachdenke, beziehe ich ihn auf dieses andere System. Aber ich kenne es natürlich nicht. Ich lerne es erst durch ihn kennen, und ich beziehe mich schrittweise darauf. Am Leitfaden des Exemplars, das er verkörpert, lasse ich mich zu einer anderen Norm führen.
Deshalb liebe ich ihn; denn nur er kann mich zu dieser anderen Norm führen. Nur er kann mich mit ihr bekannt machen, und deshalb geht mir der Verlust an die Nieren, der Verzicht auf seine Person oder das Verbot.
Ich vergleiche ihn nicht. Vor allem vergleiche ich ihn nicht mit mir. Ich beziehe ihn nicht auf mich (und auf niemanden vor ihm). Ich beziehe mich nach vorn, baue Brücken ins Neue. Durch ihn beziehe ich mich nach vorn, auf etwas Unbekanntes, das es gleichwohl geben muß (denn er kommt ja von dort). Daß aber nicht gut sein muß. Daß auch schlecht sein kann.
Über Brückenköpfe taste ich mich nach vorn. Wo nicht ich ist, da will ich hin, auch wenn es böse ist.
Sein Körper muß schnittkantengenau auf meinen passen. Er selbst darf mir fremd und unverständlich bleiben.
Als Fremder kann er die wichtigen Sachen erkennen. Als einer, dessen Körper schnittkantengenau auf meinen paßt, darf er sie aussprechen.
Er kann die wichtigen Sachen sagen. Ich begnüge mich mit Stimmfühlungslauten, mit »mhm« und »mhm« und »piep«. Ich bin stolz darauf, daß ich nicht überhaupt verstumme. Daß ich weiß, daß es neben dem Wichtigen noch ein Elementares gibt. Ein Elementares neben der Wahrheit. Nicht als Wort, sondern als Laut.
Er weiß die elementaren Wahrheiten, und ich staune. Wo nimmt er sie her? Wie kann er sie wissen, wo alles in Bewegung ist? Wie kann er sie herausfischen aus dem allgemeinen Gerede? Ich könnte es nicht.
Ich kann auf sie verzichten. Ich weiß, daß die Wahrheit nicht alles ist. Ich habe sie nicht. Aber ich kann auch ohne sie.
Er muß sie aus seinem eigenen System haben – aus meinem hat er sie wie gesagt nicht.
Er kann die wichtigen Dinge sagen. Er kann stets auf sie zurückgreifen. Sie gehören zu seinem System; dabei ist er verwirrt und kompliziert, verstört wie nur irgendein anderer.
Sie sind sozusagen ein Bestandteil seiner DIN.
Sie sind ein Bestandteil seiner Norm, weil sie außerordentlich wahr sind. Sie strotzen vor Evidenz.
Er kann die Wahrheit aussprechen. Ich begnüge mich damit, ehrlich zu sein.
Er kann von sich absehen; er vergißt nie, daß es das Wahre auch ohne ihn gibt, daß es seiner nicht bedürftig ist. Ich muß mich ins Getümmel werfen, mich mit Haut und Haaren auffressen lassen, mich vorbehaltlos zur Verfügung stellen.
Er weiß immer, daß es auch ohne ihn geht.
Ich weiß nur, daß ich nichts zurückhalten, nichts für mich behalten will; doppelte Buchführung kenne ich nicht. Das System der Hintergedanken ist mir fremd.
Seine Wahrheiten sind einfach und evident. Ich könnte sie jederzeit übernehmen. Ich könnte sie in mein eigenes System einbauen, wüßte ich nur, an welche Stelle sie gehören (und da stelle ich eben fest: da sie nach einer anderen DIN gefertigt sind, gehören sie an keine). Aber sie passen zu mir, so wie er zu mir paßt. Ja, ich kann sagen, daß ich nach ihnen lebe.
Ich habe sie nicht parat. Aber ich lebe schon immer nach ihnen. Wenn er mir sagt, nach welchem Gesetz ich lebe, nach welcher Regel, bin ich erstaunt. Mir ist, als wäre ich just im Begriff gewesen, gegen den Geist dieser Gesetze zu verstoßen, aus Unkenntnis, als wäre ich vom rechten Weg abgewichen, hätte er nicht in diesem Augenblick mit mir gesprochen. Als hätte ich nicht mehr gewußt, was das Gesetz meines Lebens ist; dabei habe ich es doch immer und immer erfüllt.
So nennt er das Gesetz meines Lebens immer im richtigen Moment. Ohne daß er mir die Wahrheit sagt, gehe ich völlig in die Irre.
Ohne daß er sie gelegentlich für mich ausspricht, würde ich nie erfahren, worum es geht. Was das Wichtige im Leben ist.
Er weiß immer, was das Wichtige im Leben ist.
Ohne ihn treibe ich so dahin. Nein, nicht so, daß ich mich gehenlasse; das wäre eher seins, sagt er. Vielmehr so, daß alles für die andern ist: meine Fasson, meine Disziplin und Balance. Aber seine Tugenden sind für mich. Wenn er zu mir sagt, wir müssen, wir können nur, es wird, dann spüre ich, daß sie für mich sind.
Als Tugenden sind sie für mich, aber als Wahrheiten passen sie nicht in mein System. (Als Wahrheiten gehören sie zu meinem Leben, passen aber nicht in mein System!)
Auch in meinem System hat das Einfache Platz, aber nicht als Element, sondern als Urteil und höchste Bestimmung. Das Einfache lebe ich tagtäglich, oder es lebt mich. Es ist das ewig unerreichte Ziel meines Denkens. (Mit Brecht zu sprechen: In meinem Leben ist es das Schwere, das leicht zu machen ist, in meinem Denken das Leichte, dem ich in ewiger, törichter Bezauberung nachstrebe.)
Meinem Liebsten fällt leben unendlich schwer. Aber das Richtige zu tun fällt ihm leicht. Im Grunde weiß er immer, was richtig ist.
Wenn die Kategorien außer Rand und Band geraten, wenn das Gefolgerte sich als das Originelle aufspielt, das Zusammengesetzte als einfach und das Letzte als Erstes, wenn das stabile Gerüst der Ableitungen in sich zusammenfällt, wenn ich mit Gedanken auf Gefühle losgehe und umgekehrt, dann rückt er mir den Kopf zurecht.
So hält er mein Leben aufrecht. Ich halte ihn aufrecht. Denn auch ich habe meine einfachen Wahrheiten. Auch ich weiß einfache Dinge.
Ich brauche ihn, damit überhaupt Alltag entsteht. Er braucht mich, weil sonst der Wahnsinn das steuerlose Schiff entert (denn da ist kein Steuermann).
Er braucht mich, damit ich seine Gedanken in Schach halte. (Ich brauche ihn zum Leben.)
Nimm dich ernst, sage ich zu ihm. Hör auf zu spinnen!
Neugierig sieht er mich an. Ich bin ihm unendlich fremd. Aber ich weiß alles Wichtige über ihn; was er tut und was in seinem Kopf vorgeht. Ich verlange von ihm, daß er auf den einzigen Trost verzichtet, auf den er gelegentlich zurückgreift. Wenn er seine Nichtigkeit nicht mehr erträgt, dann spürt er Machinationen hinterher, fühlt sich ein in die Spiele der Götter, deckt das Weltganze auf. Schlägt um sich, als wenn er von allen Seiten angegriffen würde. Geht aus dem ungleichen Kampf geschlagen, aber als Held in Freiheit hervor.
Er staunt. Daß ich ihm zutraue, was ich von ihm verlange, wundert ihn am meisten bei der Sache. Beinahe fühlt er sich dazu imstande.
Neugierig mustert er mich. Ich bin ihm in jeder Hinsicht fremd: was Alter, Herkunft und Geschlecht betrifft, Haarfarbe, Hautbeschaffenheit, Humor und geschmackliche Vorlieben. Aber auch wenn er nicht weiß, mit wem er es zu tun hat, sein Herz paßt schnittkantengenau auf meins.
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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 138 (2007), 51–55.
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