Ilse Bindseil
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Er muß feingliedrig und breitschultrig sein. Ist er nur feingliedrig, dann muß man achtgeben, daß er nicht zickig ist. Zarte Männer gleichen den Mangel an Breitschultrigkeit gern durch Zickigkeit aus. Sie verwechseln Zickigkeit mit Volumen. Sie gleichen den Mangel an Breitschultrigkeit auch gern durch Narzißmus aus. Sie schauen nach innen und finden sich riesig.
Er sollte aus einer Jünglingsgesellschaft stammen. Wer aus einer Männergesellschaft kommt, ist immer schon erwachsen. Gerade war er noch vier oder fünf, ein ›kleiner Mann‹, schon ist er groß. Der Jüngling dagegen gehört zu einer Kultur der Unfertigkeit, zu einer Kultur der Andeutung, einer Kultur der Möglichkeit. Und je älter er wird, desto jünger wird er!
Alt werden heißt für ihn dem Phänomen des Jünglings auf den Grund kommen.
Sterben, ihm auf den Grund gekommen sein.
Die Männer der Männergesellschaft sind dagegen nichts als alt, die alten Männer uralt. Sie wecken Mitleid, nicht Rührung noch Sehnsucht. Man weint vielleicht über sie. Aber man schmilzt nicht.
Männer, die aus einer Jünglingsgesellschaft stammen, fangen ältlich an, aber sie enden jung. Mein Jüngling wurde in seiner Kindheit Opa gerufen, weil er ohne Spannkraft war und wenig konturiert, wie eine Made. In dem Maß, wie die Stacheln sich über der zarten Haut sträubten, zerfurchte sich die unfertige Stirn vom Druck der äußeren und der inneren Realität und bot den Anblick eines Schlachtfelds, den Anblick mißbrauchter Jugend.
Als nun das Gesicht das Überkonturierte des Jünglingsantlitzes verlor und sich auspolsterte, sich abglich mit der Realität – die Kiefer zum eigensinnigen Bogen aufspannte und in den Wangen die Genüsse der Welt einlagerte, das Süße, das Herbe –, da konnte man das Kind ahnen, das er gewesen wäre, wäre er nicht in eine Jünglingsgesellschaft, sondern in eine Männergesellschaft hineingeboren worden, nicht als Larve, sondern als Macker auf die Welt gekommen: reizbar, fordernd, gierig (dabei überaus lieblich, ein Kind eben) – süchtig nach Vergötterung und nach Zurechtweisung, nach schmatzenden Tantenküssen und einer mütterlichen Ohrfeige.
Auch die Totenmaske existierte bereits hinter den Spiegeln: der Ausdruck befriedet, die immer noch unfertige Stirn von Falten befreit, der Ausflug ins Leben beendet, die Rückkehr in den Schoß vollbracht, das Abenteuer der Individuierung erfolgreich bestanden, das Ich entdeckt – und überwunden. Noch immer sind Spuren der Tapferkeit zu entdecken im mürben Gesicht, flüchtige Beweise, daß das Leben nicht leicht gewesen ist für den Jüngling. Er ist für den Lebenskampf nicht gemacht; eher für die Betrachtung (für die Betrachterrolle oder für die Rolle des Betrachteten). Aber alles ist ausgeglichen, unaufdringlich, entzerrt, um nicht zu sagen: eingegliedert. Niemand kann sich so über den Tod freuen wie der, der als Jüngling gelebt hat; niemand kann ihn so begrüßen!
Er sollte breitschultrig sein. Die Schultern gewähren den Blick auf die Gattung, auf das Ganze des Geschlechts, und wie sonst sollte man sich des Unfertigen des Unfertigen gewiß sein, wenn nicht wenigstens ein Teil fertig ist. Die Schultern sind der nachhelfende Beweis für die Unfertigkeit, zugleich der Beweis für das Fertige des Unfertigen, der Beweis dafür, daß es nicht an der Fähigkeit gelegen hat: so breit, wie die Schultern sind, so verläßlich, wäre es absurd, von der Unfertigkeit auf die Unfähigkeit zu schließen.
Schultern müssen sein.
Fein sind seine Züge – und vielgestaltig müssen seine Empfindungen sein. Dank ihrer macht er sich eine selbständige Vorstellung von mir, und ich kann mich vollständig in ihm abbilden.
Er soll sich ein Bild von mir machen können.
Daß er mich liebt, merke ich an der Lebendigkeit, der Vielgestaltigkeit, der Unverwechselbarkeit des Bildes, das er von mir hat.
Alles was er erlebt, muß er mir erzählen. Aus seinen Erzählungen baue ich mir die Wirklichkeit zusammen.
Ich, die ich bilderlos existiere wie ein Muslim oder ein Calvinist, mache mir ein Bild von der Welt!
Da es aus seinen Erzählungen gewonnen ist, ist es durch und durch Bild und gehört zu meinem Erleben, nicht zu meinem Begreifen, zu meinen Vorstellungen, nicht zu meinen Gedanken; zu meinen Träumen, nicht zu meinen Erinnerungen.
Sonst erlebe ich eher wenig (weil ich keine Augen im Kopf habe usw.). Aber ich erlebe die Welt durch ihn, und je parteilicher seine Schilderung ist, je voreingenommener, je betroffener, ja, auch selbstherrlicher, desto mehr erlebe ich sie. Ich erlebe das Prinzip der Welt: daß sie lebendig ist. Ich verneige mich vor ihrer Vollkommenheit: daß sie in Unvollkommenheit bestehen kann – im Gegenteil zu allem anderen, was noch existiert, wir zum Beispiel, die wir nur als Vollkommene existieren könnten, so unmöglich, wie wir angelegt sind, so verkorkst in unserer Konstruktion, so unerhört verquer!
Feingliedrig von Konstitution und Vorstellung, lebt er in der Welt, indem er sie erlebt. Um leben zu können, muß er sie erzählen.
Er hilft mir, die Welt zu erleben. Ich helfe ihm leben.
Er muß mich unbefangen anreden können.
Wenn er mich anredet, dann bin ich im tiefsten erstaunt: Er ruft mich nicht, er redet mit mir! Er sagt nicht: »Adam, wo bist du?«, und ich in meiner Herzensangst: »Hier bin ich, Herr!« Übrigens, erst seitdem ich eine gewisse Erfahrung gesammelt – und gewissermaßen Vertrauen aufgebaut – habe und weiß, daß ich mit meinem Namen nicht nur gerufen, sondern angeredet werden kann, traue ich es mir sogar zu, daß sage: »Ich habe mich versteckt!«, und dann kommt er, der sich Herr nennt, schaut unter das Bett und lüftet die Matratze.
Erst seit kurzem habe ich realisiert, daß mein Name auch zum Reden taugt, nicht nur zum Rufen, daß er den Satz vertrauensvoll einleiten wie auch sich behaglich zwischen die Teile schieben kann als ein stabiles Element im Ungewissen, ein beruhigender Refrain, eine Form der Sammlung, ein Aufatmen und Zu-sich-Kommen.
Als eine Äußerung des Vertrauens. Oder einfach eine Äußerung.
Eine Weise, sich auszudrücken oder sich auszuruhen.
Ich halte es aus, daß er mich anredet. Es ist, als ob er ganz dicht bei mir steht, und ich rühre mich nicht. Ich weiche nicht zurück: was soll mir passieren? Er redet nur mit mir. Er bestimmt nicht über mich. Und wenn er noch näher kommt: er bestimmt nicht über mich. Er sagt nur – manchmal sagt er nichts als meinen Namen.
Ich halte es aus, daß er meinen Namen sagt: er ruft mich nicht, er nennt mich nur. Er spricht nicht in den sentenziösen Sätzen der Götter mit mir, die sich als meine Eltern ausgeben, er redet mit mir. Für ihn ist mein Name wie eine Strophe.
Oder wie eine Geschichte. Ein ganzer Text.
Ich stelle mir vor, daß er über mich redet, und der Gedanke erschreckt mich nicht.
Er erwähnt mich, na und? Er spricht über mich. Wenigstens existiere ich.
Mein Name fällt in einer Unterhaltung, und niemand wundert sich. Niemand verhaspelt sich. Niemand errötet. Keiner ist peinlich berührt.
Auch wenn ich mir selbst abhanden gekommen bin, irgendwo bin ich.
Er kennt meinen Namen, und ich fürchte mich kein bißchen.
Dabei ist Furcht mein ständiger Begleiter, ja, ich kann sagen, ich lebe in seiner Furcht. Aber ich fürchte mich nicht.
Nicht vor ihm. Ihn beachte ich nur. Ich rechne mit ihm, aber ich fürchte mich nicht.
Ich sage: »Ich habe mich versteckt.« (Aber ich sage nicht: »Herr!«)
Ich sage: »Ich hatte gelogen.«
Ich sage: »Ich habe gemogelt.«
»Ich hab’s dir nicht gesagt«, sage ich, »ich traute mich nicht.«
»Ich dachte, du schimpfst. Dann macht er Theater, dachte ich«, sage ich. »Na gut, dachte ich, dann meckert er eben hinterher«, sage ich.
Ich lebe in seiner Furcht. Aber ich fürchte mich nicht vor ihm. Ich habe einfach keine Angst.
Ich beobachte ihn nicht, ich betrachte ihn. Ich interpretiere nicht seine Stimmungen. Ich verfolge nicht ängstlich, was er tut oder denkt.
Er ist wütend, na und! Er ist eben schlecht gelaunt. Er könnte verstimmt sein? Tant pis.
Er wirkt mitgenommen, bekümmert? Wieso sollte ich mir Sorgen um ihn machen? Er hat ja mich. Alles halb so schlimm: Kummer, Wut und schlechte Laune.
Selbst wenn das Licht ausgeht und die Welt dunkel wird: Alles halb so schlimm.
Hauptsache, er widerruft mich nicht.
Daß er mich verleugnet, mag vorkommen. Ich sage mir, er will wissen, wie das ist: einer zu sein, nicht zwei. Er hat es vergessen. Mag er es spüren. Mag er es auskosten, einen Moment. Mag er es aushalten.
Er hält’s aus, kein Wunder, er tut ja nur so als ob. In Wirklichkeit ist er nicht allein (und da es sich so verhält, halt ich’s auch aus).
Mag er mich gelegentlich verleugnen. Das ist nicht so schlimm.
Alles halb so schlimm, sage ich mir. Solange er mich nicht widerruft, ist alles halb so schlimm.
Aber wenn er mich widerruft? Es mir wie bei einem anständigen Prozeß mitten ins Gesicht sagt?
Mir ins Gesicht sagt er, daß alles nicht wahr ist?
Daß es nicht stimmt, daß gar nichts gewesen ist?
Ich will sagen, aber guck mal, oder weißt du nicht, oder du weißt doch genau, oder erinnerst du dich nicht?
Aber ich sehe, daß er ein anderer geworden ist; nicht fremd, leider, nur ein anderer. Er hat das Hemd gewechselt, oder die Identität. Er hat eine andere Seite aufgezogen.
Ich kenne ihn noch. Aber ich erkenne ihn nicht wieder.
Mit dem ganzen Recht dessen, der ein anderer geworden ist, widerruft er.
Er widerruft mich.
Wie sollte er mich nicht widerrufen, er hat ja nichts mit mir zu schaffen!
Er kennt mich nicht. Er ist ja ein anderer.
Irrlichternd streift mich ein befremdeter Blick: Wer bist du? Muß ich dich kennen?
Ich kenne ihn noch, aber ich fürchte mich jetzt.
Er hat ein anderes Gesicht aufgesetzt. Ich kenne es, aber es kennt mich nicht.
Er hat ein fremdes Gesicht aufgesetzt.
Nicht ich kenne ihn nicht mehr – und ich konnte mich darauf verlassen, daß das nie geschehen würde und hielt unsere Liebe deshalb für unsterblich. Sondern er kennt mich nicht.
Das geht ganz einfach und entwickelt sich nicht. Es geht ganz schnell.
Es braucht keine Vorbereitung. Im Nu ist es geschehen. Er widerruft: die Liebe hat es nie gegeben.
Sie war kein Irrtum, sie war einfach nicht.
War oder nicht: sie ist nicht.
Habe ich ihn jemals Liebster genannt? Bei dem bloßen Gedanken stockt mir das Herz. Wie konnte ich mich erkühnen?
Wie konnte ich mir eine solche Ungeheuerlichkeit herausnehmen, eine solche Zudringlichkeit?
Wie konnte ich mir einen solchen Übergriff erlauben? »Liebster«, ihm, mitten ins fremde Gesicht!
Vor Schreck sage ich gar nichts mehr, höchstens noch Hhm und Hm und Piep.
Ich rede ihn nicht mehr an.
Schon gar nicht sage ich Liebster zu ihm. Ich, hier, in der Fremde, auf hoher See, mitten in der Eiswüste, im Alptraum eines andern – was weiß ich, wie ich da reingekommen bin –, ich sollte das Wort gebrauchen, das mir das Fremde heimelig und das Unkenntliche vertraut gemacht hat? Lieber spucke ich es aus.
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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 138 (2007), 51–55.
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