Ilse Bindseil

Frühe Erzählungen

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Was ist im Mittelfeld los?

Kalle rennt hinüber zu seinem Freund, faßt seine Hand und zählt die Pulsschläge, winkt mit der einen Hand den Männern mit der Trage, mit der andern der Braut des Verletzten und bleibt dann einen Augenblick abwartend stehen und starrt in das blaß gewordene Gesicht seines Freunds und hört nicht das Protestgeschrei, das Johlen ringsum. Im Galopp kommen die Männer mit der Trage über den Rasen. Von der Tribüne quält sich mühsam die Braut herunter. Alle sind aufgesprungen, pfeifen, rudern mit den Armen. Sie kämpft sich durch die Reihen und murmelt: Ich bin die Braut. Aber es hört sie Gottseidank keiner. Mit gerunzelter Stirn sieht der Schiedsrichter auf seine Uhr und überschlägt die verlorengegangene Zeit.

Kalle steht neben seinem Freund und versucht sich zu erinnern, was mit dem Puls war. Aber er ist kein Arzt. Als die Männer da sind, dreht er sich abrupt weg und geht hinüber zur Braut, die soeben den Rasen betritt. Bei dem, was jetzt kommt, muß er ihr vorher die Hand geben. Er gibt ihr die Hand, und sie sagt: Ich bin die Braut. Aber das ist ganz unnötig, denn er kennt sie schon ewig, und bevor sie mit seinem Freund, hätte er beinahe mit ihr etwas gehabt. Er befreit seine Hand, obwohl sie mit ihren Stöckelabsätzen auf dem Rasen einen starken Arm gebrauchen könnte, und läuft hinüber zu seinem Trainer. Er vermeidet den Blick, der ihn nach dem Verletzten fragt, und schlüpft aus dem Trainingsanzug. Weißt du, sagt der Trainer und hält ihm die Schuhe hin, im Mittelfeld ist es anders. Im Mittelfeld mußt du … Kalle schlägt mit den Armen und beugt federnd den Rumpf, daß die flachen Hände den Rasen berühren. Trippelnd wartet er, daß es losgeht. Paß auf, sagt der Trainer, du bist es nicht gewohnt. Aber als er sieht, daß Kalle schon nicht mehr hört, zuckt er mit den Schultern und winkt dem Assistenten, damit der ihn begleitet. In dem Augenblick, wo die Männer mit der Trage das Spielfeld verlassen, steht Kalle erneut auf dem Rasen.

Der Schiedsrichter mustert ihn mißtrauisch, so als wollte er ihn fragen, wieviel Ärger er ihm zu machen gedenkt, und Kalle bekommt unwillkürlich ein schlechtes Gewissen. Eilfertig hebt er die Füße und zeigt seine Stollen. Aber der Schiedsrichter sieht gar nicht hin. Mit den Augen verfolgt er die trippelnde Braut und pfeift in der Sekunde, wo der letzte Stöckelabsatz das Spielfeld verläßt. Sein Flugzeug geht fünfundvierzig Minuten nach dem Spiel, und er hat keine Zeit zu verlieren. Ehe Kalle richtig begriffen hat, in welcher Hälfte er spielt, bekommt er einen Ball vor den Latz, daß er wankt.

Im Mittelfeld ist es anders, das merkt er sofort. Aber er hat es ja selbst gewollt, und er läßt sich nicht bange machen. Scheinbar willenlos treibt er mit den andern mit, bleibt dabei aber immer einen halben Schritt zurück und lauert. Verdammt eng hier, denkt er. Es zwickt ihn, daß die andern an ihm vorbeilaufen und er hängt hinten nach. Vorn ist er von allen der Schnellste gewesen, und er ist gerannt, daß man dachte, er fliegt. Wenn er sich umgedreht hat, hat er immer nur festgestellt, daß die andern nicht halb so schnell waren wie er. Von Taktik, Ordnung keine Spur. Jetzt, von innen, muß er zugeben, daß er sich geirrt hat. Er hat keine Ahnung gehabt, wie es im Mittelfeld ist, keinen blassen Dunst. Er beißt die Zähne zusammen, als er auf beiden Seiten dicht überholt wird. Nur jetzt nicht wegrennen! denkt er. Mit der Fußspitze nimmt er den Ball an, den sie auf ihn zurückgespielt haben, und befördert ihn durch einen schmalen Korridor geschickt bis nach vorn. Erst spät kapiert er, daß der aufrauschende Beifall ihm gilt, seiner Aktion. Er reckt sich. Zum ersten Mal fühlt er sich im Mittelfeld am richtigen Platz. Er will ihnen zeigen, daß er hier richtig ist, und macht unbedacht in paar glänzende Züge.

Wie er das erste Mal stürzt, denkt er noch, es geschieht ihm recht, und außerdem gehört es sozusagen dazu. Was muß er sich auch hervortun, wo er gerade erst angefangen hat! Er blickt restlos durch, glaubt er wenigstens, aber er ist dennoch wie betäubt. Er ist gestürzt, natürlich, er hat die Nase in den Rasen gebohrt. Aber er weiß nicht, wie er gestürzt ist, und er ist anders gestürzt als sonst. Vorn, wenn er da gestürzt ist, hat er es immer kommen sehen. Er hat es gespürt, wenn er anfing, über seine eigenen Beine, über sein eigenes Tempo zu stolpern. Im letzten Augenblick hat er sich dann gestreckt und ist im Hechtsprung weit nach vorn geflogen. Wie ein Flugzeug ist er zu Boden gestürzt, noch im Aufprall von dem stolzen Gefühl getragen, an seiner eigenen Schnelligkeit gescheitert zu sein. Ich bin zu schnell gerannt, hat er gedacht, wenn er am Boden lag und verschnaufte. Wieder mal zu schnell gerannt, hat er gedacht und die Pause auf dem weichen Rasen genossen. Seine Knochen waren heil, und das war das wichtigste. Es machte ihm nichts, wenn er stürzte. Hauptsache, er hielt Arme und Beine gestreckt. Jetzt ist es anders. Er ist unangenehm aufgekommen, der ganze Körper ist geprellt. Weiter unten an seinem rechten Bein, in Schienbeingegend, da ist eine Stelle, die ist anders. Würde Kalle gefragt, er müßte darauf beharren, daß es kein Schmerz ist, nur eine unangenehme Betäubung, eine sehr unangenehme Betäubung! Es dauert eine Weile, bis er begreift, warum diese Stelle anders ist. Da hab ich etwas abgekriegt, denkt er. Aha, denkt er, da hab ich etwas abgekriegt.

Er schämt sich, als er merkt, in was für einer Haltung, mehrfach verschraubt, er am Boden liegt. Er weiß nicht, wie er gestürzt ist. Er hat es nicht kommen sehen. Er hat wohl etwas vorgehabt, zweifellos wieder eine gute Aktion, und plötzlich war er weg. Plötzlich war ich weg, denkt er und sieht sich, wie er seinem Trainer berichtet. Plötzlich war ich weg, denkt er und erschrickt, als er merkt, daß er träumt. Hastig rappelt er sich auf, schüttelt den benommenen Kopf und rennt los. Er rennt hinter den andern her, stoppt, wenn die stoppen, läuft locker zurück, wenn man das locker nennen kann, daß er das eine Bein nachzieht und daß seine Bewegungen überhaupt reichlich mechanisch, reflexhaft sind. Plötzlich kommen sie ihm entgegen, Konterangriff, und er rast zurück. Vor dem eigenen Tor, im größten Gewühl, wie der Gegner eine Ecke tritt, kommt er zum zweiten Mal zu Fall. Er steht sofort wieder auf, unnötigerweise, denn der Ball ist weit im Aus gelandet, aber er will nicht wieder träumen. Ruckhaft schnellt er in die Höhe und bleibt taumelig stehen. Er hat etwas Wichtiges gesehen, ehe er gestürzt ist. Da ist etwas gewesen, das hatte er sich merken wollen. Unmittelbar, bevor er gestürzt ist, hat er etwas gesehen. Wenn er sich jetzt erinnerte! Aber er erinnert sich nicht, und er trabt schon wieder los.

Kalle trabt mit den andern zurück, einen häßlichen spitzen Schmerz im linken Fußgelenk. Ihr Schlußmann hat den Ball bis weit in die Hälfte der andern geschossen. Kalle trabt in Richtung gegnerisches Tor, aber in Gedanken ist er noch bei der Ecke. Es war ein entsetzliches Gedränge, natürlich, und kurz bevor er zu Boden gegangen ist, hat er noch etwas Wichtiges gesehen. Komisch, denkt er, bevor er sich auf den Ball konzentriert, war da die Ecke eigentlich schon getreten oder nicht?

Der Ball ist zurückgekommen und landet vor seinen Füßen. Kalle muß beinahe grinsen. Das kommt davon, wenn der Schlußmann ihn bis weit in die gegnerische Hälfte schießt, bloß damit er weg ist. Da kommt er natürlich zurück. Aber jetzt wird er mal zeigen, wie man mit dem Ball umgeht, wie man aus dem Mittelfeld heraus operiert. Behutsam nimmt er den Ball auf den Fuß, schlurft gedankenlos mit ihm über den Rasen, macht so herum, als wollte er ihn unbedingt verstolpern, und trödelt so lange, bis er vorn einen freistehenden Kameraden entdeckt, der in einem Irrsinnswinkel zu ihm steht, aber er kann es schaffen. Schlurfend legt er sich den Ball zurecht, schiebt ihn im letzten Moment noch blitzschnell an einem Abwehrspieler vorbei, damit der Winkel nicht mehr ganz so irrsinnig ist, läuft los und – ist weg, untergegangen in einem orangenen Nebel! Genau in dem Moment, wo er das Körpergewicht ganz auf das andere Bein verlagert hat – aber er kann auch mit dem andern Bein, nur müßte er das Körpergewicht dann auf das andere … –, in dem Moment ist er weg, untergegangen in einem orangenen Nebel.

Er merkt nicht, daß das Spiel unterbrochen wird. Er träumt. Er träumt Szenen aus dem Boxring; denn er hat früher geboxt. Er träumt, daß er ausgezählt wird, obwohl er in Wirklichkeit nie ausgezählt worden ist. So, wie sie das damals gemacht haben, war es ein schöner Sport. Aber jetzt träumt er, daß er ausgezählt wird. Sechs, sieben, hat der Richter gezählt, acht und neun will er nicht mehr abwarten und wacht auf. Langsam steht er auf. Hinten haben sie ein Grüppchen gebildet und besprechen die Taktik. Um ihn herum warten sie, daß er wieder steht. Er hebt den Kopf, was eine schwierige Aufgabe ist, eine richtige Mutprobe, und sein Blick fällt auf den Schiedsrichter, der ihn aus angemessener Entfernung mißtrauisch beäugt. Rasch hebt er den Kopf noch ein bißchen höher und lockert versuchsweise die Beine. Das ist für den Schiedsrichter das Signal, das Ende der Unterbrechung zu pfeifen. Kalle bückt sich noch hastig, um seine Stulpen zu richten – obwohl das nicht schlau ist, denn der Magensaft läuft ihm in den Mund, und er muß schlucken und schlucken –, und im Bücken sieht er seinen Trainer verkehrt herum, natürlich, wie er am Spielfeldrand auf und ab geht, den einen Arm vertraulich um die Schulter eines Nachwuchsspielers gelegt, eines der Jüngsten von der Bank. Kalle richtet sich wieder auf und schluckt kräftig zwei-, dreimal. Er hat seinen Platz im Sturm nicht aufgegeben, um bei der ersten Krise aus dem Mittelfeld zu verschwinden. Außerdem will er wissen, was mit seinem Freund passiert ist, dem von vorhin und dem davor, das war auch sein Freund. Immer hat er seine Freunde im Mittelfeld gehabt, weil die Konkurrenz im Sturm groß war, da kam keine Freundschaft auf, und außerdem, wenn man vom Mittelfeld aus unterstützt wird, ist man als Stürmer eben fein raus. Fein raus. Kalle spuckt ein bißchen, Spucke, denkt er, tatsächlich jede Menge Magensaft und ein bißchen Blut. Spucke, denkt er und schlägt versuchsweise einen leichten Trab ein. In seinen Ohren ist ein großes Tosen, das er für das Raunen des Stadions hält. Er denkt, sie raunen, weil man ihn gelegt hat, weil der Schiedsrichter keinen Elfmeter gegeben, keinen vom Platz gewiesen hat. Sie raunen, denkt er, weil ihm keiner aufgeholfen hat, nicht einmal die eigenen Kameraden. Er denkt, sie raunen seinetwegen, und er schämt sich.

Er ist aber doch schlauer geworden, der Kalle. Wie jemand auf ihn zustürzt, da weicht er zurück ohne Rücksicht darauf, daß es einer aus der eigenen Mannschaft ist. Der Ball ist futsch, und die Zuschauer pfeifen. Macht nichts, er steht auf den Beinen.

Verstohlen sieht Kalle sich um. Er steht noch, das ist gut, denn wenn er noch einmal stürzt, dann steht er nicht wieder auf. Aber noch ein oder zwei solche Manöver, und er steht nicht mehr auf dem Rasen. Am Spielfeldrand läuft sich der Nachwuchsspieler warm. Kalle runzelt die Stirn. Er hat es sehr gut gemacht bislang, sehr klug. Aber jetzt muß er offensiv werden. Jetzt muß ich offensiv werden, denkt er und runzelt die Stirn. Er beschließt, offensiv zu werden, auch wenn das ein schwieriges Unterfangen ist, so schwierig, daß er gegen ein plötzliches Bedürfnis, aufzugeben, klein beizugeben, ankämpfen muß. Bislang hat er seine Sache doch gut gemacht. Nur, jetzt muß er offensiv werden.

Kalle ist nicht mehr sicher auf den Beinen, aber er weiß, er muß jetzt offensiv werden. Mit angestrengten, tränenden Augen sieht er dem Dribbelkünstler im orangenen Hemd entgegen, der, von drei, vier Gegnern gehetzt, mit dem Ball auf ihn zu dribbelt, um ihn wie immer erst im letzten Moment an ihn abzugeben. Schwer stampft Kalle den Rasen, um sich anspielbereit zu zeigen. Dann läuft er los. Er will Dynamik ins Spiel bringen, dem Kollegen zu Hilfe kommen, und außerdem hat sich eine Irrsinnsidee, eine Irrsinnstaktik, in seinem Kopf festgesetzt. Er will den Ball im Lauf übernehmen und mit ihm den Weg zurückgehen, den der Dribbelkünstler vorgeprescht ist, und dann über den entblößten Flügel zum Tor. Schwerfällig rennt er los und wird noch einmal schnell, wenn er auch die Kontrolle über Richtung und Geschwindigkeit verloren hat. Aber er weiß, solange er rennt, fällt er nicht.

Vielleicht hat er seine Geschwindigkeit überschätzt. Vielleicht hat er sie aus der Geschwindigkeit seines Kameraden abgeleitet, der pfeilschnell auf ihn zu rast. Vielleicht taumelt er nur noch und merkt es bloß nicht. Wie er angekommen oder wie der andere angekommen ist, da wird ihm nicht der Ball, sondern ein Bein vor die Füße geschoben. Lustig fliegt er, als wäre er der Ball. Gestrecktes Bein, denkt er im Fallen. Der andere hat ihn einfach umgesäbelt. Vor Kalles blutunterlaufenen Augen leuchtet das orangene Hemd.

Wie er endgültig am Boden liegt, da verspürt er eine ungeheure Befriedigung. Er weiß jetzt, was im Mittelfeld los ist. Was ist bloß im Mittelfeld los? hatte der Trainer gesagt und etwas von Chaos und Anarchie gemurrt und daß keiner dem andern etwas gönnte. Versteh ich nicht, hatte Kalle gesagt, wollen sie denn, daß wir in der nächsten Runde nicht mitspielen? Er verstand überhaupt nichts. Im Sturm war das anders. Wenn man da nichts brachte, war man gleich weg vom Fenster. Und seine Freunde aus dem Mittelfeld waren auch anders. Aber die waren nicht mehr da.

Es ist bestimmt nicht leicht, hatte der Trainer auf Kalles Vorschlag gesagt. Er war mit seinem Latein am Ende. Andererseits war es ganz in Ordnung, wenn Kalle, dieser exzellente Läufer und schwache Torschütze, sich beizeiten umorientierte. Er war in der Mannschaft bekannt. Er war einer der Ältesten. Wer weiß, vielleicht konnte er dem Mittelfeld Stabilität geben. Und außerdem, was sollte er machen, Kalle bestand ja darauf!

Kalle liegt am Boden und hat immer noch mit diesem überwältigenden Gefühl der Befriedigung zu tun. Er sieht jetzt klar. Die Zeit des Begreifens ist gekommen. Auf dem Rasen liegt er und ist mit Begreifen beschäftigt. Den Schmerz hat er eingekapselt. Er ist da, aber er kann ihm nichts anhaben. Im weichen Gras liegt er und denkt nach.

Er wird aber doch unruhig. Woran es liegt, ob er den Schmerz nicht so gut einkapseln kann oder ob er doch noch nicht alles begriffen hat, er weiß es nicht. Unruhig rückt er den Kopf hin und her und plappert sinnlos mit den aufgesprungenen Lippen. Da fällt sein Blick auf den Nachwuchsspieler. Noch immer treibt dieser Grünschnabel sich ganz hinten, am Spielfeldrand, herum. Denkt Kalle jedenfalls, er weiß nicht, daß er den Nachwuchsspieler nur deshalb sieht, weil der sich, schon gestiefelt und gespornt, über ihn beugt und ihn bereits seit einer Weile aufmerksam, mitleidig betrachtet. Er merkt es nicht. Unruhig ruckt er mit dem Kopf. Er muß dem Grünschnabel etwas sagen. Etwas ganz Wichtiges muß er ihm sagen, diesem jungen Fant. Warum kommt er nicht her? Was er ihm zu sagen hat, ist ein Geheimnis. Das schreit man nicht heraus. Das kann man nur flüstern. Mühsam formt er die Lippen und flüstert.

Da, jetzt hat er was gesagt! sagt der Grünschnabel und tritt bedauernd einen Schritt zurück und macht den Männern mit der Trage Platz.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt27.html.

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