Ilse Bindseil

Frühe Erzählungen

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Familienbande

Er war über neunzig, lebensuntüchtig, dabei kräftig, verfolgungsbesessen und immer auf Draht. Er wohnte im obersten Stock eines Seniorenkratzers, und von seinem Zimmer hatte man einen herrlichen Blick über die Stadt. Wenn wir ihn besuchten, versammelten wir uns vor dem Fenster, und er, hinter uns, schimpfte, daß wir schon wieder klüngelten. Er begriff nicht, daß wir uns vor seinem Alter zusammendrängten, daß wir uns beim Anblick seiner winzigen, grauen Gestalt aneinanderklammerten. Ich glaube, er begriff ganz gut, aber es gefiel ihm nicht. Er hatte sich die Besuche anders gedacht und im Geist sorgfältig arrangiert.

Vor dem Fenster – so, daß wir, um an die Aussicht zu kommen, uns hinter den Lehnen vorbeidrängeln mußten – hatte er ein paar Stühle aufstellen lassen, immer einen neben dem andern. Er selbst saß im einzigen Sessel, der zur Standardausstattung des Zimmers gehörte, dem Seniorensessel, und sah uns im Gegenlicht an. Er konnte nicht viel erkennen, aber das störte ihn nicht. Er sah nicht mehr gut, wußte aber, daß wir ihn ausgezeichnet sahen, und das genügte ihm. Und wir sahen ihn in der Tat ausgezeichnet, nicht nur, weil wir mit dem Rücken zur Wand saßen und die Sonne in breitem Streifen auf sein graues Gesicht fiel, sondern weil das ganze Zimmer eine reflektierende Helligkeit ausstrahlte. Offenbar hatte der Innenarchitekt sich von den überkommenen Vorurteilen des Altenheimbaus gründlich getrennt. Er hatte mit dem Prinzip des trostlosen Grauingrau aufgeräumt und sich den modernen Grundsatz zu eigen gemacht, daß das schwache Augenlicht der Alten durch eine helle, frische Beleuchtung, der dumpfe Gemütszustand, in dem sie dahinbrüteten, durch strenge, klare Linienführung auszugleichen sei. Bis in den letzten Winkel war das Zimmer ausgeleuchtet. Wenn die Reinigungskolonnen mit ihren Staubsaugern und elektrischen Bohnerbesen morgens durch die Etagen zogen, konnte ihnen kein Stäubchen entgehen. Es entging ihnen aber doch einiges. Von unserem Fensterplatz aus sahen wir deutlich, wie auf den schimmernden PVC-Fliesen unter dem hochbeinigen Bett die Wollmäuse sich tummelten. Der Onkel aber saß, ohne zu zwinkern, im gleißenden Licht und ließ sich beobachten.

Er ließ sich beobachten. Versuchten wir wegzusehen oder untereinander Kontakt aufzunehmen, so ertönte ein scharfer, etwas kratzig vorgetragener Protest. Schuldbewußt fuhren unsere Köpfe herum, und Onkel Peter, der jüngste Sohn, ein unbefangener, nicht so leicht einzuschüchternder Bursche, begann eine Unterhaltung, in die der Onkel sich immer mehr verbiß, während wir dasaßen und glotzten.

Ich atmete vorsichtig aus und riskierte einen Blick nach links, wo meine Mutter saß. Ich wollte sehen, ob sie sich verkrampfte. Sie konnte langes Schweigen, stummes Gucken, ›Vorgeführtwerden‹, wie sie es nannte, nicht ertragen und reagierte mit Weinen darauf. Auch diesmal blinkte es bereits verräterisch hinter den halbgeschlossenen Lidern, aber die Tränen rollten noch nicht. Ich lehnte mich behutsam zurück, um an Mutters Rücken vorbei einen Blick auf ihre ältere Schwester zu werfen. Wir hatten sie heute zum ersten Mal mitgenommen, aber nicht wegen des Onkels, zu dem sie keinerlei Beziehungen unterhielt, sondern weil sie als die Älteste von uns die nächste Anwartschaft auf einen Heimplatz hatte. Wir mußten ihr bloß noch beweisen, daß sie nicht mehr imstande war, sich selbst zu versorgen. Instinktiv versuchte sie, die Katastrophen, die sie tagtäglich ereilten, vor uns zu verbergen, die Brandwunden ersten und zweiten Grades, die vom leichtsinnigen Umgang mit Elektroplatte und Wärmflasche rührten, und die Blutergüsse auf den Knien, wenn sie über die nicht befestigten Kanten ihres uralten, nach allen Himmelsrichtungen aufgekrumpelten Teppichs gestolpert war. Ausgerechnet jetzt hatte sie ein Veilchen über dem Auge, ein nicht zu vertuschendes Indiz für ihren störrischen Altersleichtsinn, ihre Unfähigkeit, sich in acht zu nehmen und vor folgenträchtigen Unfällen zu schützen. Wer sollte schließlich den Pflegesatz zahlen, wenn sie bettlägerig war? Ich kannte mich in ihrer Wohnung aus und tippte auf den Glasschrank, auf den ich längst ein Auge geworfen hatte. Wahrscheinlich war sie wegen der außerordentlichen Unternehmung heute ganz aus dem Häuschen gewesen und in ihrer Aufregung gegen die Kante gerannt.

Wir hatten sie mitgenommen, damit sie einmal sah, wie schön der Onkel es hatte. Aber ihr Augenlicht war noch erheblich schwächer als seins, und sie konnte die fremde Umgebung nicht beurteilen. Mit beiden Händen klammerte sie sich an ihren Stuhl und angelte mit den Füßen nach dem Boden. Sich anzulehnen wagte sie nicht, weil sie sich nicht vergewissert hatte, ob der Stuhl eine Lehne besaß. Ich kämpfte mit dem Bedürfnis, zu ihr hinüberzugehen und sie einmal kräftig nach hinten zu drücken, damit sie den Halt zu spüren bekam, und schielte nach der anderen Seite, zu meiner Frau, die in Umständen war. Man sah es noch nicht, und ich hatte ihr versprechen müssen, daß ich nichts verriet. Immerhin war sie mitgekommen, und ich hatte ihr nicht einmal besonders zureden müssen. Sie war noch nicht lange in der Familie und nahm diese Besuche sehr ernst. Da sie den Onkel abscheulich fand und sich nicht vorstellen konnte, daß wir uns allsonntäglich aus verwandtschaftlicher Zuneigung bei ihm versammelten, dachte sie, es handelte sich um Geld. So unbedarft war sie, daß sie mich nicht ein einziges Mal fragte, ob der Onkel überhaupt Geld hatte. Er hatte nämlich keins. Aber da es mir zu mühsam war, ihr den Zusammenhang zu erklären, wartete ich geduldig, ob sie nicht irgendwann einmal fragte.

Meine Frau hibbelte auf ihrem Stuhl hin und her wie ein Kind. Sie unterdrückte ein natürliches Bedürfnis. Seit sie schwanger war, mußte sie andauernd, und sie mußte immer gleich ganz dringend. Ich fing einen hilfeflehenden Blick von ihr auf, erhob mich und sagte:

Komm, Grete, wir gehen mal wohin.

Sie krallte sich mit spitzen Fingernägeln in meinen Arm und stolperte zur Tür. Draußen ließ sie mich nicht los. Sie war blaß und erregt.

Ich geh da nicht wieder rein, zischelte sie. Keine zehn Pferde bringen mich da wieder rein!

Ich versuchte sie zu beruhigen. Aber sie war für meine Argumente taub. Sie hätte eine Verantwortung für das Kind, behauptete sie und marschierte entschlossen den Gang hinunter, Richtung Fahrstuhl. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie hinunterzubegleiten und den Pförtner zu bitten, ihr ein Taxi zu rufen. Sie bestand nicht darauf, daß ich sie heimbrachte. Es wäre nichts Bestimmtes, meinte sie, und schon gar nicht wäre es etwas Schlimmes. Aber sie war immer noch blaß und verschreckt, und ehe ich sorgsam die Taxitür schloß, sah sie mich an, als wüßte sie nicht genau, ob sie mich zu ihren Feinden rechnen sollte oder nicht.

Ich hastete wieder hinauf.

Als ich eintrat, hatte sich die Szene verändert. Mutter weinte. Ihre Schwester hatte endlich die Rückenlehne gefunden und saß erstarrt, leicht nach hinten gekippt, die baumelnden Beine über dem Boden. Onkel Peter, der jüngste Bruder, war verstummt. Offenbar hatte ein wichtiges Ereignis seinen Redestrom zum Versiegen gebracht. Forschend sah ich vom einen zum andern, konnte jedoch nichts Besonderes entdecken. Daß Mutter weinte, geschah regelmäßig und war nur eine Frage der Zeit. Auch an ihrer Schwester war nichts Auffälliges zu bemerken, vorausgesetzt, man empörte sich nicht schlechthin gegen die Eigenheiten des Alters. Die andern sahen mehr oder weniger töricht aus, aber das taten sie immer.

Ich ließ die Türklinke nicht eher los, als bis ich mir das Außerordentliche meiner Perspektive klargemacht hatte. Zum ersten Mal sah ich uns so, wie uns der Onkel sah. Erst jetzt, wo ich seine Position innehatte und nicht mehr heimlich nach links und nach rechts schielen mußte, um ein flüchtiges, ausschnitthaftes Bild zu erhaschen, verstand ich, warum er stets auf der genauesten Einhaltung seiner Anordnungen bestand. Das Arrangement war hervorragend, und ich bedauerte einen Moment, daß meine Frau und gewissermaßen ich selbst nicht anwesend waren. Immerhin hatten wir zwei leere Stühle auf der linken Hälfte der Reihe hinterlassen, und die Harmonie des Gesamteindrucks war gestört.

Ich ließ mir Zeit und nahm den Anblick in mich auf. Ich wußte, diese Gelegenheit kam nicht wieder. Ich musterte sie alle der Reihe nach, die direkten Verwandten und die angeheirateten, und freute mich an der Abwandlung der Familienmerkmale und an den bis in die Physiognomie reichenden Anpassungsleistungen der Eingeheirateten. Gern hätte ich gesehen, wie meine Frau und ich uns in dieser Reihe ausnahmen. Die törichte Grete! Sie glaubte sich dispensiert und gerettet. Sie ließ sich im Taxi heimfahren und ahnte nicht, daß ein Stuhl hier unerbittlich für sie freigehalten wurde. Sie dachte, das Kind würde sie retten, und in der Tat, solange sie schwanger war, hatte sie Narrenfreiheit. Aber aufs Ganze gesehen, was war schon ein Kind?

Ich drückte mich an der hochgezogenen Lehne des Seniorensessels vorbei und trat tiefer in den Raum. Dabei muß ich wohl gespürt haben, daß der Kontakt zwischen den aufgereihten Verwandten vor und dem Onkel hinter mir auf eigentümliche Weise unterbrochen war und die Spannung, die sich ihrer in seiner Gegenwart zu bemächtigen pflegte, nachgegeben hatte. Ich jedenfalls fühlte mich plötzlich wie befreit. Ich sah mich nach dem Onkel um. Er hielt das Kinn gereckt und machte einen ›langen Hals‹, um der Luft den Zugang zu den Lungen zu erleichtern. Seine Nase war noch spitzer als gewöhnlich, die stachligen Wangen waren noch länger, die Löcher neben dem halbgeöffneten Mund, da, wo es die Haut wie in einen Krater hineinzog, noch tiefer. Seine Haltung war starr, wie wenn ein Ruck durch ihn hindurchgefahren wäre. Er war tot.

Ich marschierte an ihm vorbei zum oberen Ende der Reihe. Ganz außen, auf dem äußersten Stuhl, saß ein etwas vernachlässigter Vetter. Bei dem konnte ich mich erkundigen. Ich setzte mich auf den Platz meiner Frau, lehnte mich hinter dem Rücken eines anderen Verwandten zu ihm hinüber und fragte leise:

Wie ist es denn passiert?

Der breite Rücken jenes anderen Verwandten fuhr zusammen, und ich selbst erschrak über mein heiseres Flüstern. Nach einem peinlichen Schweigen, in dessen Verlauf der Vetter mich ununterbrochen angestarrt hatte, zuckte er schließlich mit einer unangenehmen Bewegung die Schultern und sagte in halb vorwurfsvollem Ton:

Aber ihr habt euch doch verkrümelt, als er starb!

Er gab sich keine Mühe, besonders leise zu sprechen, und hinter mir erhob sich ein Rascheln und Räuspern. Der Bann war gebrochen. Als ich mich umdrehte, trafen mich zahlreiche Blicke aus neugierigen Augen. Ich rückte unbehaglich auf meinem Stuhl.

Grete war nicht gut, sagte ich und versuchte ein bedeutungsvolles Zwinkern. Aber sie starrten mich nur verwundert an, und ich setzte der Unterhaltung wegen hinzu:

Ich habe sie in ein Taxi gesetzt.

Beifälliges Nicken. Ich hatte meine Frau mit dem Taxi nach Hause geschickt und mich damit als echtes Familienmitglied erwiesen. Wir waren knauserig, aber wir hatten ein Gespür für Situationen, in denen es gescheiter war, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Wir wußten ziemlich genau, wann es keinen Sinn hatte zu geizen.

Einige waren aufgestanden und stolzierten mit Besitzermiene umher. Wie von ungefähr versammelten sie sich wieder vor dem Fenster.

So eine schöne Aussicht, sagte eine der Kusinen seufzend.

Seht mal, jetzt gehen die Lichter an!

Sie schwiegen ehrfürchtig eine Minute. Dann redeten alle durcheinander.

Auf keinen Fall geben wir das Appartement auf, ertönte die selbstbewußte Stimme eines Vetters. Es ist zwar teuer, aber dafür ist es im obersten Stock.

Es ist Süden, stimmte ihm seine Frau bei. Hier ist es immer hell.

Andere lauern nur darauf, daß hier oben etwas frei wird, fuhr der Vetter fort. Der Verwalter hat mir die Warteliste gezeigt.

Wenn man hinunterschaut, hörte ich die weinerliche Stimme meiner Mutter, dann weiß man wenigstens, wo man ist.

Die ganze Stadt liegt einem zu Füßen.

Alle zehn Finger lecken sie sich danach. Da wären wir ja dumm, wenn wir das Appartement aufgeben würden!

Wie auf Kommando wandten sich alle nach der Tante um. Sie verbarg sich halb hinter der Lehne ihres Stuhls und fing vor Aufregung an zu zittern. Wie Hagelkörner prasselten die Vorwürfe auf sie herunter.

Wie lange willst du noch in deiner Wohnung herumkrauchen? Sie ist doch viel zu groß!

Wenn du interessiert bist, solltest du lieber gleich zugreifen!

Wenn du dich erst lange zierst, dann schnappen dir andere das schöne Zimmer weg!

Am besten, sie bleibt gleich hier, schlug eine Kusine, die an das Faustrecht glaubte, vor. Dann kann es ihr wenigstens keiner mehr wegnehmen.

Sie wurde mit einer scharfen Kinnbewegung, die in die Richtung des Verstorbenen zielte, zum Schweigen gebracht.

Und außerdem haben wir bis zum Ende des Monats bezahlt.

Aber soviel ist richtig, daß wir hier nicht weggehen, bevor die Sache nicht entschieden ist, schränkte ein anderer ein.

Natürlich nicht! Natürlich gehen wir nicht weg! kam es vielstimmig zurück.

Vom Platz meiner Frau hatte ich die Vorgänge als leidenschaftsloser Beobachter verfolgt. Aber als die Front allmählich auf die Tante zu rückte, sprang ich, von Unruhe gepackt, auf und lief zur Tür. Gleich neben dem Eingang, genauer gesagt zwischen Tür und Bett, so daß er im Notfall auch vom bettlägerigen Patienten erreicht werden konnte, befand sich der Knopf, der das Personal alarmierte. Ein Druck auf den Knopf, hatte man uns beim Einzug des Onkels gesagt, und sie wären zur Stelle. Jetzt war es soweit. Hilfe tat not. Der Onkel mußte versorgt, auch der Tante mußte geholfen werden. Es war Zeit, die für alle unangenehme Situation zu beenden.

Drohend rückten sie auf die Tante zu.

Nun sag schon, ob du einverstanden bist!

Was willst du eigentlich?

Da kannst du lange suchen, bis du etwas Besseres gefunden hast!

Was heißt hier suchen? Wer will denn hier suchen? Du etwa? Das glaubst du doch selber nicht!

Und außerdem gibt es nichts Besseres!

Onkel Peter, der auf seinem Stuhl gelümmelt hatte, rückte mit einem Schwung zu den andern hinüber, schwang sich in den Reitersitz und linste spaßig über die Lehne, hinter der sich die Tante versteckte.

Und weißt du was? sagte er aufmunternd. Du darfst auch immer in dem schönen Sessel sitzen.

Ich gab mir einen Ruck und drückte auf den Knopf.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt27.html.

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