Ilse Bindseil
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Eine Kindernovelle
Nach der Überschwemmung waren die Wasservögel eingetroffen. Flugenten kreisten über den neu entstandenen Seen, und mit schwerem Flügelschlag brachen Schwäne durch den Wald, der knietief im Wasser stand.
Die Waldtiere gerieten in Not. Erschöpfte Rehe trotteten über den Gutshof, auf dem bis vor kurzem noch der Hofhund herrschte. Halbverhungertes Schwarzwild machte sich über die Rüben her, die eine mitfühlende Seele auf den höher gelegenen Forstweg geschüttet hatte, und während Graureiher ungerührt in der trüben Nähe versunkener Nutzgärten, Parkplätze, Sportgelände fischten, sammelte sich entsetztes Rotwild über dem Abgrund eines abgebrochenen Deichs, über den es in gutes Zeiten regelmäßig gewechselt war, stampfte den durchweichten Boden mit den harten Hufen und wandte den Blick nicht von der Wasserfläche, in der sich drohend die Baumwipfel spiegelten.
Der Mann konnte sich an der stillen Landschaft nicht sattsehen, deren feuchte Kühle zu ihm heraufdrang, so daß er in seinem viel zu dünnen Anzug schauerte, zumal die Sonne eben hinter den hohen Bäumen verschwand und er sich nicht länger verheimlichen konnte, daß er mit seinen leichten, geflochtenen Lederschuhen, die es in den Ländern rund um das Mittelmeer billig zu erstehen gab, auf seinem Rundgang mehr als nur einmal ins Nasse getreten war und Schuhe und Socken durchweicht hatte. Die Härchen auf seinen frisch geröteten Unterarmen unter den schützenden Jackettärmeln sträubten sich, und er meinte für einen Augenblick, was ihn überrieselte, wäre die Glut des Sonnenbrands, den er sich auf der Aussichtsterrasse des Flughafens geholt hatte, wo die Sonne auf seine wehrlosen, abwechselnd mit Kamera und Notizblock beschäftigten bloßen Unterarme schien; denn wie alle seine europäischen Kollegen hatte er nur ein kurzärmeliges weißes Hemd angehabt. Er zwinkerte verdutzt, war es ihm doch so vorgekommen, als sei die Seenlandschaft, die sich vor seinem Blick ausbreitete, nichts als eine bekannte optische Täuschung, ein Effekt der Hitze, die den Asphalt auflöste und das auf der entferntesten Landebahn abgestellte einsame Flugzeug in eine Fata Morgana verwandelte, dieses beruhigend unwirkliche, wenngleich eine ziehende Sehnsucht erzeugende und die Augen permanent überanstrengende Objekt ihrer aller beruflichen Neugierde.
Gewohnheitsmäßig griff er nach seinem Glas, das für alle nur irgend denkbaren privaten Zwecke viel zu stark war, und hatte sich kaum vergewissert, daß das Wasser wirklich war, als seine Aufmerksamkeit von zwei Kindern gefangengenommen wurde, die auf dem Dach eines im Wasser versunkenen Schuppens Robinson spielten. Irritiert, so als hätte ihm das Glas ein Trugbild vermittelt, setzte er es ab und hatte tatsächlich einige Mühe, die Kinder mit dem bloßen Auge zu finden. Sie kümmerten sich nicht darum, daß ihr Spielplatz durch das Verschwinden der Sonne in einen blauen Schatten getunkt war, und leider, wie er sogleich feststellte, auch nicht darum, daß ihr Floß, das sie offenbar unsachgemäß angebunden hatten, sich soeben selbständig machte und davontrieb, nicht weit, denn die Strömung war minimal, aber doch so weit, daß die Kinder bei dem Versuch, es zu bergen, unweigerlich ins Wasser plumpsen würden.
Ärgerlich ließ der Mann das Glas sinken. Es war ihm bislang nicht gelungen, die Kinder deutlich ins Bild zu bekommen, er hegte aber den Verdacht, daß eines der beiden ein Mädchen war. Hätten sie das Floß entdeckt, hätte er ihre aufgeregten Gesichter studieren können. Aber sie waren taub und blind für die kleine Katastrophe, die sich in ihrem Rücken anbahnte. Vom Beobachter halb abgekehrt, die Gesichter einander hingebungsvoll zugewendet, daß sein Glas sich nicht dazwischendrängen konnte, waren sie, während das Floß in einer für das Auge kaum wahrnehmbaren Bewegung außer Reichweite der Kinderarme geriet, in das Ausspinnen ihres gemeinsamen Tagtraums vertieft und ließen die Gelegenheit, es zurückzuholen, verstreichen.
Mit wachsender Spannung beobachtete der Mann die lautlose Bewegung des Floßes und rieb sich unwillkürlich die Augen, so als wollte er das Bild der rollenden Gangway verscheuchen, die, den konsternierten Vermittler und seine überdimensionale Flüstertüte an Bord, sich zuerst kaum merklich und irgendwie zögernd, dann zunehmend schneller und offensichtlich resignierend außer Hör- und Reichweite des entführten Flugzeugs gebracht hatte, es in jener perfekten Ruhe zurücklassend, die es schon wieder in eine Fata Morgana verwandelte, während in der Lounge des Flughafens die aufgeregten Journalisten wie ein Bienenschwarm summten und auf die amtliche Erläuterung des unverständlichen Vorgangs warteten, dessen Augenzeugen sie soeben gewesen waren. Diese Szene war in der Tat die entscheidende gewesen; denn wenig später war das Flugzeug, frisch aufgetankt, sämtliche Geiseln an Bord, mit unbekanntem Ziel gestartet, und sobald sich herausgestellt hatte, daß ihm die Landeerlaubnis in einem der Standard-Vermittlungsländer des Nahen Ostens nicht verweigert werden würde, war der Mann von seinem Beobachtungsposten abberufen und nach Hause zurückbeordert worden. Schließlich konnte sich da, wo die nächste Runde der Entführung starten sollte, der ständige Korrespondent um den Fall kümmern, und der Sonderberichterstatter wurde nicht mehr gebraucht.
Darum saß er jetzt, die wohlverdiente Ruhe genießend, an den weit zurückgedrängten Ufern seines Heimatflusses, ließ die überanstrengten Augen, nachdem sie tagelang auf die flimmernde Wüste gestarrt hatten, sich beim kühlen Anblick der abendlichen Seenlandschaft erholen, aus der zögernd die ersten Nebel stiegen, und konnte den Blick nicht von den Kindern wenden, die noch immer, auf eine lautlose Art nur mit ihrem Mundwerk beschäftigt, spielten. Erbittert fragte er sich, wie er es wieder einmal geschafft hatte, in eine Situation zu geraten, wo er sich nicht nach Belieben entfernen konnte, vielmehr ausharren mußte mit seinen nassen Füßen, in denen die Kälte schon empfindlich zwickte, als der einzige, der wußte, daß die Ruhe trog und der stille Abend durch schrille Panik gestört werden würde, über kurz oder lang.
Pünktlich bei Sonnenuntergang hatten sich die Reiher aufgemacht. Sie waren in schönem Bogen über den Wald zu ihren Schlafbäumen geflogen und hatten das Feld den Möwen überlassen, die es mit der Uhrzeit nicht so genau nahmen und sich kreischend um eine blutige Beute zankten, eines der vielen ertrunkenen Kleintiere wahrscheinlich, Maulwurf oder Feldmaus, die sie im Eifer des Jagdspiels von oben bis unten aufgeschlitzt hatten, daß sich die sorgfältig gewickelten Gedärme entrollten und den Kampf zu neuem, lautstarkem Getöse anfachten, während die Enten ihren knatternden Flug bereits beendet hatten und lautlos ins Röhricht glitten, um zu schlafen.
Die Kinder fanden kein Ende bei ihrem Spiel.
Die gerettete Schokolade müßten wir in einer trockenen Höhle aufbewahren, überlegte das Mädchen gerade.
Aber wir würden nur sonntags ein Stück davon essen, sagte der Junge bedächtig. Das ist wichtig, damit die Zeit eine Einteilung hat. An Werktagen können wir unseren Bedarf an Süßem mit Beeren und wildem Honig decken.
Ja, sagte das Mädchen begeistert, wir müßten den ganzen Tag herumstreifen und Kräuter und Beeren sammeln. Wenn wir müde sind, müßten wir uns am Strand ausruhen. Wir müßten ganz braun sein vom Baden und vom Umherstreifen.
Und nachts, sagte der Junge feierlich, würden wir mit den Wölfen heulen.
Bei dieser offensichtlich falsch angebrachten Bemerkung sah das Mädchen seinen Freund verwundert an.
Mir ist kalt, Freddi, jammerte sie auf einmal, so als hätte sie nicht bereits seit einer halben Stunde, seit nämlich die Sonne hinter den hohen Wipfeln verschwunden war, gezittert und gebebt. Bereitwillig zog der Junge seine Jacke aus und hängte sie ihr um.
Aber du frierst doch selber, sagte das Mädchen. Sie hatte es verschmäht, in die Ärmel der Jacke zu rutschen, und genoß das Gefühl, ein in ein dickes, warmes Packpapier eingepacktes Paket zu sein. Vorsichtig, da sie die Arme ja nicht bewegen konnte, ohne die Umhüllung zu gefährden, rückte sie näher an ihren Freund heran und lehnte sich, so als gehöre das zu ihrem neuen Status, wie hilfesuchend gegen ihn.
Du frierst doch selber, Freddi, sagte sie und musterte seine roten Finger, die um alles in der Welt keine Wärme vortäuschen konnten, und spürte durch ihre dicke Jacke, wie er in seinem dünnen Hemd zitterte.
Wenn dir wieder warm ist, sagte er ebenso vernünftig wie unrealistisch, kannst du sie mir ja wiedergeben.
Die Kinder hatten den Faden ihrer gemeinsamen Träumerei verloren und starrten stumm und ohne den geringsten Drang zum Aufbruch zu verspüren in die Dämmerung. So wie sie soeben noch das alles überstrahlende Licht der Südsee und den betäubenden Duft ihrer Insel wahrgenommen hatten, so empfanden sie jetzt ihre gegenseitige Gegenwart. Das heißt, Freddi hatte wohl ein unklares Bewußtsein davon, daß das, was seine Freundin ihm so unvermutet näher gerückt hatte, nämlich die Jacke, sie zugleich wie ein wattiges Paket von ihm fernhielt. Das Mädchen aber hatte noch etwas vom gemeinsamen Südseetraum in die kühle Gegenwart hinübergerettet, was auch kein Wunder war, da sie es ja erheblich wärmer hatte als er. Sie war so tief in ihre schützende Umhüllung hineingerutscht, daß ihr Kopf sich gerade in der Achselhöhle ihres Freundes bergen konnte, und bedachte in einem Moment völliger Ungeniertheit, ja sie spürte es für einen traumhaften Moment genau, wie sie auf jener Insel beieinanderlagen, nicht durch gleichgültige Stoffschichten getrennt, sondern so, daß die Haut des einen sich an der Haut des andern rieb.
Wie elektrisiert sprang sie auf, die dicke Jacke zurücklassend.
Ich muß pinkeln! rief sie und setzte in Erinnerung an alte Geschichten hinzu:
Aber nicht gucken!
Während er, ihr fühlloses Gewicht noch im Arm und die alten Geschichten im Kopf, in einiger Verwirrung zurückblieb, lief sie, damit der Heimlichtuerei wenigstens pro forma Genüge getan wurde, auf die andere Seite des flachen Daches und kauerte sich dicht an den Rand, um genüßlich ins Wasser zu pinkeln. Als sie sich der größten Bedrängnis, damit aber auch aller zweideutigen Gefühle entledigt hatte und die Augen – zum Auströpfeln, wie sie es in ihrer Kindersprache nannte – über die dem Ufer zugewandte Wasserfläche gleiten ließ, blieb ihr Blick beinahe gleichzeitig an dem treibenden Floß und an dem Fremden hängen, in dessen dunkel schimmerndem Glas sich die restliche Helligkeit des hereingebrochenen Abends zu verflüchtigen schien, und ohne noch irgendwelche Mühe auf ihre Kleidung zu wenden, schrie sie auf:
Freddi, komm doch mal her!
Bevor sie zu Ende gerufen hatte, war er da, und während sie sich im schwachen Schutz seiner schmächtigen Gestalt nun doch die Hosen hochzog, hatte er die Lage des Floßes überblickt und auch den Mann am Ufer entdeckt, der gar nicht daran dachte, nun, wo sich offenkundig alle Augen auf ihn richteten, etwa das Glas abzusetzen. Daher konnte es nicht anders sein, als daß Freddi, auch wenn er sonst überdurchschnittlich vernünftig für sein Alter war und von allen Müttern als Spielgefährte ihrer Kinder geschätzt wurde, wenigstens ein paar Sekunden lang den Mann am Ufer für den eigentlichen Drahtzieher hielt, den, der am Floß buchstäblich gezogen hatte. Aber auch als seine sprichwörtliche Vernunft wieder die Oberhand gewonnen hatte, mußte er immer noch einräumen, daß von diesem Mann eine so erhebliche Gefahr ausging, daß sie, selbst wenn ihr Floß noch zur Hand gewesen wäre, auf ihre kalte Insel gebannt waren, ob ihnen das nun gefiel oder nicht.
Die Zeiger seiner Uhr zeigten auf neun. Da vor wenigen Tagen die Zeitumstellung stattgefunden hatte, war es im Grunde erst acht. Innerhalb der letzten Viertelstunde war die Nacht hereingebrochen. Nachdem der vom Sonnenuntergang mit tausend Farben überschüttete Himmel in den Zustand einer ebenso befremdlichen wie stabilen, offenbar auf die Dauer der Nacht selbst berechneten Lichtarmut überführt worden war, der die Durchsichtigkeit aller Luftschichten bewies und das Schwarz als regelrechte Farbe ausschloß, hatten rätselhafte Kräfte den Zustand gekippt, und es war dunkel geworden. Tauchhühner gluckten verschlafen im Röhricht. Zuweilen wurde die Stille durch eine Krähe gestört, die, von einer unsichtbaren Ursache aufgeschreckt, mit hastigem Flügelschlag ihren Schlafplatz wechselte.
Dank seines ausgezeichneten Glases, in dem sich das unsichtbare Licht wie in einer Lupe sammelte, wußte der Mann, daß die Kinder die Insel nicht auf welchem mysteriösen Wege auch immer verlassen hatten. Eine Zeitlang hatten sie sich bemüht, die Dachrinne abzureißen, die um das Dach des Schuppens herumführte, um mit ihrer Hilfe das davongetriebene Floß doch noch zu erreichen. Sie waren ins Schwitzen geraten, während ihm der Hintern abfror. Aber es war ihnen nicht gelungen, das störrische Ding aus seiner Verankerung zu befreien. Jetzt hatten sie sich erneut niedergelassen, diesmal bewußt mit dem Rücken zu ihm, und verschnauften. Die Jacke, die während der Arbeit unbeachtet auf dem Dach gelegen hatte, hatten sie sich gemeinsam umgehängt. Sicherlich waren sie alle beide durchgeschwitzt. Sie mußten schrecklich frieren, sobald sie abgekühlt waren. Er spürte förmlich, wie zwischen ihnen ein wenig Wärme aufstieg, was bewies, daß es genau das Richtige war zusammenzurücken, daß sie zusammen eine Menge aushalten, gemeinsam vielleicht einen längeren Atem haben würden als er hier allein.
In ihm hatte sich der trotzige Gedanke festgesetzt, daß er den Kindern erst helfen würde, wenn sie ihn um Hilfe anriefen. Das war nur recht und billig, zumal er sich bereits in einer mehr als nur zweideutigen Situation befand und es durchaus nicht ratsam war, daß er sich in irgendeiner Weise als zudringlich erwies. In seinem Kopf hatte er immer noch mit Turbulenzen zu kämpfen, wenn er zu klären versuchte, ganz für sich allein, warum er nicht weggesehen hatte, als er jenen unschuldigen Vorgang ins Glas bekam, der eine unerhörte Reaktion bei ihm ausgelöst hatte und den er deshalb als einen unerhörten Vorgang zu bezeichnen geneigt war, als eine Provokation, um nicht zu sagen eine Falle.
Das ist nicht mein Problem, dachte er verwirrt, und das stimmte. Es war nie sein Problem gewesen, ohne daß er freilich je in Versuchung geführt worden wäre, und es war auch jetzt nicht sein Problem. Er hatte seine unerhörte Reaktion niedergekämpft. Sehenden Auges hatte er sie niedergekämpft und war Sieger geblieben, wenn auch merkwürdig verändert, merkwürdig geschrumpft, mit einem ihm selbst unverständlichen Haß auf die Kinder und einer tiefen Lustlosigkeit, einem, wie er es bei sich selbst wissenschaftlich nannte, totalen Verlust an Motivation.
Er hätte die Gelegenheit nutzen und aufbrechen sollen. Aber das konnte er nicht. Trotz seiner finsteren Lustlosigkeit, ihm selbst fast unbemerkt, hatte er registriert, daß die Situation hier sich verschärfte. Obwohl er längst bitterlich fror, spürte er, daß es dabei war, noch erheblich kälter zu werden. Die abendliche Windstille war einem eisigen Hauch gewichen, der den Biß der Polarkälte hatte, und er brauchte nicht auf die Leuchtziffern seiner Uhr zu sehen, um zu wissen, daß die Zeit unaufhaltsam voranschritt, der Krise entgegen, einer Suchaktion aus dem Ort, einem verzweifelten Ausbruchsversuch von der Insel. Er wußte, was in den Köpfen der Kinder vorging. In dem Maß, in dem die Nacht sich verfinsterte, würde ihnen das Alles oder Nichts eines Fluchtversuchs immer plausibler, die zu überwindende Strecke immer kürzer, das Wasser, an dem sie ihr Leben lang gespielt hatten, immer harmloser erscheinen. Was war schon die Wassertemperatur, verglichen mit der Kälte, die sie seit Stunden erduldeten? Wo war die Gefahr, wenn sie sich alle naselang festhalten konnten, an einem Baum, einem Dach, wenn ihre Füße überall Halt fanden; denn schließlich war das hier ja bebautes Land, und sie kannten das Schachbrettmuster der Kleingärten genau. Zwar war es ein Abenteuer gewesen, bis zur Scheune zu rudern, aber es würde ein Klacks sein zurückzuschwimmen. So würden sie denken, eingehüllt in die Finsternis, die das Wasser, die doch ganz beträchtliche Entfernung zum Ufer vor ihren Augen verbarg und dafür das Zuhause, das hellerleuchtete Wohnzimmer, in greifbare Nähe rückte. Sie würden heimwollen und irgendeine gefährliche Dummheit machen, die den Aufwand der Suchmannschaften nachträglich rechtfertigte, dem absurden Ritual der Unglücksbegrenzung und Katastrophenbekämpfung nachträglich einen Sinn gab, eine wunderschöne Story für die heimische Presse, das regionale Fernsehen lieferte, die entscheidende Pointe für die Überschwemmungsberichte, die tagtäglich die Nachrichten füllte, und er war der erste am Ort!
Unwillkürlich tastete er nach seiner Ausrüstung. Aber er hatte natürlich keine, ausgenommen sein Glas, mit dem er die Vögel beobachten wollte. Für den Bruchteil einer Sekunde ging ihm die ganze Ausdehnung des Wörtchens ›privat‹ auf: daß man der erste sein konnte, ohne eine Ausrüstung, geschweige denn einen Auftrag zu haben, daß man nicht bloß betroffen, sondern in genauso undurchschaubarer Weise verwickelt sein konnte, wie wenn man sich beruflich engagiert hatte, daß man sich noch beliebig weiter hineinstürzen konnte, ohne an eine Grenze zu gelangen, so wie das gewisse Kollegen in ihrem Beruf machten, was er nie verstanden hatte; denn für ihn gab es die Grenze, und was dahinter kam, war privat. Freilich hielt das Bewußtsein der Klarheit, einer reliefartigen, die Dinge in ihrer natürlichen Komplikation und Ausdehnung belassenden Klarheit, nicht an, sondern verengte sich rasch zu der bedrückenden Frage, wie lange er hier ausharren und wie er sich herausreden wollte, wenn die Suchmannschaft kam und die Kinder die fällige Dummheit gemacht hatten.
Sie sollen schreien, brummte er und erschrak über seine Stimme; denn er hatte unwillkürlich laut gesprochen. Er war aber fest entschlossen, Hilfe zu holen, wenn die Kinder schrieen. Mit ihrem Schreien wäre alles ins Lot gebracht. Er würde sie schreien hören und sich aufmachen, um Hilfe zu holen. So sehr wünschte er, daß sie schreien möchten, und so sehr fürchtete er zugleich, daß sie es niemals tun, lieber vielmehr eine horrende Dummheit begehen würden, anstatt ihn um Hilfe anzurufen, daß er mit zusammengebissenen Zähnen murmelte:
Los, schreit doch, schreit!
Mit fortschreitender Nacht war der Wind eingeschlafen. Die eisige Luft war zum Stillstand gekommen. Nur in den höheren Schichten herrschte Bewegung. Wolkenfelder lösten sich auf und gaben den Mond frei, eine schmale, weiße Sichel, die kein Licht spendete, aber die Finsternis wölbte, daß man aufatmen konnte, und die den Himmel öffnete, so daß man weit hineinschaute und sich zwischen den hin und her wandernden Sternen verlor, die Landkarten zeichneten, in der Tiefe Lichtpünktchen häuften, im nebligen Schein ihrer schwankenden Lichter schimmernde Wüstenstädte errichteten und den Eindruck erzeugten, als würfe man aus dem Weltraum einen Blick zurück auf die im Glanz ihrer Neonlampen erstrahlende nächtliche Erde.
In dem Flugzeug, das auf dem Zentralflughafen eines für seine Vermittlertätigkeit berühmten Landes der arabischen Welt gelandet war, waren die Lichter ausgegangen. Gleich nach der Ankunft war es zum ersten Mal seit der nun schon fast zwei Wochen andauernden Entführung gründlich gereinigt, ehrenwörtliche Erklärungen über die körperliche Unverletzlichkeit der an Bord befindlichen Personen waren abgegeben worden, und die Passagiere schliefen, mit gelockerten Handfesseln, im erleichterten Bewußtsein, daß ein soziales Netz geknüpft war, das sie auffangen würde.
Auf dem Dach des überfluteten Schuppens hatte Freddi seine Freundin in den Arm genommen. Er spürte seine Finger nicht, mit denen er sie umklammert hielt, obwohl sie beide unter seine warme Jacke gekrochen waren. Er fühlte nur etwas Warmes an seiner Brust, das zugleich kalt war, und er fürchtete, daß sie weinte. Besorgt überdachte er die Sterbetheorien, die er kannte. Er hatte eine unbestimmte Erinnerung, daß Weinen schadete. Wer weiß, vielleicht hing das mit dem Erfrieren und dem Verdursten zusammen. Aber er traute sich nicht, sie auf die Gefahr, an die er sich selbst nur undeutlich erinnerte, hinzuweisen. Auf eine merkwürdige Art, die ihm das Befremdliche seines eigenen trockenen Zustands vor Augen führte, tat ihr das Weinen gut. Sie hielt die Fäuste gegen die Augen gepreßt, weil sie die Dunkelheit nicht länger ertrug oder weil sie verhindern wollte, daß Freddi ihre Tränen sah, und ihr Kopf wurde sachte schwerer auf seiner Brust, so daß er es mit der Angst bekam. Was war, wenn sie einschlief und ihn seinen Sorgen und Befürchtungen überließ?
Natürlich ist er nicht mehr da, murmelte er, weil er wußte, daß sie den Mann am Ufer mehr als Dunkelheit und Kälte fürchtete, aber auch in der unbestimmten Absicht, sie am Einschlafen zu hindern.
Klar ist er weg, murmelte er. Wir wären doch auch weg, wenn wir könnten!
Schuldbewußt registrierte er, daß der Druck gegen seine Brust sich verstärkte. Er hatte sie an die unangenehme Tatsache erinnert, daß sie sich in einem Belagerungszustand befanden. Denn es konnte keine Rede davon sein, daß der Mann weg war. Bei der Dunkelheit war es unmöglich festzustellen, ob er weg war, und also, schlußfolgerte Freddi messerscharf, war er da. Für sie war er da.
Er spitzte die Ohren; denn das Wasser machte allerlei Geräusche, und wenn er einnickte, verdichteten sie sich zur Marschmusik eines planmäßigen Angriffs. Es platschte und stapfte hinter ihm, daß er seine ganze Kraft brauchte, um die Suggestion aufzulösen. Das war kein Ruderschlag, kein brummelnder Motor, und alles andere zählte nicht. Niemand kam durch das eiskalte Wasser geschwommen, um ihnen etwas anzutun. Aber es war schwer vorstellbar, was der Mann am Ufer wollte, wenn er ihnen nichts antun wollte.
Er ist doch gar nicht mehr da, murmelte Freddi und schaffte es nicht, die gläsernen Augen zu vergessen, die ihn im Nacken fixierten. Da der Mann keine Hilfe geholt hatte, mußte es mit ihm etwas Besonderes auf sich haben. Er war gleichgültig – obwohl Freddi sich nicht vorstellen konnte, wie man in einem solchen Fall gleichgültig bleiben konnte –, verrückt, oder er wollte ihnen etwas antun. Es kam auf dasselbe heraus.
Freddi hätte sich notfalls damit abgefunden, die Nacht auf dem Schuppendach zu verbringen. Er wußte, daß sein Abenteuer nicht länger als zwölf Stunden dauern konnte. Die Welt ging nicht unter, nur weil es dunkel wurde. Aber ein Blick auf die Leuchtziffern seiner Uhr belehrte ihn, daß es noch nicht einmal Mitternacht war. Das ließ sich böse an, anders als zu Silvester, wo wenige Stunden bis zum Frühstück gefehlt hatten, und die schienen ihm leicht zu überbrücken, wenn er es auch vorgezogen hatte, ins Bett zu gehen. Hier war der Ausgang ungewiß. Wenn er mit der freien Hand nach seiner Freundin tastete, die an seiner Brust zusammengesunken war, so daß er über ihren Kopf einen freien Ausblick auf die Sterne genoß, dann fühlte sie sich anders an. Er mußte an die kleine Katze im letzten Sommer denken, die plötzlich schlappgemacht hatte, obwohl sie sie so geliebt und mit allem Nötigen versorgt hatten. Sie hatte ein scharfes, dreieckiges Gesicht bekommen, das von dem von Ohr zu Ohr reichenden Maul schauerlich beherrscht wurde. Sie hatten sie im Garten begraben, obwohl sie sie seiner Ansicht nach ebensogut hätten in den Müll werfen können, da sie nur noch eine Handvoll Fell war und in nichts mehr an das lebendige Kätzchen erinnerte, das sie geliebt und umsorgt hatten. Konnte es sein, daß seine Freundin ebenfalls schlappmachte? Soviel hatte er begriffen, daß Unwiderrufliches passieren konnte. Da half kein Stillhalten, und es half auch nichts, daß der ersehnte Morgen graute.
Freddi schluckte. Zum ersten Mal wollte er der Versuchung süßer Träume erliegen, die ihm Rettung vorgaukelten. Diese konnte nur so vor sich gehen, daß ein Suchtrupp in Ufernähe vorbeikam, dem er sich unfehlbar bemerkbar machen würde, wenn er schrie. Er schauderte wegen des riskanten Augenblicks, den auch die glücklichste Rettung nicht vermeiden konnte, da er sich mit seinem Schreien exponieren würde, oder aber weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß sie niemand suchte. Ihre Eltern würden ihn verantwortlich machen, wenn seiner Freundin etwas zustieß. Aber ihre Sorge ging nicht so weit, daß sie sich gekümmert hätten, wenn die Kinder nicht rechtzeitig daheim waren, das hieß, wenn sie selber zu ihren nächtlichen Verrichtungen, Nachtschicht und Lokalbesuch, aufbrachen. Vielleicht haben sie sich doch verständigt, überlegte er und bedachte reumütig, wie sie es sich zunutze gemacht hatten, daß ihre Eltern weder ihre Heimkehr kontrollierten noch sich gegenseitig verständigten. Vermutlich war das, was ihnen heute nacht zustieß, der Preis für ihre Freiheit und die Strafe dafür, daß sie in ihrer schrankenlosen Zuneigung füreinander die normale Ängstlichkeit fürsorglicher Eltern nie vermißt und nie eingeklagt hatten. Jetzt mußten sie büßen.
Mit sanfter Gewalt bahnte er sich einen Weg durch die Kinderfäuste, fühlte beinahe erleichtert, daß dort immer noch heiße Tränen quollen, so daß von Schlappmachen wenigstens vorläufig nicht die Rede sein konnte, badete die erstarrten Fingerspitzen in der feuchten Wärme, fuhr mit ihnen mechanisch auf der nassen Backe hin und her und murmelte:
Laß nur, Marion, wir finden schon einen Weg.
Gegen zwei oder drei Uhr morgens wurde es so eisig kalt, daß ihm ›die Eier abfroren‹, wie er seinen Kollegen später bei einer dieser unzähligen Gelegenheiten untätigen Wartens erzählte, bei denen ihnen ebenfalls ›die Eier abfroren‹, ohne daß sie sich um dieses Organ, für das sie weiter keine Verwendung hatten, ernsthafte Sorgen machten. Bei seiner Erzählung ließ er das quasi Inoffizielle seines damaligen Aufenthaltes an den dem Kühkopf gegenüberliegenden Ufern des Rheins wohlweislich im Dunkeln. Niemand brauchte zu wissen, daß er sich freiwillig einer Strapaze unterzog, die nur durch die äußerste Hingabe an den Beruf zu rechtfertigen gewesen wäre.
Vielleicht war es die äußerste Hingabe gewesen. In der Dunkelheit waren ihm wunderbare Fähigkeiten, Nachtaugen, ein für die leisesten Geräusche empfindliches Gehör, zugewachsen, die er sich nur als berufliche Fähigkeiten interpretieren konnte. Während er seinen erstarrten Körper mit der Gefühllosigkeit strafte, die ihn längst auszeichnete, baute er an unsichtbaren Telegraphenmasten, an einem gewaltigen Kommunikationssystem, das ihm die Informationen, die die Dunkelheit ihm vorenthalten wollte, verschaffen würde. Da er in Ermangelung äußerer Reize wenig abgelenkt wurde – und was er an Schmerzen empfunden hatte, war von ihm erfolgreich in den Bereich einer fühllosen Gleichgültigkeit abgedrängt worden –, spürte er, wie vibrierende Drähte in seinem Innern zusammenliefen, die ihm bewiesen, daß er ein Teil jenes Kommunikationssystems war, an dem er so eifrig bastelte, und die ihn mit einer Art glücklicher Verwunderung erfüllten; denn in der gewöhnlichen Hektik seines Berufs war er den technischen Möglichkeiten, über die er verfügte, stets um einige Längen voraus, während er hier in einem Augenblick geisterhafter Erfüllung der unendlichen Möglichkeiten inne wurde, die er selbst verkörperte. Diese Nacht würde zu einem bedeutsamen Ereignis werden, auch wenn die Protagonisten nicht den strengen Maßstäben genügten, die er aus Gründen des beruflichen Ethos anlegen mußte, und, wie er noch immer unruhig empfand, eher sein Mitleid als seine Neugier herausforderten. Flüchtig bedachte er die Hinrichtung, die er vor zwei Tagen erlebt hatte, jenes grausame Spektakel, das buchstäblich ihnen, den Journalisten, zuliebe veranstaltet worden war und dem sie in einem Zustand der Erregung beigewohnt hatten, während ihr Herz bei den Geiseln im Innern des entführten Flugzeugs war. Sie in ihrem ganz gewöhnlichen Bordalltag zu beobachten, um schließlich und endlich einmal authentisch die immer wiederholten Fragen nach Atmosphäre und Hygiene beantworten zu können, wäre ihnen tausendmal wichtiger gewesen als diese grausame, von Anfang an im Blick auf die Medienöffentlichkeit inszenierte und von daher im Kern verdorbene Hinrichtung. Dennoch konnten sie sich der Wirkung dieses einzig für sie in Szene gesetzten Spektakels nicht entziehen, und während ihr beruflicher Sachverstand sich noch dagegen empörte, daß sie wieder einmal mit Surrogaten abgespeist werden sollten, hing ihr Blick an der Gestalt, die, den Revolver an der Schläfe, soeben in die Öffnung der Bordtür geschoben wurde, suchte den Hauch von Alltag, gemeinsamem Bordleben, der noch an ihr haften mochte, auszumachen und das Moment von Strapaze und Angst in dem trotz aller ausgezeichneten Schärfe der Feldstecher undeutlichen Gesicht festzuhalten, aus dem es in wenigen Augenblicken getilgt werden würde, weggeblasen von der unwiderstehlichen Gewalt von etwas, was man als Kopfschuß bezeichnete. Es ist zu weit weg, hatte ein Kollege resigniert festgestellt und das Fernglas in einem Anflug plötzlicher Augenermüdung genau in dem Moment abgesetzt, wo der Leichnam des Erschossenen aus der Türöffnung kippte und auf die Piste fiel, mit der er in seiner völligen Leblosigkeit sogleich zu einem staubigen Stilleben verschmolz, während oben in der entführten Maschine das Leben, wenn auch für die aufmerksamen Beobachter unsichtbar, weiterging. Es ist zu weit weg, hatte er wiederholt, als er merkte, daß er die entscheidende Szene verpaßt hatte. Nachdem sie einen Blick auf den Monitor des ARD-Fernsehteams geworfen hatten, mußten seine Kollegen ihm recht geben. Es war zu weit und zu hell, aber die Bilder, auf denen nichts als ein bißchen Flimmern zu erkennen war, würden um die Welt gehen, damit alle teilhätten an diesem Betrug – oder an seiner Entlarvung.
Eingeschlossen in eine Dunkelheit, die ihn von allen überflüssigen Verpflichtungen entband, den Blick unbeweglich in einer Richtung, in der er die Kinder, selbst wenn er das Glas zu Hilfe nahm, nur mehr vermuten konnte, abgestorben bis in die höheren Regionen seines Gehirns, was ihn unwillkürlich in ein geschwisterliches Verhältnis zu jener toten Geisel auf dem Rollfeld rückte, die, wie er nachträglich empfand, auch gleichzeitig spektakulär lebendig und unwiderruflich tot gewesen war, ging ihm das Kindische aller einfachen Wahrheitsbegriffe, das kleinbürgerlich Kriminalistische aller eindeutigen Betrugsbegriffe auf, beziehungsweise es dämmerte ihm, daß es ihm eines Tages aufgehen würde, wenn vermutlich auch unter vergleichbar dramatischen Bedingungen, wie er sie heute bloß ansatzweise, jene tote Geisel auf dem Rollfeld aber in vollem Umfang, er hätte beinahe gedacht in voller Schönheit, erlebt hatte. Er rief sich das staubige Flimmern ins Gedächtnis zurück, das er auf dem Monitor der Kollegen studiert hatte und das als Dokument einer terroristischen Hinrichtung um die ganze Welt gegangen war. Es hatte niemanden gegeben, der die mangelnde technische Qualität dieser einzigartigen Szene nicht beklagt hätte, und er hatte keine Ausnahme gemacht. Probeweise kniff er die Augen zusammen und schoß ein Bild in die umgebende perfekte Dunkelheit und rückte in Gedanken den Abzug neben den andern. War jener von einer beinahe überirdischen Helligkeit, die den Augen allerlei zumutete, so dieser andere von einer eher unterirdischen beziehungsweise innerirdischen Schwärze, die den Blick einschläferte, so daß der Verstand mobil werden mußte; denn wer konnte heutzutage behaupten, daß er auf Anhieb verstand, worauf es ankam, wenn man ihm ein Bild unter die Nase hielt. Wer weiß, vielleicht war ja die Qualität ausgezeichnet, auch wenn man nichts Vertrautes auf ihm zu entdecken vermochte. Vielleicht war es ja gar kein Bild im landläufigen Sinn, und der Betrachter hatte bloß seine Ultraschall- oder seine tomographische Lektion nicht gelernt. Er setzte das Glas an die Augen und freute sich an der wolkigen Dunkelheit, die alles mögliche bedeuten konnte, und erging sich in behaglichen Vermutungen, ob das, was er als geheimnisvoll und bedeutsam empfand, nicht ein Effekt der sinnlosen Vergrößerung oder gar ein Artefakt, ein Reflex des Fernglases in einer alles andere als geheimnisvollen Dunkelheit, kurz eine Projektion war. Die hatte ihre eigenen Bilder, gab er zu und ließ, ehe er das Glas wieder absetzte, den Blick noch einmal in den Himmelsraum schweifen, wo Lichtpünktchen funkelten wie auf dem Bildschirm jener Apparate, die die Knochenstrukturen von Menschen abbildeten, denen man zuvor eine strahlende Substanz injiziert hatte. Er selbst war für eine solche Untersuchung nie in Frage gekommen und hielt es auch für unwahrscheinlich, daß jemand, der über seinen Körper so erfolgreich Herr geworden war wie er, jemals in die Verlegenheit kommen würde. Aber er hatte sich bei Gelegenheit über die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen im Bereich dieses seltsamen Apparats gewundert, der, an sich selbst völlig harmlos, nur die Informationen aufzeichnete, die ihm von den strahlenden Knochen der Patienten geliefert wurden. Es waren himmlische Bilder zustande gekommen, von einer zuckenden Beweglichkeit, die einen, wie er meinte, über den katastrophalen Befund, den sie möglicherweise offenbarten, schon hinwegtrösten konnten.
Ihn würden sie jedenfalls trösten! Er ließ das Glas sinken und spürte sogleich die alltägliche Vertrautheit mit der Dunkelheit, die nicht nur seine Augen herausforderte, sondern alle Sinne befriedigte und in der er sich mittlerweile so gut zu orientieren verstand, daß er insgeheim bezweifelte, ob das Tageslicht ihm noch etwas zu bieten vermochte. Zwar war er einem gewissen Zwang erlegen, als er, sich über den Einspruch seines von der Kälte gepeinigten Körpers hinwegsetzend, ausgeharrt hatte. Aber wie in den heikelsten Augenblicken seiner beruflichen Laufbahn hatte sein Entschluß oder vielmehr seine mangelnde Entschlußkraft sich als richtig herausgestellt. Er liebte das theoretische Zerbröseln seiner Arbeit nicht, wußte aber aus Erfahrung, daß jeder Auftrag seine eigene Krise hatte, die in irgendeiner unerfreulichen Weise damit zusammenhing, daß man sich den Verhältnissen, die man dokumentieren wollte, unterwerfen mußte, und wer tat das schon freiwillig? Es war nicht anzunehmen, daß sich an dieser unangenehmen Tatsache, die die Grundvoraussetzung jedes produktiven Schaffens war, das Geringste änderte, nur weil der Auftrag, den man sich ergatterte, eher inoffiziellen, privaten Charakter hatte. Zwar war er zunächst vom Gegenteil ausgegangen, nämlich von einer unbeschränkten Freiheit zu gehen. Aber er hatte sich belehren lassen. Er hegte die begründete Erwartung, daß auch die andere Seite sich belehren ließ. Zwar hatte er es mit Kindern zu tun, und in einem der privatesten Winkel seines Kopfes überlebte noch immer die Furcht, daß Kinder wilde, unberechenbare Tiere waren, mit denen sich keine halbwegs ordentliche Geiselnahme oder Entführung bewerkstelligen ließ, was auf die Dauer nur zu Mord und Totschlag führen konnte. Mit dem auf Erfahrung gegründeten Teil seines freilich immer wieder von einem seltsamen Irrationalismus heimgesuchten Verstandes wußte er indessen ganz genau, daß Kinder sich nicht weniger als Erwachsene ins Unabänderliche fügten. Unsinn, zu glauben, daß sie sich ans mütterliche Bezugssystem klammerten, wenn die Mama ihnen schon längst nicht mehr helfen konnte! Er wollte sich gar nicht zu der psychologischen Spitzfindigkeit verleiten lassen, daß sie in ihrer bedrängten Situation eine irgend kindgemäße Neugier auf Neues ablenken müsse. Jedenfalls konnte man mit ihnen keinen Ausnahme machen.
Ich segelte mit steifem Mast
(Biermann)
In den größeren Städten arbeitete der Katastrophenschutz rund um die Uhr. Mit fortschreitender Nähe, als die Straßenlampen schon längst auf Notbeleuchtung umgeschaltet hatten und es so dunkel geworden war, daß trunkene Heimkehrer blindlings über die Sandsäcke stolperten, die sie eigenhändig auf der Schwelle ihrer Haustür aufgeschichtet hatten, stellten erleichterte Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks fest, daß der Rhein fiel. Die Periode des Stillstands, die das Hochwasser tagelang auf einer traumhaften Höhe gehalten hatte, war zu Ende. Freddi träumte, daß sein Schuppendach sich in ein Floß verwandelt hätte, auf dem sie hinausglitten, in der Obhut der Wellen und seiner Navigationskünste. Er konnte navigieren. Er konnte alles. Im Halbdunkel seines Traums, unter der Last des Körpers, der sich rücksichtslos auf ihm zurechtgekuschelt hatte, war der Funke übergesprungen. Was er bislang höchstens theoretisch gewußt und in der Praxis allenfalls erahnt, durch Überspringen oder Überfliegen, indem er im geduldigen Spiel mit seiner Freundin bald die Rolle des Sohns, des Bruders oder Vaters übernahm, systematisch eingekreist hatte, das offenbarte sich ihm mit geradezu leuchtender Gewißheit: es gab eine geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen seiner Natur und allem, was er jemals wollen konnte. Diese Übereinstimmung bildete die ihm bislang verborgen gebliebene, solide Basis seiner Freundlichkeit und seines Optimismus. Wobei er sich hütete, Männlichkeit statt Natur zu sagen, weil ihm das als ein unfreundlicher Akt gegenüber der vollkommenen Existenz Marions erschienen wäre. Aber er meinte Männlichkeit, oder vielmehr er spürte, daß es Männlichkeit war. Es gab also eine Übereinstimmung zwischen seiner Natur und seinen Projekten, oder vielmehr, wie er mit schrägem Blick auf seine Männlichkeit einräumte, seine Natur war sein Projekt, und von daher konnte ihm gar nichts mißlingen. Nicht nur würde sein Projekt sich unabhängig von der Gunst der äußeren Umstände, mit naturhafter Selbstverständlichkeit, im Zuge des einfachen Werdens ereignen, sondern, und das war das Beruhigendste von allem, es hatte sich bereits ereignet. Denn wie sonst hätte er von seinem wunderbaren Projekt Kenntnis bekommen?
Er vermied es, die Topographie seines Traums oder Floßes einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Dabei träumte er einen rechten Forschungstraum, einen gedanklichen Traum, der gleichwohl von einem Glücksgefühl getragen wurde, der das günstige Ergebnis aller Forschungen im voraus gewährleistete. Von daher hätte er nicht ängstlich sein müssen, und das war auch das Allerletzte, was er war: ängstlich. Dennoch vermied er es, die Topographie seines Traums oder Floßes allzugenau in Augenschein zu nehmen, zweifelte er zwar nicht an der Wirklichkeit seines Glücks, aber sozusagen an seiner Bildhaftigkeit. Kurz gesagt, er war sich nicht sicher, ob Marion auf seinem Floß anwesend war. Zwar hatte er sich nicht genau umgesehen, geschweige es regelgerecht untersucht, aber im Hinterkopf lauerte die Gewißheit: wenn sie dagewesen wäre, hätte er sie sehen müssen. Das war zwar selbst auch bloß ein Gedanke und keine Wahrnehmung, aber ein schlüssiger, sozusagen aus der Definition des Floßes folgender Gedanke. Und zu dieser Definition gehörte zwar lediglich die Idee eines provisorisch aufgerichteten Mastes, aber wenn das Floß noch einen Fahrgast beherbergt hätte, hätte man ihn sehen müssen. Freddi zweifelte nicht einen Moment, daß er der Mast war, wenn er auch nicht hätte sagen können, ob er sich ohne fremde Stütze aufrecht hielt oder ob er angenagelt, angebunden war. Es war eben ein gedanklicher Traum, für den verschiedene Bilder in Betracht kamen: Winnetou, ja selbst der heilige Sebastian – in diesen katholischen Gegenden am Rhein mußte man auf alles gefaßt sein.
Er war der Mast. Und wenn er Marion auch nicht sehen konnte, so war sie doch bei ihm. Sonst hätte der ganze Traum keinen Sinn gehabt.
Er hatte Sinn, auch wenn dies möglicherweise das einzige war, was er besaß. Hochaufgerichtet und ohne die geringste Furcht, etwa nicht standhalten zu können, empfand Freddi die wolkige Leere, auf der sein Floß trieb. Er steuerte es gut, und er befand sich in wunderbarer Übereinstimmung mit seinen Projekten. Aber es war nicht zu leugnen, oder vielmehr es war unbedingt zu leugnen, daß die Gegenstände, deren er sich in sieghafter Weise bemächtigt hatte, sich bedeckt hielten. Da war keine Wirklichkeit dahinter. Und wenn auch er, Freddi, so wirklich war wie nie, ja so wie er es auch in seinen kühnsten Träumen nicht erhofft hatte – denn da hatte er ja von dem unvermeidlichen Prozeß seines eigenen Werdens noch keine Ahnung gehabt –, so hatte die Wirklichkeit sich doch entzogen. Kurz gesagt, sein Floß schaukelte, auch wenn er, hochaufgerichtet, standhielt.
An dieser Stelle zweigten verschiedene Seitenkanäle beziehungsweise Einsichten ab, oder jedenfalls war der Traum hier nicht von hinreichender Einsinnigkeit. Zu tief hatte sich in Freddis Gedächtnis das Bild der schlanken Surfer auf dem Wasser der benachbarten Kiesgrube gegraben, die sich aufrecht hielten, weil es unter ihnen schaukelte, und dazwischen drängte sich ein Bild von obszöner Breitbeinigkeit, bei dem die Pfeife irgendeines Seebären eine unbestimmte Rolle spielte. Freddi wischte es mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite ebenso wie den mit lästiger Stereotypie sich einstellenden Verdacht, auch die vielfältigen Probleme, die am wolkigen Horizont seiner neuartigen Existenz als Segler aufgetaucht waren, könnten noch mit dem alten Problem von Marions merkwürdiger Nichtexistenz zusammenhängen, sie könnte, kurz gesagt, die Wirklichkeit sein, die sich bedeckt hielt, und dann hätte natürlich der ganze Siegeszug beziehungsweise die ganze Segelei keinen Sinn. Freddi wischte diesen Verdacht beiseite, der ihn keineswegs auf den Boden der Tatsachen, sondern in das Gefängnis der alten Vorurteile zurückführen mußte, wo breitbeinige Seebären ihre Tätowierungen zur Schau stellten, die das Auge ihrer Geliebten beleidigen mußten. Er, Freddi, hatte seine Freundin in seinem ganzen Leben noch nicht beleidigt, auch wenn im Bild vom schlanken Surfer eine Beleidigung vermutet werden konnte. Aber man mußte schon ein Insasse des Gefängnisses der alten Vorurteile sein, wenn man es als solche auffassen wollte. Marion jedenfalls, die völlig unsportlich war und jeden nur andeutungsweise vorhandenen Abgrund, jeden noch so winzigen Spalt ausnutzte, um sich von ihm die Hand geben zu lassen, hätte nicht im Traum an eine Beleidigung gedacht, und schon gar nicht hätte sie sich eine schmollende Rolle am Ufer zugedacht. Er war ihr Segler. Wenn er davonglitt, dann nur, weil er sich in sanften Schwüngen vor ihr produzieren wollte. Kam noch hinzu, daß die Preise schon gewaltig fallen mußten, wenn er jemals in den selbständigen Besitz eines Surfbretts gelangen sollte.
Freddis Floß schaukelte. Er nahm es wohl wahr. Aber da er mittlerweile begriffen hatte, daß er Marion innerhalb der schützenden Mauern seines eigenen zu unerwarteter Aufnahme-, um nicht zu sagen Verdauungsfähigkeit angeschwollenen Körpers suchen mußte, hatte er keine Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Nicht als ob er das Schaukeln nicht ängstlich registrierte! Da ihn aber zugleich seine eigene neuartige Kapazität vollauf in Anspruch nahm, schien ihm die Sorge ebenso unbegründet wie das Schaukeln natürlich. Hatte er nicht, während er lediglich versäumte, die ebenso spürbar anwesende wie zufällig nicht sichtbare Freundin innerhalb der Mauern seines Körpers zu suchen, Marion längst ans sichere Ufer gerettet, und war es andererseits nicht natürlich, wenn sie wie immer unbemerkt bei ihm untergeschlüpft war, daß die Verbindung zur Außenwelt nichts anderes war als eben ein grundloses Dümpeln?
Freddi erschauerte: ob der Größe der ihm zugewiesenen Aufgabe, der er sich gleichwohl längst gewachsen gezeigt hatte, ob der merkwürdigen Geräumigkeit seines Körpers, der, das konnte er aus der Erfahrung seiner mageren Jungenexistenz sagen, noch nie jemanden beherbergt hatte, oder ganz einfach wegen der unverhofften Nähe seiner Freundin, über die er sich keine Rechenschaft abgelegt, auf die er sich nicht hinreichend vorbereitet hatte und die jetzt eingetreten war. Behutsam dehnte er die Glieder, vermerkte genießerisch den Widerstand des Körpers, der sich rücksichtslos auf ihm zurechtgekuschelt hatte, fing seinerseits an, die verbleibende Entfernung, den allenfalls als Reibungswiderstand noch vorhandenen Abstand zu überwinden, eine Rücksichtslosigkeit zu üben, die ihm an ihm selber unbekannt gewesen war, das Vertrauen, das sie einander achtlos bewiesen hatten, sich zunutze zu machen, die Zutraulichkeit, in der sie gelebt oder vielmehr dahingedämmert hatten, in den Dienst seiner ungestümen Zwecke zu stellen in der seligen Gewißheit, daß es auch ihre Zwecke, ihre Seligkeit waren – und erwachte.
Werde zum Teich und ich die Ente drauf
Marion hatte sich umgedreht und ihm den spitzen Ellbogen in die Leisten gebohrt. Er wich zurück, soweit ihm das in seiner eingeklemmten Position möglich war, und sie rückte unwillkürlich nach. Indem sie den Kopf immer tiefer in Freddis Schoß rutschen ließ, war zwar der Rest der übelsten Kälte preisgegeben, aber für obenrum ein wenig Wärme gerettet worden, gerade hinreichend, um in einen turbulenten Schlummer zu fallen, wobei der Geist sich erholte, während der Körper bis weit hinauf über den Bauch in der Strategie des Überlebens keine Berücksichtigung mehr fand. Als Freddi sich Marions schmerzhaftem Zugriff entzog, rückte sie nach, fest entschlossen, in dem prekären Zustand auszuhalten, der ihr ihre Lage in einem halbwegs annehmbaren Licht präsentierte, so daß das Schluchzen unterblieb, mit dem sie die unerträgliche Gegenwart des Mannes zwar buchstäblich hinweggeschluchzt hatte, das aber von grausamer Ohnmacht war, wenn es darum ging, eine unabsehbar lange Nacht zu bewältigen. Tiefer schraubte sie den Kopf in Freddis Bauch, bis die Nase an den rauhen Kanten des Hosenbunds scheuerte, und schnupperte sich hinein in den fremden Geruch, der von dieser Stelle aufstieg und der ihr als der Inbegriff von Wärme, Häuslichkeit und Frieden erschien. Selbst schlummernd, hegte sie doch keinen Zweifel, daß Freddi wachte. So tief hatte sie sich in ihn hineingewühlt, daß die Seiten hoch aufragten wie die Mauern von Jericho, während wie ein riesiger Turm über ihr der Oberkörper schwankte. Dies Schwanken kam daher, daß Freddi im Halbschlaf zusammengesunken war und das Gleichgewicht nur durch ein ruckartiges Pendeln bewahren konnte. Ihr schien es, als fächelte er nur zu ihrem Behagen. Sie fand das ganz in Ordnung so. Ungeniert grub sie sich ihr Loch und rückte sorglos hin und her, auch wenn er erschrocken zurückzuckte. Unter dem Dach, wohin sie sich geflüchtet hatte, das wußte sie, hatte nur einer Platz, und schlecht hätte sie ihm das Wachen gelohnt und die Liebe vergolten, wenn sie sich geziert und die Schlaflose gespielt hätte. Wenn einer unterschlüpfen wollte, dann mußte der andere der Unterschlupf sein. Und wenn sie keinen Augenblick zögerte, die ihr wie von selbst zufallende Rolle des Nestlings in Anspruch zu nehmen, dann aus der über alle Kleinigkeiten erhabenen Gewißheit heraus, daß die Reihe an sie kommen und daß sie, wenn es soweit war, genauso anstandslos ihren Part übernehmen und Freddi einen Unterstand, eine Höhle, eine Zuflucht bieten würde, daß sie schon jetzt jederzeit einsatzbereit war, so wie sie es in ihren Spielen hundertmal geübt hatte und auch auf dieser vermaledeiten Insel wahrgemacht hätte, wenn nur die Bedingungen andere gewesen wären, aber die Dunkelheit, die Nacht, der schwarze Mann waren wahrhaftig nicht ihr Ressort.
Fest kniff sie die Augen zusammen und vertiefte sich in den merkwürdigen Geruch, der von Freddis Hose aufstieg. Es war nicht zu leugnen, daß die Situation auch nicht in sein Ressort fiel. Um es drastisch zu sagen, er war noch klein, kaum dem Alter entwachsen, wo sie ihn damit aufgezogen hatte, daß er beim Pinkeln einen Sprühnebel verbreitete, der ihn und andere benetzte. Wie es schien, war er über die Gewohnheit noch nicht völlig hinaus. Es war gemein, ihm eine Verantwortung zuzuschieben, der er unmöglich gewachsen war.
Marion hütete sich, dem heiklen Problem zu große Aufmerksamkeit zu widmen. Die Situation war nicht ihr Ressort, und daß sie auch nicht Freddis Ressort war, änderte nichts daran, daß von diesem Hosenduft ein wunderbarer Trost ausging, der ihr die Gewißheit verlieh, trotz dieser in jeder Hinsicht fatalen Lage an der richtigen Stelle zu sein. So konnte sie sich das Heimweh sparen, das Bedauern, die ganze Litanei des ›hätte ich‹ und ›wäre ich doch‹, abgesehen davon, daß Reue und Bußfertigkeit in ihr Herz noch nie Eingang gefunden hatten und sie deshalb nach der Auffassung gewisser Erziehungspersonen überhaupt kein Gewissen hatte. Sie war an der richtigen Stelle, ja wenn sie sich, die Nase erfüllt von dem guten, häuslichen Geruch, auf die schlaftrunkenen Schwankungen über ihr einließ, eröffnete sich ihr ein ganzer Raum tröstlicher Vorstellungen, und es kam ihr vor, als ruhte sie wahrhaftig in Abrahams Schoß, weshalb sie auch gewissen Beeinträchtigungen ausgesetzt war, Arbeitsschwankungen, bei denen es sich paradoxerweise am sichersten schlief, auch wenn im Eifer des Nomadisierens ein wenig geschubst und gerüttelt wurde; wurde die Welt doch durch energische Gesten im Zaum gehalten, während sie schlummerte. Gehorsam fügte sie sich in den Schwung, bemüht, die kosmischen Schwankungen nicht zu stören und dem gottväterlichen Regiment nicht im Wege zu sein, das jederzeit einen rettenden Szenenwechsel herbeiführen, in Prozessionen Gondeln aufmarschieren lassen konnte, farbenprächtige Truppen, die ihr Platzrecht unterstreichen und den trüben Eindruck, den sie mit ihrer Heulerei erweckt hatte und der unvermeidlich Gelichter anzog, beseitigen konnte. Denn das war auf die Dauer nicht gut, daß sie im Dunkeln herumwabern mußte, getragen nur von einer Wolke säuerlichen Geruchs, einem welligen Gebirge aus steifgefrorenen Knautschfalten, unter denen das Leben bis auf einen minimalen Rest geschrumpft schien, unerreichbar für die bohrende Nase oder vielmehr ohne eigene Substanz; denn schließlich war Freddi, abgesehen von seiner Phantasie, den Leistungen seines unermüdlichen Kopfes, ein durch und durch magerer Hund.
Marion seufzte vernehmlich und zog den Rotz hoch. Wie von selbst hatten die Eskapaden ihres Traums sich in den Alltag der Gefangenschaft zurückverwandelt, und sie konnte ebensogut ganz aufwachen. Ernüchtert stellte sie fest, daß sie sogar die Wärme geträumt hatte. Wer weiß, vielleicht hatte sie im Schlaf trotz ihrer schönen Träume geweint; denn die Unterlage war feucht, auf der sie ruhte, der billige, synthetische Stoff, den Freddis Mutter seiner Waschmaschinenfestigkeit wegen bevorzugte und den ständig ein Hauch von Weichspüler umschwebte, über den Freddis kräftiger Eigengeruch freilich den Sieg davontrug. Schwerfällig hob sie den schlaftrunkenen Kopf, um aus dem Bereich der feuchten Kälte zu gelangen. Sie fand jetzt, daß Freddi stank, und außerdem kam ihr der Gedanke an seine Mutter dazwischen. Sie hatte keine Ahnung, wie mager Freddi war und wie stark. Sie kannte seiner zauberischen Fähigkeiten nicht: daß er sich jederzeit aufplustern und seine Freundin unter seinen schützenden Fittichen bergen konnte; da war sie dann geschützt vor jedem Wind. Und sie wußte natürlich nicht, daß ihr Sohn schon so gut wie erwachsen war, nach Marions Begriff jedenfalls, die eine klare, wenn auch nie überprüfte Vorstellung vom Erwachsensein hatte, in der Muskelpakete, männliche Behaarung keine, dafür schlenkernde Arme, ja die schlenkernde Magerkeit der jungenhaften Hüften, über die beim Klettern die Hose rutschte, eine um so größere Rolle spielten. Freddis Mutter kannte das alles nicht, oder sie wußte es nicht zu würdigen. Sie hatte keine Ahnung, wie Freddi sich an den Stellen anfühlte, die vom Wachsen glatt und dünngescheuert waren, offenkundig überdehnt, daß man jeden Augenblick befürchten mußte, die Haut riß, und deren Anblick oder plötzlicher Kontakt in Marions Fingern ein Kribbeln erzeugte, ein unwiderstehliches Bedürfnis, die Sehnen nachzuzeichnen und sich mit der gerundeten Hand den konkaven Linien seines bis in die tiefsten Tiefen von allen Geschlechtsmerkmalen freien, allen Gewißheiten der Anatomie widerstreitenden und nun wirklich über alle Maßen überdehnten Unterleibs anzuschmiegen. Marions war sich sicher, daß Freddis Mutter davon keine Ahnung hatte, sonst hätte sie nicht mit ihm geschimpft, weil er aus allen Hosen herauswuchs, wobei er sie sich auf merkwürdige Art anverwandelte, so daß sie ihm in kürzester Zeit ähnlich sahen, ihm oder vielmehr ihren Vorgängern, so staken die Knöchel auf immer die gleiche Weise heraus, während obenrum dicke Beulen in den engen Taschen den Eindruck einer frivolen Eleganz, wie sie die Hose möglicherweise auf der Stange ausgezeichnet hatte, gar nicht erst aufkommen ließen. Marion liebte diese Mißproportion, die ihren Fingern Angriffsflächen bot. Im Spiel war Freddi stärker und schneller, aber Marion war verschlagen und durch keine Rücksichtnahme gehemmt. Wenn er in einem Kletterbaum hing und sich nicht wehren konnte, wobei die Hose bereits bis weit über die Hüften gerutscht war, dann fiel sie mit ihren Kinderhänden über die entblößte Stelle her, wohl wissend, daß er später furchtbar Rache nehmen würde. Und wenn er sich dann blindlings fallen ließ und der Kampf jetzt unter fatal gleichen Bedingungen auf dem Boden seine Fortsetzung fand, dann passierte es im Hin- und Herrollen, daß Marions Finger zwischen seinem Hüftknochen und dem Hosengürtel steckenblieben und gefährlich gequetscht wurden; denn unbewußt war sie ständig auf der Suche nach dem anatomischen Unterschied, den er ihr früher in aller Gemütsruhe vorgeführt und der sich in letzter Zeit, wie gesagt, bis in den hintersten Winkel seines geheimnisvollen Jungenkörpers zurückgezogen hatte, daß sie Leib und Leben riskieren mußte, um ihm auf die Spur zu kommen. Erschrocken und reglos ließen sie für einen Augenblick das Spiel sein, Marion, weil sie wußte, daß jede Umdrehung ihre Knochen brechen mußte, Freddi, weil er spürte, daß von ihm Gefahr für Marion ausging, wenn ihm auch nicht klar war, wieso. Vorsichtig zog sie die gequetschten Finger heraus, kreuzunglücklich in dem Moment, daß sie gefühllos waren und auf die zarten Schwingungen von Freddis Bauch, die ihr auf jede nur erdenkliche Weise Luft verschaffen sollten, nicht in der gewohnten dreisten Weise reagieren konnten. Da sie von Vorurteilen frei war, merkte sie sogleich, daß diese Schwingungen sie ebenso nach unten wie nach oben lockten, und wenn sie den Weg hinaus wählte, dann nur, weil ihr der Gürtel im Weg war. Zwar hätte ihre Hand dank der unvergleichlichen Beweglichkeit von Freddis Bauch vorbeigefunden, aber nur mit Müh und Not, halbwegs stranguliert und um den Preis jener Gefühllosigkeit, die sie jetzt den Rückzug antreten ließ. Das war aber nie ihre Absicht gewesen, sich einbunkern und einschnüren zu lassen, sondern ins Freie zu gelangen und in der unermeßlichen Weite von Freddis flachem, haarlosem Unterbauch auf die Pirsch zu gehen. Betrübt zog sie die Finger zurück und rieb sich die eingeklemmten Gelenke, während Freddi vor lauter Rücksichtnahme noch ein wenig zuckte.
Es war etwas Vertracktes mit der Hose. Unglücklich schnüffelte Marion an den kalten Resten ihres seligen Traums und kämpfte die schon wieder aufsteigenden Tränen nieder.
Freddi, murmelte sie so heiser und schüchtern, daß es unmöglich oben ankam, wo Freddi sich wieder ins Navigieren geflüchtet hatte, auch wenn ihm jetzt der Wind ins Gesicht blies und er Mühe hatte, in Navigationslaune zu bleiben. Ahnte er, daß seine Würde untergraben wurde und sein Passagier ihn im Stich ließ?
Marions räusperte sich, aber es kam nur ein elendes Krächzen heraus, das in den festgezurrten Falten von Freddis Hose erstickte.
Es konnte keine Rede davon sein, daß sie Freddi im Stich lies – überhaupt ein boshafter Gedanke, wenn man bedachte, daß sie sich im Belagerungszustand befanden. Aber in ihr oder, genauer gesagt, unter ihr war der Boden löchrig geworden, und durch die schadhaften Stellen hatte sie einen ernüchternden Blick nach draußen geworfen. Freddi war stark, aber am stärksten war er hier, wo sie sich nicht wehren konnten. Jenseits des Belagerungsringes, da wo Alltag, Sicherheit auf sie warteten, war er zwar beileibe nicht schwach – um Gottes willen! –, aber vielleicht weniger scharf umrissen. Marions Befürchtungen waren an dieser Stelle selbst nicht eben scharf konturiert, und wenn sie hätte erklären sollen, warum sie das Paradies auf einmal geringachtete, in dem sie mit Freddi aufgewachsen war, hätte sie vermutlich gepaßt. Nicht als ob sie Freddis Mutter übermenschliche Zerstörungskräfte zutraute. Obwohl, Freddis Mutter war auch nicht dümmer als andere Erwachsene. Es konnte kein Zufall sein, daß sie Weichspüler und strapazierfeste Hosen zu Säulen ihres Alltags gemacht hatte. Auf irgendeine vertrackte Weise mußten sie nicht nur mit dem Erwachsenenleben im allgemeinen, sondern mit der erwachsenen Liebe im besonderen zu tun haben, sonst, schloß Marion, die Freddi immer schon höchst fleischlich, bis in die Spitzen seines mageren Jungenkörpers liebte, messerscharf, sonst hätten sie es ja nie zu dieser Bedeutung gebracht. Wer weiß, vielleicht rochen Erwachsene schlecht, vielleicht waren sie häßlich, lange bevor es nach Marions Ansicht der Fall war, die sich zwar über den Anblick ihrer Großmutter entsetzte, aber sich weigerte, ihre Mutter zu den ›alten Leuten‹ zu rechnen. Wenn sie an Freddis kalten Hosen schnupperte, konnte sie sich vorstellen, leider, daß auch er einmal schlecht riechen würde. Besonders warm würden sie es jedenfalls nicht haben, wenn es in einer durch und durch zweifelhaft gewordenen Zukunft darum ging, sich der verflixten Hosen im Ernst zu entledigen. Wenn Marion von dieser Insel etwas mitnahm, dann die Gewißheit, daß sie es nicht warm haben würden. Zur rechten Zeit jedenfalls nicht.
An diesem Punkt zeitigten Marions reichlich wirre und im ganzen deprimierende Überlegungen doch noch ein überraschendes Resultat. So sehr hatten sich ihre Hoffnungen eingetrübt, daß die Gegenwart sie nicht mehr schrecken konnte. Sie beschloß, die Augen aufzumachen, verstand sie doch selbst nicht mehr, was sie sich davon versprochen hatte, daß sie die Verantwortung Freddi überließ, die Konfrontation mit der Dunkelheit und mit dem Fremden, so als ob das Männersache wäre. Abrupt richtete sie sich auf, so daß Freddi, der seinen schönen Traum nicht fahrenlassen wollte, zusammenfuhr. Gleichgültig stellte sie fest, daß die Sterne verblaßt und Frühnebel aufgezogen waren. Hinter ihr, am Ufer, glaubte sie eine verschwommene, selber grau und unbedeutend gewordene Gestalt zu erkennen. Der Morgen konnte nicht mehr fern sein. Aber es war ihr egal.
Auf dem Flughafen jenes nordafrikanischen Landes, das die entführte Maschine aufgenommen hatte, war die Situation in Bewegung geraten. Journalisten postierten sich an den Hinterausgängen des Flughafengebäudes, weil es hieß, daß die Passagiere freigelassen würden. Es war nicht länger zu leugnen, daß die Entführer ungestraft davonkommen würden. Vermutlich gingen sie hier von Bord und tauchten mit Hilfe ihrer Gesinnungsgenossen, die in diesem Land einige mehr oder weniger offen geduldete Büros unterhielten, sei’s in den Bergen, sei’s in der Wüste unter.
Etliche Journalisten hatten vor dem Hilton Stellung bezogen und sahen zu, wie im Frühlicht Waren entladen wurden und das Personal der ersten Schicht zur Arbeit kam. Wenn die Entführung in der erwarteten Weise zu Ende ging, dann war das Ziel der Passagiere hier, wo sie den so lange entbehrten Komfort vorfinden würden und wo es leichter war, einen Blick in die erschöpften Gesichter zu werfen und den einen oder anderen Kommentar zu erhalten. Voller Verachtung, wenn auch mit einer gewissen, immer wieder aufflackernden Besorgnis dachten sie an die weniger kaltblütigen Kollegen, die sich nicht getraut hatten, dem Flugzeug den Rücken zu kehren. Es war lächerlich zu glauben, wenn auch leider nicht auszuschließen, daß jetzt noch, bei dem Stand der Dinge, etwas in die Luft gehen würde. Und ebenso sinnlos war es, wo der kriminalistische Aspekt des Falles von höchster Regierungsstelle und mit der unausgesprochenen Zustimmung der gesamten westlichen Welt ausgeklammert war, noch die geringste Aufmerksamkeit an die Entführer zu wenden. Gleichmütig betrachteten sie das rege Kommen und Gehen vor dem Hilton, dieser Oase der Erholung und des Friedens in einer undurchschaubaren Welt. Es gehörte zum professionellen Selbstverständnis, daß man wußte, wann ein Drama zu Ende war, und dieses hier war zu Ende. Was jetzt noch zählte, war der menschliche oder, wenn man so wollte, der wissenschaftliche Faktor: das menschliche Antlitz, der Streß.
In sich zusammengesunken, selbst hilfsbedürftig, saß oder vielmehr kauerte der Mann am Ufer und sah zu, wie aus dem Dämmerlicht die Insel auftauchte. Was ihm fehlte, waren ein paar Schnäpse und ein Bett. Der Schnaps war gut gegen alles mögliche: Reißen, Ruhr, Amöben, auch wenn Amöben hier nicht zu befürchten standen. Ein ordentlicher Schnaps war Wärmflasche und Schlafmittel zugleich, und er konnte beides gebrauchen; denn seine Augen waren starr geworden und würden von allein nicht zufallen, und jede Kälteempfindung war ihm abhanden gekommen. Eine Wärmequelle mußte her, damit er wieder merkte, daß er fror.
Mit Befriedigung registrierte er, daß er die Silhouette der Kinder noch im Kopf hatte. Für einen Augenblick war er sich im unklaren, ob die Insel ein Produkt seiner Phantasie oder seiner Erinnerung war, so sehr entsprach sie in allen Einzelheiten dem gestrigen Bild. Eine Nacht war kurz, stellte er fest, wenn man sich ihr stellte. In seinem Beruf war es zwar an der Tagesordnung, daß man sich die Nächte um die Ohren schlug. Aber erst hier und jetzt hatte es sich ihm bewiesen, wovon er in geheimster Seele überzeugt war: daß sich gar nichts änderte, wenn man nur genau genug hinsah. Im Innersten war er nämlich überzeugt gewesen, daß es ein wohlüberlegter journalistischer Trick war, was die entscheidenden Änderungen herbeiführte. Dieser Trick oder diese Taktik bestand in nichts anderem als darin, wegzusehen, im entscheidenden Moment den Wachposten mit der Bar zu vertauschen und so den Dingen Gelegenheit zu geben, sich zu ändern. Dabei konnte man den entscheidenden Moment natürlich auch verpassen. Aber das war Berufsrisiko. Es war der Grund dafür, daß der Journalismus, und zwar der professionell ausgeübte Journalismus, ein einziges Pokerspiel war. Ihm war es jedenfalls lieber so. Sonst hätte nämlich das Beamtentum die Oberhand gewonnen mit jenen Kollegen an der Spitze, die sich nicht in die Bar trauten und den Kollegenskat ablehnten aus Angst, sie könnten etwas verpassen. Ihm hätte der ganze Beruf keinen Spaß mehr gemacht, wenn die Beamtennaturen die Oberhand gewonnen hätten. Dabei passierte ihnen auch allzu Menschliches: daß ihnen die Augen zufielen, nachdem sie sie unnötig strapaziert hatten, oder daß sie im entscheidenden Moment austreten mußten; sie hatten so ein Talent, die Dinge auf die Spitze zu treiben. Man erzählte sich gigantische Sachen: wie jemand sich vollgeschissen hatte, weil er wie ein Wachhund auf seinem Posten geblieben war und den Beamtenarsch nicht hochgekriegt hatte, während die andern in der Lounge einen hoben – »Phil, du rufst uns doch, wenn es etwas gibt!« –, und als es soweit war, war es eben zu spät. Er hatte die Story nicht miterlebt, und schon gar nicht wäre ihm selbst so etwas passiert. Er machte, was die andern machten, und trug auf diese Weise sein Teil dazu bei, daß der Job sich nicht in einen Beamtenberuf verwandelte. Aber immer wenn ihnen die Zeit lang wurde, wurden solche Geschichten erzählt: wie sich der Kollege die Beamtenhosen vollgeschissen hatte, der typische Reisedurchfall und ein heikler Auftrag, die andern wußten schon, warum sie einen hoben – und dann hoben sie noch einen und traten schnell noch einmal aus, denn man wußte nie, ob man später noch Gelegenheit hatte, und auf diese immer gleiche und, wie sie meinten, hochtaktisch und sensibel eingefädelte Weise kamen die Dinge ins Rutschen. Wahrhaftig, so waren schon Flugzeuge in die Luft gesprengt und ganze Hotelbelegschaften gekidnappt worden, einmal, wie sie sich gegenseitig erzählten, mitsamt der durch sie selbst repräsentierten Belegschaft an der Bar!
Seine Gedanken verfingen sich in den Kalauern, den allzu bekannten Anekdoten, mit denen sie sich die Zeit vertrieben, die endlosen Stunden, während sie auf verspätete Flugzeuge, übermüdete Stars, verstörte Geiseln, schießwütige Gangster warteten, die Unterschiede verwischten sich angesichts der einförmigen, in undurchdringlichen Schwaden von Zigarettenrauch zwischen Bar und Männerklosett in kollegialer Nestwärme verbrachten, endlosen Warterei! Das hier war etwas anderes. Penibles Warten auch hier, aber allein und im Angesicht der Dinge, die sich nicht ändern konnten. Ihm wurde ganz leicht vor Glück, weil es ihm vergönnt war, eine der entscheidenden Thesen über seinen Beruf zu verifizieren, und ohne daß er sich kompromittierte! Im Gegenteil, nie war er weiter davon entfernt gewesen, sich einen Beamtenarsch zuzulegen, als in diesem Moment. Das ist, weil ich allein bin, dachte er und kicherte, weil ihm der Vers eingefallen war: »Das ist, weil das Mieder so eng ist.« Ein blöder Vers, aber ein großer Dichter. Zutiefst fortschrittlich, wenn er im Augenblick auch nicht sagen konnte, was an diesem Vers fortschrittlich war. »Das ist, weil das Mieder so eng ist.« Heiterkeit schüttelte ihn, daß die Eiskristalle klirrend von ihm absprangen. Bei ihm war’s, weil er allein war, und bei der Dame, weil das Mieder so eng war. Er hätte es ihr abreißen mögen, als Herr!
Mit großer Geste wischte er die Bedenken beiseite, daß der Vers noch einen anderen Zusammenhang hatte, der aber seiner Vorstellung von Sinn und Funktion eines Mieders widersprach, einer Vorstellung, die die Eiskristalle zum Zerspringen brachte. Sei’s drum, dachte er, daß das Mieder so eng ist, weil da schon jemand dran gerissen hat. In seiner Vorstellung hatte ein Mieder die wundervolle Eigenschaft, sich immer wieder zu schließen. Ihm kam es aufs Reißen an, war doch egal, was darunter quoll.
Mit frischer Vitalität faßte er die Inselbewohner ins Auge. Aufs Herunterreißen kam es an, auf nichts anderes! Großmütig räumte er ein, daß er auch nur auf seinem Beamtenarsch gesessen hatte, die lange, lange Nacht. Der Arsch ist mir auf Grundeis gegangen, dachte er und kicherte, weil er genau wußte, daß der Ausdruck nicht hierhergehörte, und weil er andererseits zweifelte, ob er nicht schon am Boden festgefroren war, er hatte sich seit Stunden nicht mehr gerührt. Der Arsch ist mir auf Grundeis gegangen, dacht er, beschämt, weil der Ausdruck doch nicht so fehl am Platz war, weil er sich hatte kleinmachen, sich zum Zuschauer hatte degradieren lassen, und nur weil es ihn am Anfang dieser langen Nacht zu einer unwillkürlichen Regung hingerissen hatte. Der Arsch ist mir auf Grundeis gegangen, dachte er, wütend, daß er vor seiner eigenen kleinen Regung zurückgewichen war, ausgerechnet, wo nichts Menschliches ihm fremd sein durfte. Kaum hatte das erste Dämmerlicht die Konturen der Kinder preisgegeben, war ihm die Perspektive seines Handelns klar, und er konnte nur hoffen, daß sie in der Perspektive dieser Nacht lag, damit sie wenigstens einen Sinn hatte, die verfluchte, gesundheitsgefährdende Schinderei!
Er würde die Kinder bezahlen lassen. Das war nicht mehr als recht und billig. Wer den andern warten ließ, der mußte bezahlen. Und er würde der Warterei ein Ende bereiten. Wenn von allein sich nichts tat, dann mußte eben eingegriffen werden. Abkürzendes Eingreifen, hieß das, und es war durchaus nicht so, daß sie sich dieses Kunstgriffs nicht gelegentlich bedient hätten, und zwar ganz im konventionellen Rahmen ihres Berufs. Abschätzend musterte er die Frühnebel, das Dämmerlicht und überschlug die Tageszeit. Wenn er nicht abkürzend eingriff, würde ihm die Situation entgleiten. Andere würden kommen und zu einem abrupten Ende bringen, was so langatmig begonnen hatte. Er hätte nur die Möglichkeit, sich mit retten zu lassen oder zu verschwinden – et en vitesse!
Behutsam rieb er ein Bein, von dem er nicht hätte sagen können, ob es seins war, und versuchte die eingeschlafene Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Er würde eingreifen, zupacken, die Sache zu ihrem logischen Ende bringen, was auch immer das sein mochte, den Dingen die Maske ihrer Trägheit herunterreißen und die Kinder dafür zahlen lassen, daß er gewartet und in der längst grau und undeutlich gewordenen Vorgeschichte sich zu etwas hatte hinreißen lassen, was ihm, dem Journalisten, am meisten verhaßt sein mußte: zu einer unwillkürlichen Reaktion.
Er vermißte jetzt doch die heilkräftigen Rituale seines Berufs: den Schnaps und daß ihm jemand auf die Schulter klopfte, wenn es losging. Im trüben Frühlicht schien ihm die Insel näher herangerückt und das Kinderpärchen womöglich noch kleiner. Was für Zwerge, dachte er verächtlich. So etwas gehörte um diese Zeit in die Heia. Für ein Schäferstündchen im Grünen waren sie noch reichlich winzig.
Er hatte unbändige Lust, sie einmal richtig zu erschrecken.
Das Wasser fiel. Enten, die sich am Rand der überfluteten Wiesen und Gärten zum Schlafen niedergelassen hatten, fühlten sich unvermittelt aufs Trockene gesetzt und streckten verwundert die Beine aus. Die Landtiere reagierten mit Apathie auf die günstige Wende. Viele von ihnen würden noch eingehen, weil sie zu erschöpft waren, um unter den erschwerten Bedingungen Futter zu finden. Träge floß der Rhein in sein Bett zurück. Nur auf dem Main rollte noch eine isolierte Flutwelle heran, die durch sintflutartige Regenfälle im Fichtelgebirge hervorgerufen war und gegen Morgen Würzburg erreichte. Während überall am Rhein, an Nahe und Mosel die Menschen aufatmeten, riß sie in einem idyllischen Städtchen Unterfrankens einen VW-Bus mitsamt seinen Insassen in die Tiefe. Einige Stunden später wurde am Untermain die Leiche eines ertrunkenen Kindes aus dem Wasser gezogen, das auf dem Weg zum Kindergarten verunglückt war. Wie hat die Mutter geweint!
Im Dämmerlicht sahen die Kinder, wie sich eine Barke näherte oder vielmehr ein Floß. Hochaufgerichtet stakte der Mann.
Es ist unser Floß, Freddi, flüsterte Marion, die die Umrisse zu erkennen meinte. Es war ein Spind, in dem vor Zeiten Kaninchen gehaust hatten und der aus dem Kleingartengelände herübergetrieben war. Wie lange hatten sie nach einem passenden Boot gesucht!
Freddi hatte das Floß zuerst für eine Brigg gehalten, wie sie nur einmal in Wochen am Horizont auftaucht, und sich allen Ernstes um das gediegene Äußere, den Eindruck, den sein eher kleines, aber wendiges Fahrzeug auf das große, stattliche Schiff machen mußte, gesorgt. Marions Ausruf holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Erschrocken starrten die Kinder auf das im Nebel geräuschlos herannahende Floß.
Er kommt uns holen, sagte Freddi sachlich. Er hat nur gewartet, bis er etwas sieht. Jetzt kommt er uns holen.
Er verstummte. Es war ja alles schön und gut, und wer unter diesen Umständen zu ihnen herausstakte, mußte ein Retter sein. Aber der Mann hatte die Nacht am Ufer verbracht, ohne Hilfe zu holen, und er konnte kein Retter sein. In einem einzigen Beben, das von seinem Herzen hinunterlief und sich in Windeseile über Bauch und Beine verteilte, hatte Freddi den bevorstehenden Kampf um das Floß durchgekämpft. In den weichen Regionen seiner Knie, in die die Kraft nicht zurückkehren wollte, spürte er, daß sie den Mann beim schwankenden Übergang zwischen Floß und Dach erwischen mußten. Wenn es ihm erst gelang, auf die Plattform zu klettern, hatten sie keine Chance.
Er wollte Marion die Strategie zuflüstern, aber sie hatte sich von ihm entfernt. Sie kniete an der dem Ufer entgegengesetzten Seite des Daches, und es sah aus, als fischte sie etwas aus dem Wasser. Er konnte es nicht begreifen, daß sie ihn jetzt im Stich ließ.
Marion, rief er halblaut, den Blick fest auf das Floß gerichtet, das in den ziehenden Nebelschwaden immer wieder für Sekunden unsichtbar wurde.
Sie erhob sich folgsam und stolperte zu ihm hinüber. Beklommen stellte er fest, wie winzig sie war, wie unsicher auf den Beinen nach der durchwachten Nacht, und seine Ungeduld wich einem Schuldgefühl, einem Erschrecken darüber, daß er sie nicht beschützen konnte. Er wollte sie in die Arme nehmen, wie er es hundertmal im Fernsehen gesehen hatte, anstatt mit dem Mann an dem prekären Übergang von Floß und Plattform zu kämpfen.
Bis wir tot sind, dachte er mechanisch. Er wollte sie in die Arme nehmen, bis sie tot waren, erst sie und dann er. Er machte eine Bewegung, als wollte er sie in die Arme nehmen, aber sie zerrte ihn zum Rand des Schuppendachs und nötigte ihn auf die Knie.
Sieh doch, Freddi, das Wasser ist gefallen, flüsterte sie.
Sie hatte recht. Die Wände des Schuppens ragten sichtbarlich aus dem Wasser. Es war unübersehbar, sie standen nicht auf einer Insel, sondern auf einem richtigen Haus.
Bedächtig maß Freddi das abgesunkene Stück mit der Hand.
Wir hauen ab, Freddi, rief Marion ungeduldig. Los, nichts wie weg!
Unschlüssig sah Freddi vom Wasser auf seine Freundin und wieder zurück auf das Wasser. Er konnte nicht abschätzen, ob der Spiegel so weit gesunken war, daß auch Marion den Kopf frei hatte. Es befremdete ihn, daß sie das kalte Wasser nicht scheute. Ihn persönlich graute bei dem Gedanken, es könnte zu einem Kampf kommen, bei dem er im Wasser stand, während der Mann von oben auf ihn einschlug. Aber davon sagte er Marion nichts. Er verstand, wie ihr zumute war. Sie wollte davonlaufen, sich entziehen, nicht dasitzen und warten, bis der Mann herangekommen war. Hätte Freddi sich die geringste Chance ausgerechnet an jener prekären Stelle zwischen Schuppen und Floß, er hätte sich Marions Verlangen widersetzt. Aber er wußte, oder vielmehr er sah, wie die Konfrontation ausgehen würde: Marion ins Wasser geschleudert, er im Schwitzkasten des Angreifers. Er schüttelte sich förmlich das Bild aus dem Kopf.
Also gut, sagte er und faßte nach Marions Hand, ich zuerst, damit ich sehe, wie tief es ist, und dann du.
Es mußte in Sekundenschnelle geschehen, dann hatten sie das Überraschungsmoment für sich. Der Mann quälte sich mit Staken durch den Nebel, selber durch die durchwachte Nacht in seinem Wahrnehmungsvermögen, seiner Reaktionsfähigkeit eingeschränkt, durch die erlittene Unterkühlung in seiner physischen Kraft reduziert.
Freddi glitt ins Wasser und wurde sogleich von einer tödlichen Kälte erfaßt. Er wollte sich hinausretten, aufs Dach zurück. Marion mußte einsehen, daß es nicht ging. Aber da war sie schon neben ihm ins Wasser gesprungen, und ihr reichte es gut bis ans Kinn. Freddi würde sie über abschüssige Stellen hinwegziehen müssen, sonst ging es ihr an den Kragen.
Das Problem war, daß der Mann ihnen jederzeit den Weg zum Ufer abschneiden konnte. Mit seinem vom nächtlichen Segeln geschärften Blick erkannte Freddi, daß sie einen Umweg wählen mußten, Kälte hin, Kälte her, so daß sie ins Gestrüpp der überfluteten Kleingärten mit ihren Untiefen gerieten. Der Mann würde Mühe haben, ihnen hierher zu folgen, es sei denn, er ließ das Floß im Stich – Freddi schloß die Augen, um den Ungereimtheiten, die sich seiner Vorstellungskraft bemächtigen wollten, zu entgehen, und zog Marion dann energisch hinter sich her.
Wie in einem schlecht geschnittenen Film hielt das Floß noch eine ganze Weile auf das verlassene Schuppendach zu, so als sei dies seine Seligkeit, sein Heimathafen, seine innere Bestimmung, und wechselte dann abrupt, sofern dies bei seinen ungefügen Umrissen möglich war, und, wie es schien, gänzlich unsinnig seine Richtung. Es sah nämlich aus, als wollte es stracks zurück, und für einen Moment ergab sich das paradoxe Bild, als wäre der Mann auf dem Floß der Gejagte seiner eigenen, in einer unguten Nacht entstandenen Wahngebilde – sie hatten ihn hinausgetrieben, einer seltsamen Insel voller unsichtbarer Feinde entgegen, und jetzt zog er sich, beschämt, daß er einem Wahn erlegen war, ans Ufer zurück. Freddi, der wahrhaftig nicht mehrere Sachen auf einmal konnte, der mit Waten und Ziehen beschäftigt war und außerdem den Blick zurück scheute, der ihm unvermeidlich Marions kleines, weißes Gesicht vor Augen führte, wie es mit den von ihm erzeugten Wellen kämpfte – sie hatte schon kräftig Wasser geschluckt und war sozusagen bereits in eine andere Phase der Auseinandersetzung eingetreten und rang um ihr Leben, während Freddi in aller Gemütsruhe noch mit Giganten kämpfte –, Freddi, also, der den Blick zurück tunlichst vermied, hatte die Bewegungen des Floßes erst wahrgenommen, als er schon kaum noch zurückblicken mußte, um es zu entdecken, und bei dem Stand der Dinge konnten ihm Ziel und Absicht der feindlichen Navigationen nicht verborgen bleiben. So weit nahm der Angreifer die Linie zurück, daß sie in ihrem Gestrüpp verhungern konnten!
Freddi dachte nicht daran zu verhungern. Sie hatten das Kleingartengelände mittlerweile erreicht und bekamen die Untiefen zu spüren. Taumelnd, stolpernd, von tausend Kanten zerstoßen und geritzt, riß er an Marions Arm, daß es ihn nicht verwundert hätte, wenn er ihr ihn abgerissen hätte, riß sie aus den Wasserlöchern, in denen sie versinken wollte, heraus und über tückische kleine Erhebungen hinweg, über Stachelbeerbüsche, die sich in ihre Kleider krallten, und zog und zog, während weiter vorn, noch in einiger Entfernung, das Floß auf sie wartete.
Vorwärts, Marion! dachte Freddi und preßte die Zähne zusammen.
Marion hörte nichts. In blindem Vertrauen hing sie an Freddis Hand und ließ sich von ihm ziehen. Längst hatte sie das Bewußtsein davon verloren, wo ihr Arm aufhörte und Freddis Hand anfing, war dieser über alle Schmerzgrenzen hinweg überdehnte Arm ihr doch längst zur Nabelschnur geworden, die sie mit Freddi verband und die sie am Leben erhielt. Über die Maßen erschöpft, im buchstäblichen Sinn voll Wasser – denn sie hatte es mehr als einmal versäumt, Luft- und Speiseröhre vor den andrängenden Massen rechtzeitig zu verschließen –, hatte sie den Gegner aus den Augen verloren, und alle Furcht war aus ihrem Herzen gewichen. Was sie an Angst aufbringen konnte, das hatte sie dahin geworfen, wo für sie die Front war, die Nabelschnur, nie würde sie loslassen! Freddi war ein Kindskopf. Er dachte, er hielt sie fest. Er wußte nicht, daß er festgehalten wurde, über alle kurzsichtigen Pläne und Projekte hinaus festgehalten, und zwar von ihr. Da wo sie schwamm – und sie hatte es längst aufgegeben, kleinmütig nach einem vermeintlich festen Boden unter ihren Füßen zu angeln –, da wo sie schwamm, waren alle Hindernisse beiseite geräumt, alle Probleme, und was ihr an Angst noch zur Verfügung stand, hatte sie an die Front, die Nabelschnurfront, geworfen; denn das stand außer Frage, sie würde untergehen, wenn die Nabelschnur nicht hielt. Auch wenn die Probleme sich so weit geklärt hatten, daß sie sie nicht mehr gewahr werden konnte oder vielmehr im Zweifel war, ob sie selbst noch lebte, so war sie sich doch im klaren, sie würde untergehen, wenn die Nabelschnur nicht hielt. Alle verfügbare Angst – und das Quantum war erschreckend gering – warf sie an die Front, damit die Verbindung nicht riß.
Von ihrer zurückgezogenen Position, halb ertrunken, aber von Tagessorgen befreit, das Blickfeld zwar durch die Wassermassen getrübt, aber durch keine strategische Überlegung eingeengt und eingeschränkt, erhaschte sie zuweilen einen vollständigen Blick auf das Ufer, an dem sie ihre Kindheit verspielt hatte und dessen Umrisse sich durch die österliche Überschwemmung so weitgehend geändert hatten, daß sie meinen konnte, sie triebe an einem geträumten Strand. Während Freddi, den Blick starr auf den Gegner geheftet, nicht umhin konnte, sich einzugestehen, daß dieser es mit der unumschränkten Machtfülle, die ihm seine Blockadeposition verschaffte, nicht genug sein ließ, sondern langsam, aber stetig Kurs auf sie nahm, ihnen, den Halbertrunkenen, behutsam, aber zielstrebig entgegenstakte, sah oder vielmehr träumte Marion, das heißt, träumte oder vielmehr sah sie, wie sich auf der linken verschobenen Uferseite ein Grüppchen schwach erleuchteter Punkte näherte, ein lächerliches Grüppchen oder vielmehr lächerliche Punkte, die von dort herübergezogen kamen, wo Freddi und sie ihre Kindheit verspielt hatten, bis vor wenigen Tagen jedenfalls; denn das Wasser hatte ihre Lieblingsplätze überflutet und war bis hinauf an den Straßendamm gestiegen.
Sie kamen sie suchen! Taub und blind für alles, was um ihn herum geschehen mochte, den Blick unbeirrt auf das vor ihm in den lichter werdenden Nebelschwaden dümpelnde Floß geheftet, watete Freddi seiner schwersten Stunde entgegen. Es kam ihm vor, als ob die Last, die er mit abgestorbenen Fingern hinter sich herschleppte, seit einer unbestimmten Weile federleicht geworden wäre. Er würde sie beide nicht retten können, Marion und sich, aber er würde Marion nicht loslassen, und er würde sich nicht aufhalten lassen. Merkwürdig nur, daß das nicht reichte, obwohl er fest daran glaubte, daß er nur dies tun mußte: nicht loslassen und sich nicht aufhalten lassen. Nur gut, daß Marion federleicht geworden war und dem andrängenden Wasser keinen rudernden, fuchtelnden Widerstand mehr entgegensetzte. Sie hatte in der Aufregung über die Entdeckung am Ufer und bei dem zugegebenermaßen halbherzigen Versuch, Freddi von ihr, die ihre so einfach gewordenen Verhältnisse über den Haufen werfen würde, zu unterrichten, noch einmal kräftig Wasser geschluckt und trieb nun ruhig an seiner Hand hinter ihm drein, auf langgezogenen Wellen dahingleitend, denn sie hatte sich die Liebe immer als ein Wellenreiten vorgestellt, und von tausend Lichtpünktchen träumend, ehe sie in einer endgültigen Ohnmacht unterging, den schimmernden Pünktchen in Freddis Augen.
Von dieser Nacht, von der es keine Zeugen gab, pflegte der Reporter den Kollegen später zu berichten, wenn ihnen von der Warterei flau geworden war und sie genug Schnaps getrunken hatten, um auch einmal etwas Sentimentales zu verdauen. Von der Nacht erzählte er, die er im unerklärlichen Bann der Überschwemmung am Ufer des Rheins verbracht hatte, um das Morgengrauen abzuwarten und den Aufbruch der Zugvögel zu erleben, und die so kalt gewesen war, daß ihm, wie er mehrfach betonte, ›die Eier abfroren‹. Er erzählte, wie er auf geheimnisvolle Weise zum Retter der Kinder auserkoren war, die die Nacht ebenfalls, aber unfreiwillig, im Freien verbracht hatten, auf dem Dach eines der zahllosen überschwemmten Gartenhäuschen oder -schuppen, die das überflutete Ufer des Rheins in eine inselreiche Landschaft verwandelten. Die kleinen Biester hatten sich aber partout nicht retten lassen wollen. Er war ihnen, kaum daß er sie im ersten Morgenlicht entdeckte, auf einem provisorischen Floß entgegengefahren. Aber es waren dumme Kinder gewesen, blöde Kinder. Halb verrückt von der Nacht und der Angst hatten sie sich bei seinem Anblick wie die Lemminge ins Wasser gestürzt und waren ertrunken. Das heißt, den Jungen hätte er um ein Haar noch gerettet, der das ertrunkene Mädchen hinter sich herzog. Aber er hatte sich seinen Rettungsversuchen so hartnäckig widersetzt und war ihm auf eine so aalglatte Weise immer wieder durch die Finger gerutscht, daß es ihm nicht gelungen war, ihn auf das Floß zu ziehen, zumal es schlechterdings unmöglich war, seine Hand aus der des toten Mädchens zu lösen. Er selbst war bei der Auseinandersetzung ins Wasser gestürzt und wegen ernsthafter Unterkühlung ins Krankenhaus gebracht worden, wo man ihm die Pflege angedeihen ließ, die für die Kinder zu spät gekommen war. Eine Suchmannschaft, die, von den von der Nachtschicht und zweifelhaften Vergnügungen heimgekommenen Eltern alarmiert, wenige Minuten später eingetroffen war, hatte die Leichen geborgen und ihn, dem nun ebenfalls der Lebensmut sank, in ihre Obhut genommen.
»Romeo und Julia auf dem Wasser« stellt eine Reaktion auf die spektakulären Überschwemmungen im Frühjahr 1988 dar. Unmittelbarer Auslöser war ein Spaziergang im Naturschutzgebiet des Kühkopfs, von dem ich nur ein winziges Detail berichten will, das für Art und Verlauf der Novelle entscheidend wurde.
Um die Zeit dieses Spaziergangs war das Wasser bereits wieder gefallen, aber etliche Wege waren noch gesperrt. Eine niedrige Kette war an einigen Stellen über den Weg gespannt, die ein Schild trug mit der Aufschrift »Hochwasser – Tiere in Not«. Wir verstanden den Begründungszusammenhang dieses Verbots nicht, und da wir Gummistiefel anhatten, stiegen wir über die Kette und setzten unseren Spaziergang in der Abenddämmerung fort. Einmal brach ein Wildschwein neben uns durch das Unterholz. Ein abgebrochener Deich, der ins Nichts führte, war von Hufen wie von einer Schafherde zertreten, und auf dem Rückweg sahen wir Rotwild anscheinend furchtlos in unserer Nähe äsen. Ein Reh trottete über einen verlassenen Bauernhof. Die Natur schien merkwürdig enthemmt.
Ein Spaziergänger, der aus der Gegend war, klärte uns über den Zusammenhang auf, nachdem er uns wegen der Übertretung zur Rede gestellt hatte. Die Sperren seien nicht im Interesse der Menschen, sondern der Tiere errichtet worden, deren Lebensraum und Überlebenschancen sich durch die Überschwemmung dramatisch verringert hätten. Unter den Augen von Spaziergängern, die hinsichtlich der von ihnen ausgehenden Bedrohung völlig ahnungslos gewesen wären, hätte eine Wildsau sich ins Wasser gestürzt und wäre ersoffen.
Kleinlaut kehrten wir heim. Der Friede, der unter dem Einfluß des hellen Abendhimmels, unter dem die Wasservögel kreisten, und der spiegelnden Wasserflächen in unser Herz Einzug gehalten hatte, war zerstört. Bedrückt fragten wir uns, wen wir mit unserer Schaulust ins Wasser getrieben haben mochten.
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