Ilse Bindseil

Frühe Erzählungen

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Krank (am Herzen)

1

Sie sind ja so mager, sagte er und grub mit den Fingern Höhlen in meinen Bauch.

Ich genoß Freuden einer kurzen, heftigen Vereinigung. Dann war ich draußen.

In der Umkleidekabine öffnete ich noch einmal den Reißverschluß meiner Hose und besah mir die gebuckelte Landschaft unter der Haut. Es war alles ganz weiß und hob sich von dem rauhen Dunkelblau vorteilhaft ab. Hier und da spannte es leicht unter der Bauchdecke. Das waren die Ausläufer der Knoten.

Sie haben eine Kolonie von Tumoren in Ihrem Bauch, hatte der Doktor gesagt.

Hier, sehen Sie, und mit traumwandlerischer Sicherheit hatte er an ganz verschiedene Stellen gefaßt, hier haben sie sich etabliert. Und jeder Tumor schickt neue tumorbildende Zellen in den Körper. Es kann also gar nichts schiefgehen.

Ich hatte eine Weile gezögert.

Aber kann man eine Weile damit leben? hatte ich schließlich gefragt. Er hatte mich überrascht angesehen.

Nein, hatte er gesagt und lebhaft den Kopf geschüttelt, leben kann man damit nicht.

Ich zog den Reißverschluß wieder hoch. Man müßte sich die Produktivität dieser Zellen zunutze machen, dachte ich. Man müßte die eigenen Funktionen über das lebenspendende System der Tumore leiten. So produzieren sie nur ihren eigenen Untergang. Man müßte lernen, mit ihnen zu leben.

Aber das hatte ich dem Doktor nicht gesagt. Er hätte mir sicher nicht zugehört. Und es betraf auch nicht das, was ich von ihm wollte.

2

Auf dem Heimweg, als ich am Parkhotel vorbeikam, verhielt ich meinen Schritt. Auf der anderen Seite lag die Seniorenresidenz für prominente Alte. Mir fiel der Professor aus der Älteren Abteilung ein, ein gesetzter Herr schon damals, der ein begehrliches Auge auf die Jugend geworfen hatte, und sogleich empfand ich schmerzhaft die Versuchung, die von mir ausging. Ich sah zum erleuchteten Hotel hinüber und dachte mir den Professor herbei. Er spähte durch das Fenster der Bar und kam in jugendlicher Eile herausgestürzt, um mich wie zufällig zu begrüßen.

Tatsächlich ist er kaum gealtert.

Nach so langer Zeit darf ich Sie doch als alte Bekannte begrüßen, sagt er und nimmt mich herzlich bei der Hand.

Ich vergesse allen Hohn und Spott, mit dem ich ihn in jungen Jahren drangsaliert habe.

Sie sehen unbeschreiblich elend aus, sagt er und wendet den Blick nicht von meinem Gesicht. Bestimmt sind Sie krank!

In-o-pe-ra-bel, sage ich und lege den Ton auf die fremdländische Vorsilbe (Anovlar hatte ich damals genommen gegen die Babys, und der Professor war Fachmann für Latinismen).

Er legt mir den Arm um die Schulter und drängt mich sanft zum Hoteleingang.

Aber auf eine Tasse Kaffee kommen Sie doch herein, sagt er und schiebt seine Finger ganz sacht unter meine Locken.

3

Ich bin nie eine Theoretikerin gewesen, und mit den Philosophen der alten Schule, die das Leben in blumigen Worten zum Ereignis machen, hatte ich nichts im Sinn. Gewiß war ich die typische Studentin, mit einem Kopf nur zum Frisieren und mit erwartungsvollen Augen, dabei zynisch bis ins Mark, daß es in meiner Gegenwart die anderen fror. Wie habe ich gelacht über die dicken Professoren, die ihre schöne Wissenschaft weggeworfen hätten für meine Jugend! Die Gemütlichkeit ihrer Feste habe ich ihnen verdorben. Sie dachten, daß das Professorale sie verschöne bis in die innersten Kammern ihres nur schlecht ausgebildeten Herzens. Sie konnten ja nicht ahnen, daß der professorale Eros, der von ihnen ausstrahlte und dessen Widerschein sie fasziniert in meinen verblendeten Augen gewahrten, weder auf ihrer Weisheit noch auf ihrem Einkommen, sondern, für mich jedenfalls, auf dem Asketismus des Gelehrten als Berufsattitüde beruhte. Ich liebte die wissenschaftlichen Zusammenkünfte, die unsere Begierden in den Rahmen einer sublimierten Selbstdarstellung bannten, denn ich war im Sublimieren nun mal besser als im Begehren, und ich genoß die verhaltene Erotik dieser Sitzungen voll dürrer Wissenschaft ungleich mehr als die tatendurstigen Vergnügen hinterher, auf die sich alle freuten. Meine Stunde war im Seminar …

4

Als ich, noch immer auf dem Heimweg, die große Straße überquerte, die die Gegend, in der es Parkhotels gab, von jener anderen trennte, in der es keine gab, und die Dunkelheit mich zwischen verödeten Tankstellen und den modernen Mietskasernen, die mit ihrer dunklen, fensterlosen Seite nach der Straße gingen, überfiel, da packte mich wie immer die helle Angst, und hastig stopfte ich alle Reize zurück in den Mantelkragen und lief am unbeleuchteten Minigolfplatz und der Baustelle vorbei bis zu dem kleinen Tabakgeschäft an der Ecke, wo ich atemholend eintrat, um einen Abend zu kaufen. Dann eilte ich heim. Es war mir, als ginge ich nach Hause.

Ich komme wie immer zu spät. Die Familie sitzt schon beim Essen.

Wo bist du gewesen, fragt Vater streng.

Pah, sage ich, ich war mit den andern zusammen. Er schlägt mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch und skandiert:

Ich – wünsche – das – nicht!

Pah, sage ich.

Ich esse wie üblich keinen Bissen. Mutter sagt:

Kannst du nicht wenigstens einen Bissen essen?

Brüderchen beugt sich herüber und stößt mich spaßig in die Rippen. Da siehst du, wie mager du bist, will er sagen. Aber er fährt zurück.

Ist ja eklig, wie du dich anfühlst!

Vater schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.

Du – sollst – deine – Schwester – nicht – anfassen!

Ich kichere.

Das kommt von den Tumoren, sage ich.

5

Ich kicherte auf der Treppe, als ich mir Vaters Gesicht vorstellte. In dem Augenblick ging im Flur die automatische Beleuchtung aus, und ich tappte im Dunkeln. Auf den letzten Stufen hörte ich hinter mir keuchen. Der Hausmeister stapft die Treppe herauf. Er hat ein schweres Bein, und er hat es auf mich abgesehen. Er ist nicht wie die andern: kein schmachtender Blick undsoweiter, sondern ein rascher Griff hierhin und dahin. Ich bin geil wie nur was, aber das kann ich nicht vertragen. Wenn er klingelt stellt er schon das Bein in die Tür. Aber ich habe die Kette vorgelegt. Ist schon gut, Herr Quandt, sage ich und nehme mit spitzen Fingern den Zettel entgegen, während er mit seinem schweren Bein probiert, ob ich die Kette vorgelegt habe oder nicht. Maulend zieht er den Fuß zurück, und zittrig verschließe ich die Tür.

Diesmal hatte er mich auf der Treppe erwischt. Ich beschleunigte meinen Schritt. Gleichzeitig suchte ich in der Handtasche nach dem Schlüssel. Oben angekommen stürzte ich, da ich den Fuß in Erwartung weiterer Stufen hochgehoben hatte, mit Gepolter auf dem Treppenabsatz hin. Die Nachbarin öffnete erschrocken die Tür.

Mein Gott, rief sie besorgt, was machen Sie aber auch so im Dunkeln! Haben Sie sich etwa verletzt?

Keine Spur! dröhnte ich und rappelte mich hoch.

Warten Sie, sagte ich immer noch eine Spur zu laut, ich wollte Ihnen etwas geben.

Geräuschvoll öffnete ich die Tür und schaltete im Flur das Licht ein, dabei fortwährend mit der Nachbarin schwatzend.

Ich hatte Ihnen doch einen Ableger von meiner Agave versprochen, rief ich aus dem Schlafzimmer. Ich habe ihn schon für sie ausgepflanzt!

Kommen Sie nur, kommen Sie nur! rief ich von hinten.

Sie kam, und wir sprachen einen Moment über die Blumen. Dann ging sie, in einer Hand sorgsam das Töpfchen mit den Ablegern haltend, und wünschte mir eine gute Nacht.

6

Ich hatte die Wohnung erobert.

Sie war bildschön, kühl, behaglich, mit hellen Möbeln; eine Oase für Schwerarbeiter, ein Refugium für jemanden, der es wirklich verdiente.

Ich machte einen Bogen um das Bett und trat ans Fenster. Die Eckkneipe gegenüber war hellerleuchtet. Sie saßen zu Grüppchen an den Tischen und lachten. Ich wußte, ich war viel schöner als irgendeine von ihnen. Eine Zierde jedes Straßencafés. Ein richtiges Luder.

Ich richtete alle Gedanken auf den Doktor.

Kommen Sie wieder, wenn Sie Schmerzen haben, hatte er gesagt. Ansonsten schonen Sie sich, und genießen Sie das Leben!

Ich sah gespannt nach der Tür.

Er kommt herein, abgespannt, mit Tränensäcken unter den Augen, im durchschwitzten weißen Hemd. Er steht in der Tür, müde, resigniert, wie einer, der nicht viel Aufwand machen kann, so als wollte er sagen, da bin ich.

Ich nehme den Stier bei den Hörnern. Da bist du ja, sage ich einfach.

Er löst sich von der Tür und kommt mir entgegen.

7

Ich holte das elegante kleine Köfferchen vom Hängeboden.

Es war noch beileibe nicht acht, als ich das Haus verließ, und ich hätte mich nicht fürchten müssen. Aber ich fürchtete mich doch, speziell auf dem dunklen Stück zwischen U-Bahn und Klinik im Vorstadtgelände. Ich atmete erst auf, als ich den Vorraum der Ersten Hilfe betrat. Und als sich ein junger Arzt mit einem großen Formular zu mir setzte und mir einen Haufen Fragen zu meiner Person und meiner Krankengeschichte stellte, wurde mir richtig wohl.

Später, als ich es mir im hinteren Flur auf dem Notbett bequem gemacht hatte, ließ ich mir die Szene noch einmal durch den Kopf gehen.

Und aus welchem konkreten Grund kommen Sie jetzt? hatte der junge Arzt schließlich gefragt, nachdem er das Geschriebene noch einmal überlesen hatte, sichtlich beeindruckt von der Schwere des Falls.

Ich habe Schmerzen, hatte ich gesagt, und dabei war mir gewesen, als müßte ich sagen:

Ich kann ohne Sie nicht leben.

8

Ich war viel krank gewesen in der letzten Zeit, nichts Besonderes, hier ein häßlicher Ausschlag, da ein gemeines kleines Fieber, ein tückisches Jucken unter der Haut – aber mit unguten Folgen für meinen schönen Gleichmut und für meinen schönen Körper, die Basis meiner Lebensfreude. Dann räumte das Übel den vordersten Posten und zog sich ganz nach innen zurück. Ich fühlte mich wieder gesund und wippte bei jedem Schritt bis in die Zehenspitzen. Was mir im Bauch wuchs, ängstigte mich nicht. Es war für mich eher wie ein Kind, ein Schwerpunkt, ein ruhender Pol für meine wippenden Glieder. Ohne Zweifel hatte meine Empfindsamkeit für die inneren Abläufe des Körpers sich erhöht. Ich hatte so etwas wie einen Blick für die Topographie unter der Haut bekommen und interessierte mich seitdem weniger für den Spiegel.

9

Merkwürdig, ich hatte bis zum Ende keine Schmerzen. Das mag mir als Beschönigung ausgelegt werden, als billiger Trost für meine Leidensgenossen; denn schließlich weiß doch jeder, wie weh es tut. Aber ich kann versichern, ich spürte wenig. Schmerz empfindet man nur, wenn man ihm unterliegt, und ich war weit davon entfernt. Im Gegenteil, ich war von einer nie gekannten Lebendigkeit erfüllt, einer geradezu unvorstellbaren Intensität des Gefühls. Die Schmerzen gaben dabei nur die Höhenlage der Gefühle an. Was sich auf der jeweiligen Ebene entfaltete, war ein Schatz von ureigener, kostbarer Phantasie.

10

Sie behielten mich bis zum Schluß, und ich wanderte vom Notbett im hinteren Flur der Ambulanz hinauf auf die Station mit den hellen Zimmern und den weißen Betten. Bald schlug mein Herz im Takt mit dem Rhythmus des Krankenhaustags.

Ich liebte alles an diesem Krankenhaus. Vor allem liebte ich mein weißes Bett und die Phasen der Erneuerung, die frisch gespannten Laken und die aufgeschüttelten Kissen, mit jenem unvermeidlichen frischen Lüftchen unter der Zudecke, das sie sekundenlang von meinem Bauch abhob. Unvergleichlich die Kühle, wenn die Nachtschwester morgens nach dem Waschen das Fenster öffnete! Schauernd rieb ich mich an dem groben Leinen, und die aufflammenden Reihen der Gänsehaut verrieten mir den edlen Verlauf meines zu völliger Blässe abgemagerten Körpers. Ich mochte den Duft der Lösung, mit der mich die Nachtschwester abrieb. Schnuppernd steckte ich die Nase unter die Decke und sank, überwältigt von der neugewonnenen Wärme, meist zum ersten Mal nach durchwachter Nacht in einen erholsamen Schlaf mit hellen Träumen. Wenn ich dann um sieben geweckt wurde, lachte ich die Schwestern aus der Fülle meiner Traumbilder an, und da sie gern mit jedem lachten, der fröhlich war, blieben sie oft noch bei meinem Bett stehen und lachten mit mir.

Ich fürchtete mich vor nichts. Kein Tag war mir schrecklicher als der andere, nicht einmal der Sonntag, an dem ich in langen Sequenzen von der Chefvisite träumte, die der Montag bringen würde. Ebenso gut wie eine Schwester unterschied ich die Schmutz- und Sauberkeitszonen jedes Tages. Ich erbrach mich nach dem Essen, wenn die Ärzte und Schwestern zu Tisch waren. Ich erleichterte mich unter Qualen, aber nie zur Unzeit und immer so, daß die feste Unterlage über dem Gummi gewechselt und das Zimmer frisch gelüftet war, wenn zufällig ein Arzt vorbeischaute. Wenn aber Mittag vorbei war und die schlecht betreuten Stunden eines langen Nachmittags, der von diesem nur unzureichend unterschiedene Abend und die um vieles längere Nacht sich vor mir erstreckten, dann seufzte ich erleichtert wie einer, der nach einer beträchtlichen Anstrengung in den gemütlichen Teil des Tages eintritt, und ich gestattete mir ab und zu sogar ein kleines Jammern, weniger vor Schmerzen als aus einem Wohlgefühl heraus und um die Entspannung zu genießen. Ohnehin verringerten sich gegen Ende die Abstände, innerhalb derer ich ärztlicher Hilfe bedurfte, ganz abgesehen davon, daß die Schwestern pausenlos beschäftigt waren, die zahlreichen Schläuche umzustöpseln, zwischen denen ich wie zwischen den gleitenden Lianen des Urwalds hing. Immer häufiger geschah es auch, daß, noch bevor ich Zeit gehabt hatte, ein Bedürfnis nach Hilfe zu empfinden, einer der besorgten jungen Ärzte an mein Bett trat und ein zusätzliches Mittel durch die Kanüle spritzte, an der die Dauerinfusion hing, oder mit einem behutsamen, ich muß Ihnen jetzt ein bißchen wehtun, aus dem freien Arm Blut entnahm; denn der andere sollte geschont werden. Ich liebte sie um ihres zarten Umgangs willen und ihrer umsichtig planenden Vernunft. Ich liebte sie, wenn sie sich mit meinen verstopften Adern plagten, und half ihnen nach Kräften, wenn sie sich zu erinnern versuchten, wo es das letzte Mal denn noch gegangen war. Nur erinnerte ich mich meist selbst nicht mehr. Einträchtig beugten wir die Köpfe über meine ausgemergelten Hände und suchten mit detektivischem Spürsinn und mit einer Erregung, die nicht nur vom Spurensuchen kam, nach einer günstigen Vene.

Es war bei einer dieser Gelegenheiten, daß ich aus meinen federleichten Träumen auftauchte und die schweren Schritte unterschied, an denen ich den Oberarzt erkannte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals; denn ich liebte schwere Männer nun mal mehr als schmächtige, und ich hatte soeben einen Traum voll süßer Befriedigung geträumt. Ich dachte, jetzt ist es soweit, als ich gleich darauf wirklich seine Stimme hörte, wie sie sagte, alle Schläuche raus, und dann war ich tot.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt27.html.

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