Ilse Bindseil

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Schön schwul

Meine inneren Beweggründe kann ich nicht nennen. Aber von meinem Äußeren kann ich einen Eindruck vermitteln. Ich bin männlichen Geschlechts. Das ist in diesem Fall wichtig, obwohl ich niemandem zu nahe treten will. Ich bin männlichen Geschlechts, leider rothaarig oder eher blond; jedenfalls ist viel Rot in meinem Gesicht, und ich weiß nicht genau, ob es mehr von meinen Backen oder von meinen Haaren kommt. Denke keiner, daß ich optimistisch bin! Das ist ja das Peinliche, daß ich den Ausdruck nur so mit mir herumschleppe. Ich sehe zwar optimistisch aus, aber innerlich bin ich ängstlich. Ich gerate leicht in Panik. Aber ich weiß nicht, warum.

Ich habe einen Bauch, der in schreiendem Gegensatz zu meinem Lebensgefühl steht, aber den lächerlich optimistischen Ausdruck, den ich mit mir herumschleppe, unangenehm unterstreicht. Ich trage gern karierte Hemden, genauer gesagt, gewürfelte, angeraut, von einem warmen Rot, und bei meinen Pullovern ziehe ich Rhomben vor. Ich mag das Kleingemusterte gern, das Ausgefüllte. Ich mag den angerauten Stoff und wenn die Ärmel Falten werfen. Ich mag das, wenn sie plustrig sind. Nicht zu vergessen, daß der Bartwuchs kräftig ist, aber der Bart ist rötlichblond, und die Backen sind erschreckend rot. Blaurot. Immer wie gefroren. Dazu das starre Blond.

In völligem Widerspruch zu meiner äußeren Gestalt gehe ich leidenschaftlich gern spazieren. Ich denke immer, daß ich auf der Suche bin. Ich bin ein Suchender. Das ist ein geschmackloses Wort, ich weiß. Es stammt aus meiner Kinderzeit. Da habe ich es aufgeschnappt. Ich hätte nie gedacht, daß ich es jemals auf mich selbst anwenden könnte. Ich hätte nie geglaubt, daß es mit meiner behäbigen Figur vereinbar wäre. Keinen schreienderen Gegensatz kenne ich als den zwischen diesem Wort und meinen roten Backen. Da gehe ich mit einem Gesicht herum, als käme ich vom Geburtstag meiner Schwiegermutter und hätte in der überhitzten Stube einen Schnaps zuviel getrunken. Und trotzdem bin ich ein Suchender. Ja, das bin ich. Vermutlich weiß niemand so genau, was das eigentlich heißt.

Wenn ich spazieren gehe, bleibe ich vor jedem Schaufenster stehen. Ich staune über meine Figur. Ich entsetze mich über meine roten Haare und meinen Bauch. Glaubt mir jemand, wenn ich sage, daß ich sogar das Flackern in meinen Augen erkenne? Man wird meinen, dies sei das gewisse Aufleuchten, die unwillkürliche Freude, wenn man sich selbst im Spiegel begegnet. Aber das ist es nicht. Ich kenne das Flackern genau. Es ist der Grund, warum ich die Augen niederschlage, wenn ich an den Leuten vorbeigehe, besonders an Fremden. Auch auf die Gefahr, als Feigling dazustehen: Ich schlage lieber die Augen nieder, als daß ich mich niederschlagen lasse. Kann man sich vorstellen, was ich mit dem Flackern meine?

Ich muß noch etwas zu meinem Äußeren sagen, was ich ebensogut verschweigen könnte, da man es nicht sieht. Aber Ehrlichkeit geht vor. Ich habe eine starke Brust. Ich meine, beinahe ist es schon ein Busen. Ich bin eben obenherum ein bißchen weich gepolstert. Und die Haut ist weiß. Schön weiß. Man sagt, das kommt vom Fettgewebe unter der Haut. Vom Unterhautfettgewebe, ich weiß.

Die Schultern sind gemein. Es kränkt mich, daß man kein Schlüsselbein sieht, kein magisches Dreieck. Das kränkt mich mehr als die Brust. Ein Mann kann einen Busen haben, wenn er nur gerade Schultern hat. Meine sind rund, und der Nacken reicht hinauf bis unter die Haare. Das ist nicht bei jedem so, nein. Aber bei mir ist er hochgewölbt bis zu den Ohren. Ein Stiernacken, jawohl.

Ich bin jovial und schüchtern. Ja, das ist es, schüchtern und jovial! Wenn ich mir ordentlich Mühe gebe, mich zurückzuerinnern, dann weiß ich, daß es solche Leute wie mich immer gegeben hat, und ich habe weich gesessen auf ihrem Schoß. Es war nicht unangenehm, im Gegenteil. Sie waren gutmütig und Herr der Lage. Hätte ich geahnt, daß ich ihnen nachschlagen könnte, physisch, und doch ganz anders herauskommen würde! Aber ich habe es nicht geahnt. Ich habe mich bei ihnen angelehnt und das Polster im Rücken genossen. Ich habe die dicken kurzen Beine unter mir studiert und gedacht: Na, wenn es sie nicht stört! Zu meinen eigenen Beinen habe ich kein Verhältnis. Was unterhalb des Nabels liegt, ist Terra incognita, ein schwarzer Planet. Wenn nur die weiße Haut nicht wäre. Der Gedanke einer möglichen Pigmentstörung ist mir ausgesprochen angenehm, aber ich habe ihn nicht weiterverfolgt. Dabei wäre es tröstlich, wenn es eine Pigmentstörung wäre. Das Wort ist dunkel, und man könnte darüber reden. Aber ich habe Bedenken, einen Fachmann zu fragen, einen Experten. Ehrlich gesagt fürchte ich mich vor seinem Gelächter. Ich sage mir, die Haut ist weiß, aber die Backen sind rot, pfui Teufel!

Ich möchte auch, daß man mich sozial einordnen kann. Das ist mir immer wichtig. Deshalb erkläre ich feierlich, daß ich nicht auf dem Land lebe. Keineswegs gehe ich auf der Dorfstraße oder zwischen den Bauerngärten spazieren. Bitte, das möchte man im Auge behalten, daß die Hauptstraßen einer der bedeutendsten Städte der westlichen Welt mein Revier sind. Die Großstadt veranlaßt mich zu Verhaltensweisen, die mir fremd oder die mir, sagen wir, jedenfalls nicht auf den Leib geschneidert sind. Habe ich schon gesagt, daß ich Strickjacken mag? Ich bin ein häuslicher Typ, wenn ich auch nicht Pfeife rauche und im Zwischenfenster keine Küchenkräuter ziehe. Aber eine einzelne Geranie pflege ich, und ich liebe meine Musik, auch wenn ich es ebensogern still habe, ganz still. Ach, ich könnte soviel erzählen!

Ich habe ihn am hellichten Morgen kennengelernt, sonntags, so gegen halb zehn. Er stand am Kiosk, da wo sonst immer die Säufer stehen, aber für die war es noch zu früh, und er war allein. Das heißt, eine Frau war noch dabei, die ich vom Sehen kenne. Sonst steckte sie immer in dem Pulk von Unrasierten, Einbeinigen und Krüppeln, halb zugedeckt von den Obdachlosen und Pennern. Heute war sie allein. Ich sah gleich, daß sie nicht zusammengehörten, und einen Moment fühlte ich mich zu der Frau hingezogen, so hingezogen, ich kann gar nicht sagen, wie mir war. Sie war eine couragierte kleine Person, wirklich klein, regelrecht winzig. Sie mußte den Kopf recken, um einen Blick auf das Gesicht der Kioskfrau hinter den Kaugummischachteln zu erhaschen. Mein Frühstück, bitte, sagte sie mit einer Würde, um die ich sie beneidete, und die Kioskfrau reichte ihr das Frühstück, einen Flachmann mit schönem gelbem Weinbrand und, weil es morgens schon heiß war, ein Bier. Die kleine Frau nahm ihr Frühstück in Empfang, verkrümelte sich aber keineswegs mit den Flaschen, sondern rückte nur höchstens einen Viertelmeter weiter, gerade so, daß sie den Zugang zum Guckloch der Kioskfrau nicht versperrte, nahm den nur lose draufgesetzten Kronenkorken von der Bierflasche ab, tat einen tiefen Zug und machte sich daran, die Titelseiten der Boulevardblätter zu studieren, wobei sie gedankenlos am goldenen Verschluß der Kognakflasche schraubte. Ich zerrte an meiner Strickjacke und wollte schon auf sie zugehen, da sah ich ihn.

Auf den ersten Blick fand ich ihn gar nicht toll, und ich kann nur wiederholen, daß mich alles zu der Frau mit ihrem Flachmann zog. Mit ihr hätte ich gehen mögen, obwohl ich Alkoholikerinnen nicht mag. Sie hätte mich beschützt, dabei bin ich beinahe doppelt so groß und so kräftig wie sie – obschon: sie war auch ganz schön kräftig, irgendwie. Ich wollte also eben an den Kiosk treten, um eine Zeitung zu kaufen und sie auch auf die Gefahr, selbst für einen Penner gehalten zu werden, neben der bezaubernden kleinen Frau mit ihrem Flachmann durchzublättern, da sah ich ihn. Genauer gesagt ertappte ich ihn dabei, wie er versuchte, sich eine Zigarette zu drehen. Seine Ungeschicklichkeit ergriff mich im Innersten nun keineswegs meines Herzens, sondern wenn ich eine Frau wäre, würde ich sagen irgendwo bei den Eierstöcken, und mit einer energischen Bewegung nahm ich ihm das unglückselige Häufchen aus Zigarettenpapier und Tabakkrümeln aus der Hand, strich rasch über das Papier, ohne die Krümchen unter seinem ängstlichen Blick hinunterfallen zu lassen, und gab ihm die Zigarette zurück, damit er das Papier anleckte. Denn das mache ich nicht, für andere Papier anlecken. Er nahm mir das Röllchen mit immer noch zittrigen Fingern aus der Hand, hob es an den Mund und leckte den Papierrand mit seiner unverschämt breiten Zunge der Länge nach an, wobei er mir im Lecken und sozusagen mit herausgestreckter breiter Zunge einen Blick zuwarf, daß ich vollends aus dem Häuschen geriet. Es war ein unverschämter und zugleich humoristischer Blick, so als hätte ich mit den Fingern gezittert und er mir geholfen, so als leckte er die Zigarette für mich und gäbe sie mir zurück; was natürlich nicht stimmte, denn es war seine, und er war gierig wie ich weiß nicht was. Ich hatte die Frau mit ihrem Flachmann vergessen.

Es war dann weiter nichts. Ich bin kein Draufgänger, und ich sage ja, ich hätte ebensogut mit der Frau gehen können. Noch heute denke ich an sie mit einer Art Sehnsucht, obwohl gerade Sehnsucht das ist, was ich immer vermieden habe. Ich habe immer den größten Wert darauf gelegt, daß der Gegenstand meiner Sehnsucht mein Zuhause ist, mein Zuhause, meine Geranie, meine Musik! Wie Sie den Besen handhaben, sagt meine Nachbarin, wenn ich den Treppenabsatz fege, und dann mache ich die Tür hinter mir zu. Es ist mein Zuhause, und es gibt keinen Grund, unordentlich zu sein oder die Tür offenzulassen. Aber an die kleine Frau habe ich gedacht. Selbst zu Hause, hinterher, habe ich noch an sie gedacht, und deshalb denke ich, es ist Sehnsucht gewesen.

Wie gesagt, es war dann weiter nichts. Ich habe mich auch nicht aufgehalten, sondern bin über den Platz hinter dem Kiosk stolziert, obwohl ich da gar nichts verloren hatte, immer den unverschämten, humoristischen Blick im Nacken und die breite Zunge im Rücken. Ich erröte bei der Formulierung, aber genauso war es: den lachenden Blick im Nacken und die breite Zunge im Rücken.

Ich bin also über den Platz spaziert, und da ich dort überhaupt nichts verloren hatte, bin ich an seinem Ende, kurz vor der Kirche, umgedreht und denselben Weg zurückgegangen. So gelangte ich unweigerlich wieder an den Kiosk. Die Frau war nicht mehr da, dafür trat er mir sogleich in den Weg. Das heißt, in Wirklichkeit rührte er sich nicht von der Stelle. Aber er streckte mir sein Tabakpäckchen hin. Sein Arm war wie ein Schlagbaum, lang und rund, und sein Gesicht lachte, also wirklich, das lachte und lachte! Ich fing an zu schwitzen. Was wollte er von mir? Sollte ich ihm noch eine Zigarette drehen, wo er doch zittrige Finger hatte – aber, weiß Gott, alles andere an ihm zitterte nicht! –, oder bot er mir bloß seinen Tabak an, damit ich mich bediente? Gern hätte ich einen Holzarm gehabt, einen künstlichen Greifer. Ich hätte ihn ausgefahren und ihn das Päckchen greifen lassen. Vorsichtig nahm ich es ihm aus der Hand, trat etwas näher zum Kiosk, damit ich es auf den schmalen Rand, der außen herumlief, ablegen und meine Hände, die nun ihrerseits zitterten, darauf abstützen konnte, und drehte ein recht krumpeliges Ding. Es ging langsam, oh, so langsam, weil ich immer an das Ende denken mußte. Mit blutübergossenem Gesicht hob ich die verdammte Zigarette schließlich an die Lippen, schob meine hübsche spitze Zunge – die ich jeden Morgen auf ihren Belag hin prüfe –, schob also meine trockene Zunge heraus und leckte mühsam das klebrige Papier. Mit bebenden Händen reichte ich ihm diese absolut klägliche Ausgabe einer selbstgedrehten Zigarette hinüber, aber er schüttelte lachend den Kopf. Er rauchte ja noch an dem Exemplar, das ich ihm auf dem Hinweg gedreht hatte. Es sah, obwohl kaum mehr als ein größeres Stummelchen, immer noch ansehnlich aus, wie ein Werkstück aus meiner guten, bürgerlichen Zeit.

Von da an kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich habe die Zigarette angezündet. Er gab mir Feuer. Ich spüre noch das trockene Gefummel in meinem Mund und wie ich den Kopf zum ihm herüber- bzw. hinunterbeuge; denn er war irgendwie winzig, unbeschreiblich klein. Aber wie ich nach Hause kam, das heißt, wie wir nach Hause gekommen sind, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich, der ich doch so penibel bin, was meinen Haushalt, meine vier Wände betrifft, ich kann mich nicht erinnern! Hat uns etwa jemand gesehen? Ist man sich auf der Treppe begegnet? Es kommt mir vor, als steckte jemand den Kopf durch die Tür. Aber wer und wo, mir sagt das alles nichts. Aufgewacht, wenn ich so sagen darf, bin ich erst auf der Küchencouch. Ich langsames Vieh bin immer noch auf dem Sofa gelegen, während er schon längst am Tisch saß, die nackten Ellbogen mit den hochgeschobenen Ärmeln aufgestützt, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Lippen. Hastig sprang ich auf, stopfte alles zurück in die Hose, warf einen scharfen Blick hinüber zu meiner Geranie – war mir doch kurz vor meiner Ohnmacht gewesen, als hörte ich etwas scheppern. Aber sie stand wie immer, starr und geduldig. Nur hinter dem Küchentisch, das heißt vor ihm, auf der anderen Seite also, halb neben dem Schrank, lagen die Scherben meiner Frühstückstasse. Der Anblick gab mir einen Stich. War es zu einem Kampf gekommen? Zu dumm, daß ich mich nicht erinnerte. Mich nach den Scherben zu bücken war ich zu stolz, und der Gedanke an die Tasse war mir schmerzlich. Vergeblich schluckte ich die Empörung hinunter. Ich war gekränkt, wandte mich ab und stocherte in der elektrischen Kaffeemühle herum. Er fand die Idee, Kaffee zu kochen, hervorragend. Ich machte zähneknirschend Kaffee.

Es ist jetzt an der Zeit, daß ich etwas nachtrage, damit es mir später nicht als Heuchelei ausgelegt wird. Es war natürlich nicht das erste Mal, und trotzdem hat es mich aus den Angeln gehoben. Wäre das letztere nicht der Fall, ich würde die Geschichte nicht erzählen. Und zu ersterem nur soviel, denn der Sachverhalt ist denkbar einfach: Ich habe die Männer nie gesucht, und ich habe auch nie etwas in die Wege geleitet, aber es ist mir mehrfach passiert. Noch nie aber hat es so angefangen wie diesmal, so werbend, so humoristisch und voller Gelächter. Ich dachte ja damals noch nicht viel. Heute bin ich mehr aufs Überlegen aus und interessiere mich für die Gründe. Ich bin wohl dünnhäutiger geworden, obwohl gerade das eine meiner Haupterinnerungen ist, daß ich immer dünnhäutig war. Aber heute forsche ich nach den Gründen. Ich bohre in meiner Erinnerung. Ich gebe nicht nach. Vor allem versuche ich mich an bestimmte Situationen zu erinnern, die mir unerträglich sind, und versuche für diese Situationen Gründe zu finden, wahre Gründe, wirkliche Gründe, Gründe, die so wahr sind, daß ich lachen muß, auch wenn ich lieber weinen möchte. Freilich ist da viel schwarz in meiner Erinnerung, und ich habe es schwer, Situationen für meine Gründe zu finden. Aber eine dieser Situationen ist die am Kiosk, und eine der am meisten begründungsbedürftigsten Tatsachen ist sein Gelächter. Kann man sich vorstellen, was es für mich bedeutete, daß dieses Gelächter kein Angriff war, kein Affront, sondern im Gegenteil eine Parteinahme, und zwar die gutmütigste Parteinahme von der Welt?

Er hatte keine schwarzen Locken, partout nicht, obwohl die Vorstellung schwarzer Locken mich seitdem verfolgt. Ich bin kein Pasolini, und er hatte keine schwarzen Locken. Er hatte ein häßliches Großstadtgesicht, schmal, hohl, aber nicht edel, sondern ohrfeigenmäßig hohl, und dazu die unvermeidlichen Strähnen. Schön war er wirklich nicht. Aber ihm war das egal. Für ihn galt die Kategorie der Schönheit nicht. Ich habe ihn nie bei einem Blick in den Spiegel ertappt, und wenn er gelegentlich doch hineinschaute, dann höchstens um zu prüfen, ob der Blick auch frech genug war. Nicht einmal verstohlen fuhr er sich vor der Schaufensterscheibe durch die Haare. Schönheitsgesichtspunkte waren bei ihm für die anderen reserviert. Da sparte er nicht mit Blicken und Bemerkungen, auch wenn ich zugeben muß, daß er sich nicht an den Regeln orientierte. Meinen Bauch fand er schön. Er streichelte ihn lachend, spöttisch, zärtlich. Kein Wunder, er selbst war ja auch mager wie ein Hering. Meine schwachen Stellen kannte er alle, inklusive das blonde Gekräusel im Nacken und die Poren in der dicken weißen Haut. Er kannte auch meine Ruhebedürfnisse, meine Rückzugsbedürfnisse, mein Bedürfnis, allein zu sein und immer alles am selben Fleck zu haben. Über die zerbrochene Tasse konnte er nur lachen. Aber mit meinem Bauch, dem struppigen Gekräusel im Nacken wollte er mich versöhnen. Da fand er mich hart, ungerecht mir selbst gegenüber. Komisch, daß er das alles so ganz anders sah als ich, geradezu umgekehrt. Aber damals wunderte ich mich nicht. Ich war einfach grenzenlos erleichtert. Wer weiß, vielleicht war das alles gar nicht so schlimm. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, daß ich bei jeder Gelegenheit errötete. Vielleicht hätte ich mich meines Bauches nicht zu schämen brauchen. Vielleicht war es nicht so schlimm, daß ich blond war, rotblond. Vielleicht war das eine Farbe wie jede andere. Und meine Brust, ja, meine Brust, du lieber Himmel, vielleicht war das gar nicht so schlimm!

Es kommt mir vor, als müßte ich damals im siebten Himmel gewesen sein, so befreit war ich von mir selbst, meinen Lasten, dem ganzen Kram. Tatsächlich war ich bloß entsetzlich verwirrt. Glücklich bin ich heute, wo ich alles begreife. Ich unterdrücke ein Lächeln – das passiert mir immer noch, daß ich ein Lächeln unterdrücke, aber ich unterdrücke kein Urteil –, und mir wird schon wieder heiß; denn das sehe ich natürlich, daß es so aussehen könnte, als wäre ich bloß erleichtert, weil ich ihn los bin. Aber ich fürchte nicht den Schein. Ausgerechnet ich, der ich keinen Schritt gehen konnte, ohne mich in der Schaufensterscheibe zu spiegeln, ich fürchte nicht den Schein! Natürlich könnte es so aussehen, als wäre ich glücklich, weil ich ihn los bin. Aber was macht das schon? Weiß ich es nicht besser? Obwohl ich mir da gar nicht sicher bin. Na und? Ich bin erleichtert, und ich kenne den Schein. Außerdem bin ich mit Nachdenken beschäftigt, und ich lasse mich durch nichts mehr stören.

Ich denke nicht chronologisch, das interessiert mich nicht, und ich kann mich nur schlecht erinnern. Wie ich ihn damals losgeworden bin, wie viele Tassen Kaffee er getrunken hat, ob er mich angepumpt hat und wann er gegangen ist, das weiß ich alles nicht. Aber er kam wieder. Natürlich. Obwohl er nie blieb und niemals ein solches Ansinnen stellte. Im Gegenteil, er legte Wert, nun kann man nicht sagen auf seine Intimsphäre – denn ich glaube, er hatte gar kein Zuhause –, aber auf seine Anonymität. Er machte mich auch mit niemandem bekannt. Er zog mich nie in etwas hinein. Er tauchte vielmehr sang- und klanglos bei mir auf, machte sich in meiner Häuslichkeit breit, ließ sich bedienen, die Füße auf dem Tisch, so daß ich ganz zittrig wurde vor Entrüstung und nach der Tür schielte in dem irrsinnigen Wunsch, meinerseits zu gehen, wenn er schon nicht ging; denn er ließ sich nicht rausschmeißen. Er merkte, wie ich ins Schwitzen kam. Genaugenommen legte er es vielleicht darauf an. Wenn ich die Balance innerlich schon längst verloren hatte, innerlich schon längst hinausgerannt war, dann kam er, nahm mich um die Schultern, führte mich, auch wenn ich mich weiter gar nicht entfernt hatte, umständlich zurück, bugsierte mich hinter den Küchentisch, schob mich aufs Sofa und begann mir das vor lauter Aufregung längst gebrochene Rückgrat zu massieren, mir den innerlich ächzenden Bauch zu streicheln, in den verklebten Locken meiner Nackenhaare Ordnung zu schaffen, so lange, bis ich auch innerlich nicht mehr davonlaufen wollte und auf nichts mehr neugierig war als darauf, was seine geschickten Finger aus mir machten. Er war ein Genie, ein Zauberer, eine wirkliche Größe, auch wenn ich zugeben muß, eigentlich löste er nichts auf, was in der enervierenden Atmosphäre seiner quälenden und mich bis zu Fluchtgedanken treibenden Gegenwart nicht längst dahingeschmolzen war. Eigentlich kehrte er nur das Häufchen Unglück zusammen, für das er höchstpersönlich die Verantwortung trug. Eigentlich riß er nichts ein, sondern setzte lediglich wieder zusammen, und ich hatte auch jedesmal das Gefühl, neu zusammengesetzt zu werden, nach einem anderen, unglaublich angenehmen, unglaubliche Wohligkeit erzeugenden Konstruktionsprinzip zusammengesetzt zu werden. Nur mußte ich leider feststellen, daß dieses Gefühl gemeinsam mit seinen Fingern wieder verschwand. Da war er wohl wirklich ein Zauberer, daß er das Behagen, das er in mir wachgerufen hatte, immer wieder aus mir herauszog.

Ich will nicht sagen, daß mir der Gedanke an Rebellion gänzlich fremd gewesen wäre. Aber klar war mir meine geradezu physische Abhängigkeit nicht. Obwohl ich mir bis heute nicht sicher bin, wie herum die Sache sich verhielt und ob er mich erst in eine Notlage brachte, nur um mir dann triumphierend aus ihr herauszuhelfen. Freilich hätte ich mich zu seinem Triumph und meiner allerdings alle Grenzen sprengenden glücklichen Niederlage nie bereitgefunden, ohne vorher in diese Notlage gebracht und im Wortsinn weichgeklopft worden zu sein. War es nicht sein gutes Recht, mich vorher zu piesacken, wenn er mich hinterher glücklich machte? Was konnte er dafür, daß ich zu meinem Glück gezwungen werden mußte! Und er zwang mich. Wie ein Huhn trippelte ich zur Tür, wenn ich das wohlbekannte Klingelzeichen hörte, rannte schnaufend in die Küche, um Kaffee zu kochen, schielte schon wieder nach der Tür, wenn die Füße sich in wohlbekannter Manier auf dem Küchentisch niederließen, schielte weiter, wenn ich sah, wie der Kaffee verschwand und die Küche sich von seinem billigen Tabak verstänkerte, wurde überhaupt zittrig und flattrig in dem Maß, in dem die Behaglichkeit meines Gastes wuchs, flatterte schließlich nur noch zwischen Möbeln und Tür, so als wollte ich jene prüfen, ob sie noch da waren, und an dieser rütteln, ob sie sich öffnen ließe, und war dann allmählich so weit und so zugerichtet, daß er, der große Magier, der ungewaschene, stinkige Großstadtlümmel, sich aus meinem Sessel erheben und mich von dem imaginären Ausgang und Ausweg, dem ich beständig zustrebte, weg auf das weiche Polster meines Küchensofas bugsieren konnte. Nein, nichts begriff ich damals, gar nichts.

Wenn ich bedenke, wieviel weiter ich heute bin! Manchmal gelingt es mir sogar, Licht in ein vollständiges Dunkel zu bringen. Ich sehe Dinge, die habe ich noch nie gesehen; denn damals, gestehe ich, machte ich die Augen öfters zu, und das hatte auch sein Gutes. Als unschuldiges Kind ging ich aus mancher unerfreulichen Szene hervor, und das nur, weil ich im rechten Augenblick die Augen zumachte. Kein Wunder, wenn ich mich nur mit Mühe erinnere. Jetzt, wie gesagt, erinnere ich mich manchmal an Dinge, die habe ich nie gesehen, und sie sind beileibe nicht immer schön. Da liege ich zum Beispiel auf dem Küchensofa, zusammengerollt, die Augen fest geschlossen. Und er? Er bringt mich dazu, daß ich mich entrolle. Hastig mache ich die Augen zu, aber ich sehe es nur um so deutlicher: wie er mich zum Entrollen bringt.

Wenn mich ein Psychologe fragte, warum ich einen Bauch habe, ich könnte es ihm gleich in der ersten Sitzung erzählen. Ich habe einen Bauch, damit ich das nicht sehen muß, und dabei denke ich immer an das Sofa. Warum habe ich ihn rangelassen, frage ich mich, wo ich mir doch eigens einen Bauch angeschafft habe, damit ich das nicht sehen muß? Warum habe ich ihn rangelassen, wo ich mich doch selber nicht ranlasse?

Ich habe nie einen großen Unterschied gemacht zwischen oben und unten, zwischen dem da und dem Rest. Ich habe mich immer an das Nächstliegende gehalten, und das war das, was ich in der Schaufensterscheibe zu sehen bekam. Für mich kann ich mich verbürgen, daß ich das nie mitgemacht habe, diese Konzentration auf den einen Punkt, und meine ganz persönliche Ansicht geht dahin, daß meine Anhänglichkeit an diesen seltsamen Menschen genau da herrührt, daß auch er diese merkwürdige Konzentration nicht mitgemacht hat. Er hat mich immer überall liebkost, obwohl, da gab es Augenblicke, die ausgesprochen schwierig sind. Aber prinzipiell hat er mich überall liebkost. Er hat die Wunden weggestreichelt, die mir meine Empfindsamkeit und meine Panik geschlagen haben. Er hat sie mir weggestreichelt, und erst danach oder vielmehr nur im Zusammenhang damit, als ein quasi untergeordnetes Element, ist auch das andere zum Tragen gekommen, das, was man im Schaufenster nicht sieht, kurz, ich habe mich entrollt. Ich will nichts beschönigen. Tatsache ist, daß mein Freund lachte wie nie sonst, wenn es an dieses untergeordnete Element, diese Nebensache, ging, und ich, der ich bei dem bloßen Gedanken an einen Schweißtropfen auf meiner weißen, allzu gut gepolsterten Brust erröte, ich lachte leise und in den seltsamsten Tönen mit. Freilich hatte ich die Augen immer zu.

Manchmal, hinterher, habe ich böse Gedanken gehabt. Ich habe böse Bilder vor Augen gehabt, Bilder von einer bösen Gewalttätigkeit, wo es besser gewesen wäre, die Augen offenzuhalten. Noch heute verkrampfe ich mich, wenn ich an diese Bilder denken muß, und ich breite die Hände schützend über die Gegend, wo man sich entrollt. Es ist mir ehrlich gesagt unbegreiflich, daß immer alles ganz friedlich verlief. Daß nie etwas Schlimmeres passierte.

Aber ich erwähnte ja schon, daß mein Freund von dem da unten nicht viel Aufhebens machte, daß er es im Gegenteil mit einer gewissen wegwerfenden Nachlässigkeit behandelte, die mir persönlich sehr entgegenkam. Ja, ich liebte ihn wirklich – und in diesem Moment schäme ich mich auch nicht, es zu gestehen –, ich liebte ihn, weil er mir und nicht dem da unten Gutes tat. Erst durch ihn habe ich gemerkt, wie wichtig es für mich ist, daß ich mich gelegentlich entrolle. Für mich ist das wie eine Gymnastik des Herzens. Ich brauche jemanden, der meine Verkrampfungen beseitigt und die Verhärtungen meiner Seele löst. Wenn ich merke, er meint es gut, dann lasse ich mich ein. Aber nicht, wenn ich merke, daß es ihm nur um das da unten geht. Dann verhärte ich mich. Dann muß ich aufgebrochen werden, geknackt. Ein Wunder bloß, daß auch das funktioniert, daß ich dabei nicht zugrunde gehe. Ich habe es ein paarmal erlebt, früher, vorher, hinterher, und ich bin absolut erstaunt, daß ich nicht daran zugrunde gegangen bin. Es war jedesmal ein Fall von Überrumpelung, beinahe von Gewalt. Mit mir persönlich hat das nicht das Geringste zu tun, und deshalb rechne ich es für gewöhnlich nicht dazu. Aber es ging auch.

Heute frage ich mich weniger, wie ich die Gewalt erdulden konnte – dazu braucht es keine Begründung und keine Erinnerung: man läßt sich hinreißen, und dann ist es vorbei. Ich frage mich vielmehr: Wie konnte ich mich überreden lassen? Woher nahm ich den Mut, woher nahm ich das Vertrauen dazu? Inzwischen habe ich begriffen, daß zwischen Gewalt und Zärtlichkeit, grober Eindeutigkeit und wegwerfender Nachlässigkeit, leiser Drohung und lautem Gelächter kein wesentlicher Unterschied besteht. In der Wirkung, meine ich. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu diesem Ergebnis gekommen.

Damals habe ich das nicht so gesehen. Wir waren zuzeiten wie ein friedliches Paar. Manchmal entfalteten wir eine regelrechte Häuslichkeit, bei der er sich sogar beteiligte, indem er Salat wusch – was er sehr gut machte – oder den Tisch deckte. Er balancierte gerne Geschirr und amüsierte sich königlich über seine zittrigen Finger und meine ängstliche Miene. Er schwärmte für Eis zum Nachtisch und ging selbst mit der Schüssel ins Café – was mir doch peinlich war, so ein starker Zug nach außen getragener Häuslichkeit war mir einfach peinlich. Pfeifend kam er zurück. Ich hatte das Geschirr abgeräumt und hübsche Schälchen gedeckt, und wir aßen das Eis. Irgendwann wurde er unruhig und trollte sich. Es war sinnlos, ihn aufhalten zu wollen, und ich war mir ja auch nie sicher, ob ich ihn nicht lieber losgeworden wäre. Maulend trug ich die Schüsselchen zur Spüle und machte mich an den Abwasch.

Wenn wir zusammen ausgegangen sind, trieb mich nichts, und ich sah keine fremden Blicke. Ich sonnte mich auch nicht in seiner Gegenwart; denn soweit behielt ich immerhin die Übersicht, daß ich wußte, mit ihm war kein Staat zu machen. Den Blick in die Schaufensterscheiben vermied ich. Das war jetzt nicht die Zeit. Friedlich und erwachsen sind wir nebeneinander hergeschlendert, er die Hände in den Hosentaschen oder mit den Daumen in den Gürtelschlaufen, ich ab und zu verstohlen bemüht, ihm die lässige Haltung nachzumachen, aber nur so zum Spaß; denn ich wußte im Grunde, das war nicht mehr wichtig. Meistens plauderten wir nicht viel. Ein Bedürfnis, allein zu sein, hatte uns hinausgetrieben, und da wir zusammen waren, gingen wir eben zu zweit. Wir hatten auch nichts zu reden. Über Politik sprachen wir nicht, über Sport nur die eine oder andere Bemerkung. Manchmal über Frauen, aber so wie Frauen, wenn sie über die Bundesliga reden, inkompetent und mit köstlichen Verirrungen. Das waren die seltenen Augenblicke, wo wir zusammen lachten, glucksend, wenn eine Schöne vorüberging. Leider kam das nur selten vor.

Vielleicht war ich dem Nachdenken damals schon sehr nahe. Es war wie ein sanfter Dusel, eine schläfrige Träumerei. Und in dieser Träumerei nahm ich Anstoß an meinem Freund. Ich nahm Anstoß an ihm, spann in Gedanken lange, spinnwebfeine Fäden, die hinüberreichten von meinem Unglück bis zu seinem Unrecht, von meinem Unbehagen bis zu seiner Schuld. Dabei war ich gar nicht besonders unglücklich, in solchen Augenblicken am allerwenigsten, aber darauf erpicht, diese Fäden zu spinnen, ihm ein Unrecht nachzuweisen und ihm durch äußerst fein verknotete Fäden nachzuweisen, daß er schuld war. Ich weiß nicht, was er dachte, während ich mich mit meinem unendlichen Spinnen beschäftigte. Aber das störte mich nicht. So konnte ich in Gedanken frei über ihn verfügen. Es war, als hielte er sich für die Version zur Verfügung, an der ich unablässig strickte; denn das sollte er ja in irgendeiner Weise vorstellen, dieses Resultat, das sollte er ja in irgendeiner Form sein.

Am Anfang brauchte ich ihn noch, seine Gegenwart, um meine Fäden zu spinnen. Er mußte bei mir sein, aber er mußte mich in Ruhe lassen. Solange er mich in Ruhe ließ, hatte ich das Heft in der Hand. Ich tat ihm nichts zuleide, aber ich beschuldigte ihn. Ich legte fest, wie alles gekommen war. Später gewöhnte ich mich an diese Spielereien und beschäftigte mich auch dann noch mit ihnen, wenn ich wieder allein war. Ich saß zu Hause auf dem Sofa und redete mit ihm. Wenn er bei mir war, gab ich das Heft aus der Hand. In meiner Gedankensprache hieß das: Ich ließ mich erweichen. Es war wunderbar, sich erweichen zu lassen. Aber dann fing ich wieder an, beschuldigte ihn innerlich und sah befriedigt, wie er sich im Netz seiner zahllosen Fehler verstrickte. Ich freute mich, wenn ich ihm nachweisen konnte, daß er unrecht hatte. Ich wies ihm nach, daß es sich nicht um einfache Versäumnisse, sondern um schwerwiegende Charakterfehler handelte. Ich wies ihm nach, daß er mich unglücklich machte. Ich machte ihm klar, daß er sein Unrecht nur wiedergutmachen konnte, wenn er in bedingungsloser, wiewohl schuldbeladener Treue zu mir hielt.

Es war eine glückliche Zeit. Nie war ich beschäftigter, und ich war glücklich, wenn glücklich sein beschäftigt sein heißt. Wenn er da war, ließ ich mich erweichen. War er nicht da, rechtete ich mit ihm. Immer war ich mit ihm zugange.

Und dann kam er nicht mehr, und so sehr hatte ich unsere kurzen, aber häufigen Begegnungen in meine allgegenwärtigen Planspiele eingebaut, daß ich es anfangs gar nicht bemerkte. Geschweige daß ich die Anfänge, die ersten Zeichen der Entfremdung, Abkühlung oder Gleichgültigkeit, registriert hätte. Auf einmal war er nicht mehr da. Es störte mich nicht, oder ich merkte es nicht gleich. Ich träumte und war mit Lamentieren beschäftigt. So lange, bis ich gern wieder einmal nachgegeben hätte. Da merkte ich, daß er nicht mehr kam. Es war ein böses Erwachen.

Zuerst, wie er weggeblieben ist, da habe ich bloß gedacht: Na bitte. Aber ich merkte schon, es wird mir vielleicht etwas fehlen. Siehste, habe ich gedacht, jetzt kommt er nicht mehr. Aber dabei habe ich nach dem Sofa geschielt. Ich versuchte meine bösen Gedanken wiederzubeleben. Aber es war mir alles entwertet. Nicht zu einem einzigen Haßgefühl konnte ich mich aufraffen, nicht zu der einfachsten, schulmäßigen Phantasie. Ewig schien es mir her, daß ich ihm nicht mehr nachgegeben hatte. Ich mied den Sessel und rückte unbehaglich auf meinem Stuhl.

Wie ich noch allein war, da hatte mich manchmal ein Gedanke geplagt. Es war eine lächerliche Befürchtung, die zweifellos von der Gewohnheit meiner einsamen Spaziergänge herrührte. Ich fürchtete nämlich, es könnte einmal auf der Straße ein Unfall geschehen, und ich wäre schuld. Das war eine alberne Idee, natürlich, aber ich hatte zeitweise sehr damit zu tun. Ein Unglück ist schnell geschehen, dachte ich, und ebensoschnell hat man schuld. Wer konnte wissen, ob der Impuls nicht schneller war als die kontrollierende Vernunft? Die Situationen aber, auf die meine Befürchtungen sich bezogen, waren immer die gleichen. Verkehrssituationen, Unfallsituationen, Ampelsituationen, kleine, gezielte Schubssituationen, boshafte kleine Mordaktionen: ein Tritt, und du schlägst der Länge nach hin! merkwürdig nur, daß ich, der ich mich doch immer gleich verfolgt fühle, eine solche Aktion doch nie von anderer Seite befürchtet habe. Dieser verschlagene, zufällige Mord war offenbar mein persönliches Genre. Die andern knüppelten drauflos, ich aber ich rechnete mit den Fährnissen der Straße.

Wie er nicht mehr kam, da habe ich gedacht, ich habe ihn umgebracht. Das war lächerlich, denn ich hatte es ja nicht getan. Aber es gab Sinn. Es kam mir auf einmal vor, als wäre er seit jeher das Objekt meiner merkwürdigen Angriffspläne gewesen. Immer wieder versuchte ich mir die entscheidende Szene vor Augen zu führen. Auf das Bekanntschaftsgefühl kam es mir an. Ich wollte wissen, ob ich mich erinnerte. Aber ich kam mit meinem Bemühen nicht zu Ende.

So ging es lange Zeit. Dann gab es Tage, da wartete ich regelrecht auf ihn, machte mich fein und kochte Kaffee. Aber wie er ausblieb, wurde ich gereizt. Ein seltsames ressentimentgeladenes Glücksgefühl, ein hitziges kleines Haßgefühl suchte mich heim. Nun sollte es also wieder losgehen mit diesem Theater. Ausgerechnet jetzt, wo ich alles so hübsch aufgeräumt hatte, wo ich mich so gründlich gewaschen hatte. Ich schwitzte und spürte, wie ich seiner schon im voraus überdrüssig war. Überdrüssig! Das war es.

Dann kam er zurück, und schlagartig hörte ich auf zu träumen. Ich erkannte ihn am Klingeln. Vorsichtig öffnete ich die Tür und wollte sie gleich wieder zumachen, aber er war schneller.

Ich dachte, ich komm mal vorbei, sagte er und grinste.

Er sah bejammernswert aus. ungeniert ging er in die Küche und ließ sich auf seinem alten Platz am Fenster nieder. Ich machte eilfertig Kaffee.

Er hatte den Mantel anbehalten, ein schäbiges Ding, fadenscheinig, daß ich mich fragte, warum trägt er ihn überhaupt. Ich schämte mich meiner Pantoffeln und zog vor Verlegenheit den Fuß nach. Als ich mich zu ihm umdrehte, bastelte er sich gerade mit zittrigen Fingern eine Zigarette zusammen. Ich wandte mich ab und goß kochendes Wasser auf das Kaffeemehl, sorgfältig darauf bedacht, mich nicht zu verbrühen. Als ich die Kanne brachte, hatte er die Zigarette schon halb aufgeraucht. Mit einer schwungvollen Bewegung legte er die Füße auf den Tisch.

Nimm die Füße von meinem Tisch, sagte ich.

Auf seine unnachahmliche Weise hob er die Augenbrauen und nahm die Füße herunter.

’tschuldigung, sagte er.

Wirklich, er entschuldigte sich! Er beugte sich vor und tat schon mal zwei Löffel Zucker in die leere Tasse. Das hatte er immer so gemacht. Dann brauchte er später nicht soviel umzurühren, sagte er. Ich schenkte ihm ein.

Eine Tasse, sagte ich, und dann verschwindest du.

Er schenkte sich umständlich nach – er legte keinen Wert auf einen Anstandsrand – und gab noch einen dritten Löffel Zucker in die Tasse. Sorgfältig rührte er um. Mit beiden Händen hob er sie an den Mund, schnupperte, daß seine Nase fast in den Kaffee tunkte, und begann dann langsam und konzentriert zu trinken. Mich hatte er völlig vergessen.

Ich tat ein Löffelchen Zucker und einen Spritzer Sahne in meinen Kaffee. Ich fühlte mich unfrei, beengt, und der Kaffee schmeckte mir nicht. Schuldbewußt zog ich den kleinen Finger ein. Er hatte sich immer lustig gemacht, wenn ich ihn abspreizte. Aber er interessierte sich nicht dafür, ob ich ihn abgespreizt hielt oder nicht. Andächtig trank er seinen Kaffee und hatte mich völlig vergessen.

Als er ausgetrunken hatte, stand ich auf. Er erhob sich mechanisch und zerrte den Mantel zurecht. Dabei warf er mir einen Blick zu, der war immer noch frech, so frech, ich glaube, es stand ihm einfach kein anderer Blick zur Verfügung!

Du kannst mir nicht zufällig etwas pumpen? Ich schüttelte den Kopf.

Hab ja bloß mal gefragt, murmelte er und ging gehorsam zur Tür.

Ich hielt sie ihm schon auf.

Na dann, murmelte er.

Ich machte die Tür zu und ging in die Küche zurück. Erschöpft ließ ich mich in den Sessel fallen. Ich war völlig zerstört.

Es ist vorbei, murmelte ich.

In der Zeit fing ich an, mit mir selbst zu reden, eine Gewohnheit, die ich bis heute beibehalten habe.

Es ist vorbei, murmelte ich und wußte, daß es wirklich vorbei war. Es war vorbei.


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