Ilse Bindseil

Aus allen Wolken

Roman meiner Kindheit

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I.Teil: Im Schoß der Familie

  1. 1 Ich stelle mich vor/Ich philosophiere
  2. 2 Ich bestreite mein Coming-out
  3. 3 Fortsetzung des Coming-out
  4. 4 Abschluß des Familienromans
  5. 5 Die Grenzen der Familie: Der Ort
  6. 6 Topographie des Orts – Alte und Neue Kirche
  7. 7 Fortsetzung der Topographie – Freunde
  8. 8 Schluß der Topographie des Orts
  9. 9 Calvinismus
  10. 10 Calvinismus, Fortsetzung
  11. 11 Diaspora
  12. 12 Evangelisch und katholisch
  13. 13 Spiritualismus
  14. 14 Scholastik
  15. 15 Rückfall in Philosophie und Schluß – Erfreulicher Ausblick

I Im Schoß der Familie

1 Ich stelle mich vor/Ich philosophiere

Meine Eltern waren brave, unermüdlich arbeitende Bürger. Sie zogen ihre Kinder groß. Sie waren höflich zu allen, die in dem kleinen Ort, in dem ich aufwuchs, etwas galten. Und sie legten auf die hohe Kante, was ihnen trotz ihrer bedeutenden Verantwortung für Kinder und Verwandte übrigblieb.

Uns erzogen sie mit Liebe und Geduld, im Bewußtsein, daß die Kinder der Spiegel der Familie sind, wissend auch, daß ihre Schande über ihre Eltern kommt, und weil sie es sich vorgenommen hatten. Im ganzen Ort genossen sie hohes Ansehen. Davon konnten noch ihre Kinder profitieren, meinten sie, wenn die Zeit reif war für Heirat, Zukunft und Beruf, notfalls sie selbst, wenn wir unseren eigenen Weg gingen und sie im Stich ließen. Daß sie aber sparten, bewies an sich schon, daß sie nicht nur im Hier und Jetzt lebten, sondern fest in der Zukunft verankert waren.

Von ihnen ist mir in Erinnerung geblieben, daß sie an allem Freude hatten, und dies, obwohl sie nichts taten, was nicht einem profanen Zweck gehorchte.

Satura lanx: Für sie war das Leben wie eine große Schüssel, in der sich allmählich und verheißungsvoll das – Leben häuft. Ihre Lebensweise war von Maximen durchsetzt, aber zur Reflexion fehlte ihnen nicht nur die Zeit, auch einfach der Grund. Was sie an Muße gewollt hätten, das wendeten sie an uns, wenn ihr Blick einen zweckfreien Augenblick bei uns verweilte, und sicherlich drückte es sich auch in dem nie offen ausgesprochenen Wunsch aus, wir sollten ihren Weg fortsetzen, man kann auch sagen wiederholen, aber sie meinten, um jenes Quentchen Freiheit und Genuß erweitert, das aus dem Reflex eine Absicht, aus dem Tier einen Menschen macht. Tatsächlich hätte es sie nicht gekränkt, wenn an ihnen, in bezug auf uns, das Animalische hervorgehoben worden wäre, ja, sie hätten es als Kompliment aufgefaßt, auch wenn sie im gleichen Atemzug auf ihre Ideale pochten und für ihren Lebensplan Weisheit in Anspruch nahmen. Mir war das alles ein Rätsel.

Es ergab sich von selbst, daß unser Lernen mehr Zeit in Anspruch nahm als in ihrer Generation, auch weniger gerichtet war, obwohl es keinen angeseheneren Beruf gab als den ihren und nur geringe Aussicht, es ihnen nicht nachzutun. Als hätten wir es ausdrücklich gewollt, lernten wir Flöte und dergleichen unnützes Zeug und pflegten Hobbys, die uns ausfüllten, uns aber beileibe nicht zuflogen, denen die Lust ausgetrieben war, für die ein Aufschwung genommen werden mußte. Wir taten tausend Dinge, die Zeit, Geld, ja, auch Zuschauer erforderten. Uns zuzuschauen, beim Vorspielen, beim Deklamieren, kam zu den zahllosen Pflichten unserer Eltern hinzu. Obwohl es das Tüpfelchen auf dem I eines ohnehin schon belasteten Arbeitstages war, geriet es vorübergehend zu den Höhepunkten des Familienlebens, wo letzteres mit dem öffentlichen verschmolz, so daß man nicht mehr beurteilen konnte, von wo der Glanz worauf fiel.

Es ergab sich von selbst, daß wir insgesamt ein wenig anders gerieten als sie. Eingebunden in ihr Leben, dabei keineswegs von ihnen vereinnahmt oder mißbraucht, hatte ich Schwierigkeiten, die Abweichung genauer zu bestimmen. Angst durchflutete mich, wenn es darum ging, die Andersheit im Rahmen einer keinen Augenblick außer Kraft gesetzten Identität ins Auge zu fassen, und es ist mir auch nie gelungen, diese Aufwallung von sexuellen Gefühlen sicher zu unterscheiden. Stattdessen habe ich mich in der Familie stets unbehaglich gefühlt, weil sie ausgerechnet in jenes Gebiet hinein- und hinüberschwappte, das von ihr doch am weitesten entfernt sein sollte.

Hätte mir jemand gesagt, daß die Abweichung, die wir verkörperten, zugleich die Verlängerung des elterlichen Lebensplans, der Gegensatz zugleich die Ergänzung und, fatalerweise, die Ergänzung zugleich der Gegensatz war – denn vor lauter Eltern sahen wir ja die andern Menschen nicht –, es hätte mich auch nicht getröstet. Dazu war die Einsicht zu abstrakt. Daß für alles bezahlt werden muß, verstand ich schon eher, aber wofür? Für das Gefühl der Geborgenheit, meine unumstößliche Sicherheit, mein bescheidenes Wohlleben? Umgekehrt wurde ein Schuh daraus: Wer gab mir etwas dafür, daß all mein Kummer innerlich war? Die Eltern natürlich, die meine seelische Entwicklung honorierten, indem sie mich mit Büchern überhäuften, mich ein Instrument spielen und mich bis tief hinein in die Seele der andern, Erwachsene wie sie, blicken ließen. Aber erstens war es immer besser, wenn man von anderen entschädigt wurde als von denen, die einen geschädigt hatten, war die Entschädigung vom Schaden doch schwer zu unterscheiden und die Trennungslinie fließend, der Hunger entsprechend grenzenlos. Zweitens beneidete ich sie nur um so mehr um den Pakt mit der Wirklichkeit, den sie irgendwann geschlossen haben mußten, obwohl auch sie gewiß eine zarte Seele zu verteidigen hatten, aber auf die war eben niemand hereingefallen, das war in ihrer Jugendzeit noch nicht Mode gewesen.

Wer weiß, vielleicht war ich ja der Preis, den meine Eltern für ihre Lebensfreude, ihre solide Selbsteinschätzung, ihren praktischen Mut bezahlen mußten; denn was sie bei sich überwunden hatten, das kehrte ihnen bei mir zurück. Oder aber ich war die Entschädigung für ihre Selbstaufgabe, ihren Krämergeist – ich mit meinem Hang zur Träumerei, zu Ausdruckskünsten ohne Sinn und Ende, zu allem, was im Kreis führt. Schöne Entschädigung! Und sollten sie nun durch mich bezahlen oder mit mir entschädigt werden?

Was mich betraf, standen zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Die eine war, daß ich mit meiner Unselbständigkeit, die bis tief in mein Gefühlsleben hineinreichte, für die frei entfaltete Persönlichkeit bezahlen mußte, wie sie mir durch Aufsatznoten, Auszeichnungen aller Art bescheinigt wurde; ein plausibler, wenn auch nicht gänzlich widerspruchsfreier Gedanke. Die andere Möglichkeit war trivialer, aber nicht weniger widerspruchsvoll. Sie bestand darin, daß ich für die Geborgenheit, in der ich dank meiner Eltern aufwuchs, obwohl ich mir ihrer gar nicht bewußt war und sie auch nie im Leben gewählt hätte, nun einmal mit Unsicherheit bezahlen mußte,

Der letztere Gedanke war interessant. Wofür man bezahlen mußte, ob und wieviel, hing nicht von der persönlichen Einschätzung ab, wieviel man bekommen hatte oder besaß; aber wovon? Nur eine Zeitlang hatte ich der Theorie von der Diktatur der öffentlichen Meinung Glauben geschenkt. Ihr Einfluß in der kleinen Stadt, in der ich aufwuchs, war so gut erkennbar, daß ich nicht wußte, wie sie sich in meine subjektive Schätzung einschleichen sollte. Aber natürlich wußte ich um die unbeugsame Macht der Tatsachen. Wenn es denn Sicherheit war, was meine Eltern zu verschenken hatten, dann bekam ich sie eben geschenkt; auch wenn ich sie zehnmal nicht wollte oder, da ich ein ausgesprochener Angsthase war, immer nicht genügend bekam. Beziehungsweise wenn als Sicherheit galt, was meine Eltern zu verschenken hatten, dann war ich der Unsicherheitsfaktor. Man sah ja, daß ich unglücklich war; offenbar, weil ich für ein kräftiges Glück bezahlen mußte, sonst wäre ich ja nicht unglücklich gewesen. Was war aber das Glück? Wenn es nicht die vielberedete Geborgenheit war, dann konnte es, streng betrachtet, nur das sein, was ich außer meinem Unglücklichsein, meiner inneren Unsicherheit noch besaß; sagen wir der Spielraum dafür.

Auch die Tatsachentheorie hatte sich abgenutzt. Am liebsten würde ich sagen, sie hatte dem Druck der Tatsachen nicht standgehalten oder war von innen her verfault. Woher wollte ich zum Beispiel wissen, ob die Spießer immer noch den Ton angaben oder nicht schon die Künstler? Im ersteren Fall wäre Sicherheit eine beinahe schon sinnlich erfahrbare Tatsache gewesen, im letzteren eine Chimäre, auf die nicht einmal Dummköpfe hereinfielen. Manchmal kam es mir auch so vor, als glaubte ich als einzige noch an Werte und war von der Existenz der sogenannten Prinzipien fester überzeugt und hatte eine detailliertere Vorstellung von ihnen als die, die sie vertraten und auch von mir, wie ich mir einbildete, bedingungslose Zustimmung verlangten. Dabei nahmen sie es keineswegs so genau, ich merkte es an ihrem Lächeln. Einmal hatte jemand zu mir gesagt: Wo lebst du eigentlich? Hatte etwa das eine mit dem andern, das mir abgeforderte Bekenntnis, nämlich, mit ihrer eigenen Überzeugung oder die von ihnen zur Schau getragene Überzeugung mit meiner inneren Zustimmung gar nichts zu tun – nicht in dem Sinne, daß eines von ihnen entbehrlich gewesen wäre, sondern daß das eine dem andern nur Geltung, aber keine Glaubwürdigkeit verschaffen konnte oder sagen wir umgekehrt, nur Anerkennung, aber keine Wirksamkeit. Offenbar neigte ich zur Überschätzung von Einbildungen oder Emotionen, und dabei war es mir völlig egal, ob sie avantgardistisch, aristokratisch oder bloß altüberkommen waren, Hauptsache, sie waren ihrem Wesen nach immateriell, das hieß für mich, nicht realistisch, von der Wirklichkeit weichgekocht, sondern ungebrochen, real.

Womöglich war ich ein größerer Spießer als beispielsweise meine Eltern. Worüber sie als Ansammlung mehr oder weniger äußerlicher Fähigkeiten verfügten, das verfügte in Gestalt eines überschießenden Gefühlslebens über mich; ein unangenehmer Gedanke.

Ich habe schon erwähnt, daß meine Eltern wie alle ihrer Generation einer Akkumulations- oder Reifungstheorie anhingen, wenn die auch durch Unbestimmtheiten beeinträchtigt wurde oder sagen wir eine gewisse Bandbreite hatte. Alle hatten mit der gefüllten Schüssel zu tun. Aber je nachdem, ob die Reife mit der physischen oder mit der geistigen Vollendung korreliert wurde, wurde sie früh oder spät angesetzt. Unbelehrbare Melancholiker vertraten sogar die Ansicht, die Geburt sei der Augenblick der größten körperlichen Potenz – von da an gehe es abwärts – oder der Tod der Augenblick der entscheidenden Reife, und bis zu ihm, umgekehrt, gehe es hinauf, notfalls auch ohne den Betroffenen. Ihre Vorstellung vom Kind war von den runden Backen der Säuglinge geprägt, die sich der mütterlichen Brust nachbilden, also wahrscheinlich von dieser, so wie die von den Alten vom Seher geprägt war, der über die Grenze des Sinnlichen hinwegblickt, dazu keines Sinn mehr bedarf; logisch. Sie wußten nicht, wie unbedarft und unvollständig das Neugeborene auf die Welt kommt, wahrscheinlich hatten sie noch keins gesehen, ebensowenig, wie sehr man den eigenen Tod verpassen konnte; sie waren eben noch nicht gestorben. Glücklichere Gemüter verzichteten auf die unerbittliche Reifung, die Akkumulation bis zum letzten Moment. Sie fanden ihr Glück in der Bewegung, in der Symmetrie, im Gang der Dinge; Entwicklung wäre zuviel gesagt, Fortschritt eine Überhebung, Vollkommenheit dagegen durchaus am Platz, wenn sie dem Verlauf zukam, dem Rhythmus, der Linie. Zuerst wurde fleißig in die Schüssel gefüllt, was nach der Reife herausrann: das war traurig, aber nur ein bißchen, und das Bild oder die Vorstellung ideal, wie ein milder Bogen, nicht wie eine aufsteigende Rakete, die, um nicht abzustürzen, des Jenseits bedarf. Aus der Fülle der Reife den Löffel abgeben müssen, war dagegen hart.

In meiner Vorstellung war das Leben wie eine volle Schüssel, aus der das Leben rinnt. Du wirst geboren, und die Schüssel ist voll. Du stirbst, die Schüssel ist leer. Im ersten Fall hast du nichts davon, denn du bist ja noch niemand. Im zweiten hast du es immerhin soweit gebracht, daß du die Suppe auslöffeln kannst. Was sich dazwischen ereignet, dient im günstigen Fall dem Abbau von Illusionen. Da das Subjekt ja nur beiläufig starb – war es an der Geburt doch nicht beteiligt und konnte also auch nur beiläufig mit umkommen –, mußte es als die eigentliche Illusion abgebaut werden. Freilich erst im allerletzten Moment und wenn man brav seine Suppe gelöffelt und seine Illusionserledigungsaufgaben gemacht hatte. Vorschnelle Aufgabe beseitigte ja den Bezugspunkt für die Erledigung der Illusion, das Subjekt wäre unerledigt geblieben, sinnlos, isoliert, auf eine abstruse Weise unsterblich.

Ich liebte es, mich in diesen Theorien zu ergehen. Aber ich haßte die Leute, die alles auf gleich brachten. Wieso? sagten sie. Überhaupt sagten sie am liebsten: Wieso? So als wenn die Frage stärker als der Sachverhalt gewesen wäre. Wenn der negative, der aufhebende Geist der höchste ist, sagten sie, wieso läßt du ihn nicht da residieren, wo er hingehört, am oberen Ende der Kurve? Sie ließen durchblicken, daß auch sie das nicht eben originell fanden, aber immerhin hätte alles seine Ordnung gehabt. Daß ich mich wohl für den negativen Geist in Person hielt und mir nur aus Tugendhaftigkeit den Platz der höchsten Reife verweigerte und scheinheilig von Zurücknahme sprach, fanden sie aufreizend, aber nicht wirklich wichtig. Wer mich korrigieren wollte, sollte das tun. Sie hatten Besseres vor.

Und im übrigen, Auflösen war auch nur ein Trick. Reif sein war alles.

2 Ich bestreite mein Coming-out

Es wird Zeit, daß ich mit einer Tatsache herausrücke, mit der ich bislang hinterm Berg gehalten, die ich zwar nicht rundheraus bestritten und verleugnet, von der ich aber im rhetorischen Eifer abgelenkt habe. Hat man erst einmal etwas verschwiegen, folgt ganz wie von selbst die Lüge.

Nun kann nicht alles erwähnt werden – der arme Leser! Und man kann nicht für alles, was man nicht erwähnt, zur Rechenschaft gezogen werden, ich meine dafür, daß man es nicht erwähnt. Was man sagt, ergibt sich aus dem Umkreis dessen, was man bereits gesagt hat, im besten Fall folgt es daraus. Meine Eltern waren Krämer, ich ein Träumer; das zweite folgte aus dem ersten, und zwar umfassend logisch, nicht nur faktisch oder historisch. Woraus aber folgte, was zu erwähnen mir derartige Schwierigkeiten macht, daß die Erwähnung die Ausmaße eines Geständnisses annimmt? Ja, wenn es eine Ursache gäbe, dann bräuchte man die Folge kaum zu erwähnen, geschweige denn zu gestehen. Folgen ergeben sich; sie resultieren, sie haben nichts Böses getan. Aber sei’s drum, um die Ursache. Wenn es stattdessen einen Zusammenhang gab, ein unüberschaubares Geflecht von Kleinstursachen sozusagen, die zwar nicht hinter der Wirkung, aber insgesamt nicht weniger machtvoll neben ihr und um sie herum standen, sie weniger hervorbringend als bloß bedingend, vielleicht auch weniger bedingend als vielmehr beleuchtend, so daß sie einfach da war, nicht mit Stammbaum und Familienpaß, aber existent, vielleicht bloß als Teil, vielleicht gar als Ursache, die eigene Wirkungen hervorbrachte, jene Kleinstursachen um sie herum, die in Wirklichkeit vielleicht starke Wirkungen waren. Denn, wer weiß, vielleicht war das eine starke Ursache, was selbst eine schwache Wirkung war und umgekehrt. Der Gedanke macht mir Mut, aber nicht Mut genug.

Wenn sich also eine Gelegenheit ergäbe, bei der das Geständnis kein Geständnis, sondern nur eine beiläufige Bemerkung wäre, etwas, was sich selbst erwähnt, schöner noch, einfach da ist; schließlich spricht man eher über Abwesendes! An dieser Gelegenheit fehlt es. Ich habe sie, indem ich mit meinen Eltern begann, haarscharf verfehlt, obwohl es mit den Eltern seine ursächliche Richtigkeit hat. Ich habe sie, obwohl ich ihren Optimismus und meinen Pessimismus nach allen Seiten erwogen und mich somit als denkende Vernunft betätigt habe, gründlich verfehlt. Man sollte meinen, daß eine Sache gründlicher gar nicht geklärt werden kann. Aber wenn man erst einmal in die falsche Richtung denkt beziehungsweise den falschen Gegenstand differenziert, dann ergeben sich nicht nur Irrtümer, man operiert auf einem anderen Gelände. Die kleine Wahrheit, die man bei Gelegenheit hätte anbringen wollen und zu der die Gelegenheit sich bloß nicht gefunden hat, vagabundiert außerhalb, unerreichbar, als großer Einwand, alles in Frage stellender Vorbehalt.

Soviel Hokuspokus um ein kleines Geständnis – das, wenn es erst einmal heraus ist, nicht wiedergutzumachen sein wird! Ich würde gern sagen, als ich geboren wurde, freuten sich meine Eltern und präsentierten mich meinen Geschwistern. Die ersten Fotos zeigen mich auf dem Familiensofa, rundköpfig, mit dicken Backen, rührend klein, im Kreis der Kinder. Sie passen auf, so sieht es aus, daß ich nicht herunterfalle. Sie bestaunen meine Winzigkeit. Ich, so hat es den Anschein, bestaune sie. Kann man normaler aufwachsen?

Später sähe man uns immer in der gleichen Konstellation, als klassisches Fotomotiv: groß, mittel, klein. Orgelpfeifen, die seltsamerweise heranwachsen. Die Proportionen schöner, regelmäßiger als die Einzelteile. Letztere irgendwie sinnlos. Ohne Proportion. Aber das ist eine blöde Bezeichnung, die das zugleich Innerliche und Äußerliche, das Oberflächliche und Tiefe, das Aphoristische und Fundamentale, ich will mal sagen das Entscheidende dessen nicht ausdrückt, was ich zu gestehen hätte.

Zuerst die Lüge. Es gibt keine Kinder, die mich beschützend in die Mitte nehmen. Wir sind bloß zwei. In den Augen meines Vaters, der als Einzelkind aufgewachsen ist, ist das viel, in meinen weniger als eins. Einer stellt den andern beständig in Frage. Einer allein, und wenn dann seine Herkunft aus der Zwei nicht wäre, das müßte das Reich der Freiheit sein.

Was die Orgelpfeifen angeht, so habe ich mich bei meinem Lieblingsbuch Im Dutzend billiger bedient. Orgelpfeifen haben ihr Maß in der Relation, ihre Qualität in der Quantität. Ihr Wesen besteht in ihrem Anblick, ihre Ästhetik in der Abwandlung. Zwei sind ein Schicksal, drei eine Kinderschar. Ein Schicksal schleppt man möglichst unsichtbar mit sich herum. Man trägt es, aber man zeigt es nicht. Geschwister sind zum Zeigen da.

Wenn es sich um zwei handelt, gibt es keine Ermäßigung, keinen Wechsel in der Betrachtungsart, nur ein unablässiges Vergleichen, eine beständige Suche nach der Einheit, Flucht in eine glücklose Selbständigkeit.

Zu einer Lüge gehören immer zwei: eine Lüge und etwas, was es nötig macht, daß man eben lügt. Die Lüge allein macht es nicht nötig, man könnte ebensogut die Wahrheit sagen. Ich will damit sagen, wäre sonst alles in Ordnung, es wäre um die Zahl kein Geschrei zu machen. Auch einer allein kann die Welt abbilden. Ihm fehlt nichts. Und allein darauf kommt es an: daß es nicht schon an der Möglichkeit fehlt. Was man daraus macht, ist korrigierbar. Man kann es besser machen, Hauptsache, die Voraussetzung stimmt.

Die eine Lüge habe ich aufgeklärt: wir sind nur zwei. Wie die Leute in unserer Gegend sagen: Da hilft uns keiner von. Ein nachträgliches Geständnis meiner Eltern, sie wären sich über ein drittes Kind nicht einig geworden, hat mich in Verwirrung gestürzt. Es hätte ebensogut anders kommen können? Wir sind nur zwei, aber beinahe wären wir drei gewesen? Was ich für Schicksal hielt, wäre nur mehr oder weniger Zufall gewesen?

Auch am oberen Ende der Geschwisterreihe war keineswegs alles entschieden. Zwar gab es nicht das uneheliche Kind, um das mein Vater seinen Freund heftig beneidete, aber ein Vetter aus Dingsda stellte sich ein, forderte Zuwendung und verschwand wieder. Auf den Familienfotos ist seine lange Gestalt im Hintergrund zu erkennen. Noch ein Schritt, und er existiert. Wenn er bei uns weilte, atmeten wir die frische Luft der Geselligkeit. Das Lüftchen der freien Assoziation strich durch unser Haus. Wir luden den Vetter ins Kinderzimmer ein und vergaßen unsere Eltern.

3 Fortsetzung des Coming-out

Mein großer Bruder. Ich kann nur ahnen, was das heißt, der Schauder verrät es. Mein großer Bruder hat gesagt. Der Vater verblaßt. Die Mutter, nun ja, man hätte es ihr nicht zugetraut. Unleugbar hat sie an Erhabenheit gewonnen. Meine Mutter ist sie nicht.

Mein kleiner Bruder. Wie heißt es in den Romanen: eine Welt von Zärtlichkeit tut sich auf. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, legt die Arme um meinen Hals. Während er schon von Raubrittern und Schokoladenzwieback träumt, trage ich ihn nach Hause.

Ich habe keinen Bruder, das ist das eine. Wir sind zwei, das andere. Was bin ich?

Ich bin ein Mädchen. Und prompt erschlägt es mich.

Es gibt Dinge, über die kann man reden, und sie bekommen ein menschliches Gesicht. Weniger liebevoll ausgedrückt: sie verflachen. Andere werden durch Reden immer schlimmer.

Ich habe versucht herauszufinden, woran das liegt. Du kannst alles aussprechen, sofern es im Rahmen des Nein bleibt. Ich bin kein Junge, na und? Ich habe keinen Bruder, was soll’s? Brüder sind unerträglich, sie stehlen einem die Liebe der Eltern, sie sind amoralisch und träge. Geschlecht männlich? Fehlanzeige. Ist das alles?

Indem du ja sagst, gibst du zu, was du alles nicht bist. Sagst du nein, bleiben alle Möglichkeiten offen. Indem du ja sagst, bist du alles Uneingeschränkte, Ununterschiedene nicht. Ich frage mich, warum nie jemand über die positive Bedeutung von »nicht« nachgedacht hat. Nein, ich habe keinen Bruder, keine Akne, keinen Hunger, dieser Einschränkung unterliege ich nicht.

Ich wuchs auf im Bewußtsein, daß, genetisch betrachtet, Jungen eine Geschlechtsinformation enthalten, die Mädchen fehlt. Nach dem, was ich über das Positive gesagt habe, waren sie weniger, die Welt der Möglichkeiten war für sie geschrumpft; die Möglichkeit der Möglichkeit selbst eingeschränkt. Ein Junge zu sein war eine zusätzliche Bestimmung, die die Universalität in ihrem Kern minderte, »Bruder« das entscheidende Synonym einer in seiner Männlichkeit gefangenen Existenz. Meine Universalität minderte nichts und niemand. So wuchs ich auf.

Mit meiner Schwester war das anders. Im ganzen hübscher als ich, schlanker, lockiger, größer, sah man auf den ersten Blick, daß sie nicht universell war, während ich mich offensichtlich verpuppte, konnte es doch gar nicht anders sein, als daß jede miserable Linie auf eine noch unbekannte Zukunft hin angelegt war; wie wäre sie sonst zu rechtfertigen gewesen. Da meine Schwester bereits über einen konturierten Charakter verfügte, mit dem sie es ihren Mitmenschen, wie man so sagt, nicht eben leicht machte, sah man auf den ersten Blick beziehungsweise konnte man gar nicht davon absehen, daß sie ein Mädchen war. Man sah und man wußte. Ich haßte sie darum. Wenn aber jemand »du bist anders als deine Schwester« sagte, befiel mich ein nur mit dem Hinweis auf die Antike zu verdeutlichendes Schuldgefühl. Ich fürchtete mich.

In meinen Augen hatte meine Schwester eine Chance vertan. Kind liebenswerter, aber in ihrer festgelegten Rolle und ihrem vielsagenden aufeinander Angewiesensein armseliger Eltern, hätte sie nicht nur das abstrakte Recht, sondern auch die gewissermaßen genetisch vorbereitete Möglichkeit gehabt, ein Ganzes zu werden, Vater und Mutter in eins. Ganz naiv konnte man die beschämende Abhängigkeit der Eltern voneinander nämlich als ein göttliches Zeichen nehmen, daß es schon bei ihnen um anderes ging als um die perfekte Abgrenzung. Auch gab es den einen oder anderen konkreten Anhaltspunkt dafür. War unsere Mutter, wenn ich sie mit den vollbusigen Müttern meiner Klassenkameraden verglich, nicht verheißungsvoll androgyn, unser Vater im Verhältnis zu anderen Vertretern seines Geschlechts nicht enorm wenig verbraucht? Gewiß, er war alt, aber durchaus kein Halbes, so wie auch unsere Mutter zwar unreif und unfertig, aber kein Halbes war. Er war, und nun fehlen mir bezeichnenderweise die Worte; denn er war natürlich nicht weiblich, aber ein bißchen weichlich war er schon. Jedenfalls hatte er nicht erst heiraten müssen, um Gefühl und Gemüt eine Heimstatt zu geben, eher um ihnen eine Grenze zu ziehen. Schon frühzeitig vermutete ich, daß diese Ehe eine Camouflage war, so wie es nur in den hohen und höchsten Kreisen vorkam, wo andere Interessen als die gewöhnlichen sich der gesellschaftlichen Formen bedienten und nicht umgekehrt. Aus diesem Grund und nicht um uns vor vorzeitigen sinnlichen Erfahrungen zu bewahren, schlossen sie die Schlafzimmertür, durch die nie ein verdächtiger Laut drang, kein Kichern, geschweige denn Stöhnen.

Ich war überzeugt, daß die Eltern bloß eine kameradschaftliche Nähe verband. Um deretwillen hatten sie sich in grauer Vorzeit gepaart und die Demütigungen und Abhängigkeiten einer im Grunde überflüssigen Ehe in Kauf genommen. Es wäre zuviel gesagt, daß sie damals schon ihre Kinder gewollt hatten, aber sie hatten sie bekommen und als Ausdruck ihrer Nähe begriffen. Mir schwindelte vor ihrer Erhabenheit, der traumwandlerischen Sicherheit, mit der sie das Sichtbare mit dem Unsichtbaren verbanden. Aber manchmal hätte ich gern andere Eltern besessen. Solche wie meine Freundinnen zum Beispiel. Der Vater meiner besten Freundin stand im Verdacht, eine Geliebte zu haben. Das war schrecklich, aber wenigstens war er ein Mann. Seine Frau machte ihm Szenen. Meine Freundin teilte mir das beim Monopoly mit. Bei uns ist es durchaus nicht so, wie du glaubst, sagte sie, und dann sagte sie nicht mehr viel. Sie litt, aber meiner Ansicht nach ohne Grund. Eine Geliebte war interessant, und eine hysterische Mutter bot alle Möglichkeiten, sich von ihr zu unterscheiden oder es selbst einmal mit Geschrei zu versuchen; sich in wüsten Beschimpfungen zu ergehen müßte Spaß machen. Ich wußte schon, warum ich so gern bei meiner Freundin war. Familienleben gab es eben nur dort, wo die Eltern einander begehrten und das Schlafzimmer auch gebraucht wurde. Gebraucht aber wurde es nur, wenn es gelegentlich etwas zu versöhnen gab, dann strahlte die Wärme bis ins Wohnzimmer aus. Dazu mußte das Gegenteil von Vertrauen und Respekt herrschen, die mein eigener Vater als Grundlage der Liebe pries. Kam so ein Fall nicht vor, dann war das Schlafzimmer überflüssig.

Übrigens sah der Vater meiner Freundin keineswegs wie ein notorischer Herzensbrecher aus, und so blieb die stille Hoffnung, daß auch mein Vater – obwohl, ich hätte ihm die Hölle heiß gemacht.

Aber auch meine Eltern hatten eine Seite, die Abgründe ahnen ließ. Nicht solche, ich war im Grunde überzeugt, daß Sex nicht das Ressort der Erwachsenen, sondern der nicht enden wollende Albtraum der Kinder war. Es bedurfte schon einer mißtrauischen Sensibilität, um zu erkennen, daß sie ihre Vergangenheit nicht abgehakt und abgeschlossen, sondern in unsere gemeinsame Gegenwart hinübergeschmuggelt hatten als eine zauberhafte Konterbande, die den Stempel des Unrechts trug, der geheimnisvollen Dualität, der glücklichen Isolation und die in der Tat völlig asexuell war. Ich kam darauf, daß meine Eltern in Wirklichkeit Geschwister waren. Ein Pärchen zu sein war die einzige bei Geschwistern vollkommene Konstellation, so wie das Geschwisterpaar als einziges auch ohne Kinder vollkommen war; also das einzige auf dieser Welt Vollkommene. Kindern entstand daraus eine Zumutung, so wie sie selbst eine gewisse Zumutung waren oder sagen wir weniger scharf eine Herausforderung. Denn so einfach standen die Dinge nicht, daß man davon ausgehen konnte, daß meine Eltern mit ihrer Jugend den besten Teil ihres Lebens hinter sich gelassen hatten. Indem sie das Unzuträgliche ins Werk setzten und eine Familie gründeten und sich, die schönsten, jugendlichsten, vollkommensten Götter meiner Kindheit, in widersprüchliche, schillernde, eigentümlich unvollständige, um nicht zu sagen mißglückte Eltern verwandelten, öffneten sie den vollkommenen, aber engen Kreis für uns. Von nun an war die Aufgabe schwieriger, mußten wir doch zu viert eine Einheit sein, nicht nur zu zweit, das heißt, sie mußten sich verteilen. Die Zukunft, zum Beispiel, mußten sie an ihre Kinder abtreten; in erheblichem Maß auch die Gegenwart. Unmerklich gerieten meine Eltern auf die Seite der Vergangenheit. Dabei war doch alles ihr Projekt. Sie besaßen das Know-how und die Rechte. Sie wußten, wie alles zusammenhing, das hieß, was sie vom Leben gewollt hatten. Die Rechte gaben sie großzügig weiter, wissend, welches unser Platz in ihrem Leben war, auch daß wir ohne diese Kenntnis ärmer als die Ärmsten waren. Nicht Herren über Weniges, Hausaufgaben, Rollschuhe, Flöte, sondern Anhängsel eines undurchschaubaren Ganzen: Scheinselbständige. Sie waren schlimmer dran als Lohnsklaven.

Bedeutsamer als die ernsten Krisen, in denen ich mit dem Verlust aller Gewißheiten über mich konfrontiert wurde, waren beiläufige Beobachtungen: wenn ich nach Hause komme, und sie haben vergessen, daß ich weg war; geschweige denn, daß sie merken, daß ich zu spät bin, und ich habe mich abgehetzt, ein Donnerwetter erwartet und an Ausreden gebastelt. Jetzt bin ich da, und alles ist gut, aber sie sind erstaunt; wenn sie nicht mehr wissen, daß ich weggegangen bin, wundern sie sich, daß ich zurückkomme. Ist doch klar. Aber ich frage mich, wie kann es sein, daß sie mich nicht vermißten; nur so nämlich kann ich mir ihr Vergessen erklären. Ich bin nicht gekränkt, sondern im Gegenzug erstaunt. Da sitzen sie unter der Wohnzimmerlampe und stecken die Köpfe zusammen. Sie blicken auf, als ich hereinkomme, und sind baß erstaunt. Ich habe ihnen nicht gefehlt. Wie kann es sein, frage ich mich, daß ich trotzdem hereinkomme. Vielmehr umgekehrt: ich muß ihnen doch gefehlt haben, sonst käme ich nicht herein.

Immer wieder nehme ich mir vor, sie zu fragen, wie es möglich ist, daß sie mich vergessen, wo ich doch der Angelpunkt ihres Lebens bin, ohne den sie schon aus logischen Gründen gar nicht leben können. Aber der günstige Moment ergibt sich nicht, obwohl die Unterhaltung zwischen uns immer spärlicher fließt und Lücken genug sich auftun, Platz genug wäre, um zu fragen.

4 Abschluß des Familienromans

Daß ich meine Eltern in Frage stellte, war das eine. Ich hätte es lassen sollen, allein schon, weil meine eigene Position immer mit wackelte und ich auch nicht vorwärts kam beziehungsweise meine Eltern nicht zurückblieben, so daß wir gewissermaßen eine Troika bildeten, ein scheuendes Gespann. Daß ich mich auf diese Weise nicht entwickeln konnte, war damit nicht gesagt. War es nicht denkbar, daß meine Eltern in der ersten Reihe saßen, wenn ich dereinst den Nobelpreis in Empfang nahm? Wären wir nicht zusammen bis nach Oslo gelangt? Und hätte sich das nicht gelohnt? Anders gefragt, wer außer mir hätte sich darüber beklagt, oder wen hätte es nicht gerührt? Angesichts dieser Aussicht verabschiedete ich mich von dem ersehnten Preis, aber das hieß beileibe nicht von allen Ambitionen, gab es doch andere Ziele, in denen die beiden natürlichen Bestandteile der Preiswürdigkeit zusammentrafen, unbedingte Einzelheit und konkurrenzlose Vorzüglichkeit; nur unter dieser Bedingung hätte man meiner Überzeugung nach auch um den Nobelpreis wetteifern dürfen. Denn in meiner Vorstellung bekam Vorzüglichkeit nicht nur den Preis, sie allein war auch der eigentliche Quellpunkt der Person; so groß mußte man erst einmal werden, daß man der Sache entsprach, oder die Größe der Sache mußte einem Lust machen zu wachsen, wenn nicht sie, was dann. Dem Großen ein Partner sein war ein verlockendes Angebot. Dazu mußte man sich freilich von seiner Familie getrennt haben, das war die Voraussetzung von allem Folgenden. Indem man sich vereinzelte, bewies man, daß man eine Vorstellung von Größe hatte, man war selbst bereit, groß zu werden. Fraglos gab es jene anderen, die Bedeutendes leisteten und dabei Kinder blieben. Ablösung war für sie ein Fremdwort oder ein Horror, sie wären ins Bodenlose gestürzt oder hätten nichts mehr zuwege gebracht. Da mußte wohl die Sache, um die es ging, so bedeutend sein, daß sie es nicht nötig hatte, sich mit solchen Kinkerlitzchen wie der personalen Entsprechung auseinanderzusetzen, oder ihre Bedeutung mußte so fragil, sie selbst so absonderlich, ja in all ihrer Bedeutung unbedeutend sein, daß sie den Vergleich und die Auseinandersetzung mit dem Menschen in seiner natürlichen Vollkommenheit und Komplexität scheute. Mit solchen Genies wollte ich nichts zu tun haben. Ihre Mütter sorgten für sie, ihr Vater verachtete sie, ihre Freunde bezahlten ihre Schulden. Ich arbeite, hieß bei ihnen soviel wie: es arbeitet in mir. Nicht einmal die Sache hielt sich mit ihnen auf. Im andern Fall hätte sich ja etwas entwickeln müssen, nicht bloß auf der Seite der Erfindung, sondern auf der Seite des Erfinders.

Von alldem abgesehen, galt mir die Wirklichkeit immer als der Schauplatz der Wahrheit: hier wurde sie ausgemacht. Um sich ihrer zu vergewissern, mußte man sich für die Gesetze der Erfahrungswissenschaft interessieren und sich der einschlägigen Instrumente bedienen. Ich hielt mir zum Beispiel ein Fernrohr verkehrt herum ans Auge. Nicht aus natürlichem Schwachsinn, wie mein Vater mir in Fragen von Naturwissenschaft und Technik unterstellte, sondern um die falsche Nähe aufzuheben, in der uns die Gegenstände erscheinen, und sie in der Entfernung zu plazieren, in der sie sich natürlicherweise aufhalten, ein faszinierend unabhängiges Leben pflegen, auf das wir aber zur Verdeutlichung unseres eigenen Lebens angewiesen sind. Letzteres sehen wir nämlich aus so großer Nähe, daß wir, ohne uns um die fatalen Folgen unseres Eindrucks oder unserer Ausdrucksweise zu kümmern, geradezu meinen, von innen. Was aber den Ort und die Natur oder sagen wir die Empirie und Legitimität dieser Wahrnehmung betrifft, so herrscht hier nicht nur die allergrößte Konfusion, sondern jeder einzelne muß es auch mit sich ausmachen.

Um die charakteristischen Verzerrungen der inneren Wahrnehmung ein wenig auszugleichen oder mir zumindest ins Bewußtsein zu rufen, drehte ich gelegentlich also das Okular um, wodurch der Forschungsgegenstand gewissermaßen aus mir heraus und in die gehörige Entfernung gerückt wurde, jene, in der sich die gewöhnlichen Gegenstände befinden und die uns so vertraut ist, daß es möglich sein müßte, sie auch für Gegenstände des sogenannten Innenlebens in Anschlag zu bringen. Zum Beispiel versetzte ich eine vertraute Person, sagen wir die Tante, in eine fremde Umgebung. In Gedanken folgte ich ihr in die Berge, in die kleine Familienpension, in der sie sich nach eigener Aussage in den Ferien so wohl befand und von allen Gästen herzlich angenommen wurde, im Gegensatz zu uns, die wir beständig an ihr herumkrittelten. Dann brauchte ich sie nur noch mit den Augen der andern zu sehen und hatte im Nu heraus, ob sie wirklich so merkwürdig, im Wortsinn so nichtswürdig war, wie sie mir erschien, oder ob es einen Gesichtswinkel gab, unter dem sie, nun ja, wie alle andern war; diese Sicht aber wäre mir bislang verschlossen gewesen. Oder ich schickte sie, nur so, versuchshalber, auf die monatliche Runde der Frau, die das Kirchenblatt verteilte, folgte ihr von den vorderen Fenstern unseres Hauses mit den Augen, wie sie auf kurzen Beinen von Haus zu Haus eilte, nicht einfach von Tür zu Tür, sondern hier ein Treppchen hinauf, dort den Steilweg hinab, die Gartenpforte öffnend, den Hund vermeidend, den Briefschlitz suchend oder bescheiden die Klingel drückend, freundlich grüßend und weitereilend, auf eine mysteriöse Weise wirklich, tausendmal wirklicher, so schien es mir in dem Moment, als ich. Auch mich hätte ich auf meine, wie die Philosophen sagen, Zusammenstimmung mit den andern Menschen testen können. Trivial werden lautete die Devise. Aber das war gar nicht so einfach, der erforderliche Mut war enorm. Außerdem fehlte der Beobachter, oder ich konnte mich von dieser Rolle nicht trennen, das Zusammenstimmen, schien mir, hing von ihr ab. Allein schon die Familienpension in den Bergen war ein mythischer Ort, wo die andern Familien hinfuhren, wir nicht. Und daß ausgerechnet die Kirchenblatt-Frau als Repräsentantin einer über alle innerlichen Verstörungen erhabenen Empirie herhalten mußte, wo sie meine Großmutter kannte, die nachweislich niemanden kannte, und die kannte sie! Ich ließ mich auch durch die verharmlosende Bemerkung nicht täuschen: »Das ist doch die Frau vom Kirchenblatt.« Was soviel heißen sollte wie: »Die braucht man nicht zu kennen.« Was soviel hieß wie: »Die kennt man doch.«

Du schiebst die Eltern aus dir heraus, dich hinterher. Das heißt schwere Arbeit und viel Entsagung. Aber das Resultat ist von bestürzender Einfachheit. Du siehst dich so, wie dich die andern sehen, klein, aber nicht allein, eine Verkörperung des rätselhaften Wörtchens »bei«. Da stehst du auf dem unvergänglichen Familienfoto und heckst trübe Verbindungen aus, handfeste Vorwürfe, die das Recht auf deine Seite, dich selbst aber nach innen ziehen, dahin, wo nicht die Tatsachen, sondern die Erfindungen den Ton angeben; denn das merkst du schon, je mehr du an der Hand deiner Eltern ziehst, desto weniger folgen sie dir im Grunde, sie haben einfach zu tun. Dabei erwischt du sie immer wieder, wie sie ihre Zeit mit den Nachbarn verplempern; ansprechbar sein, nennen sie das. War mal wieder nötig, sagen sie nach fröhlichem Plaudern. Am Telefon brüllen sie vor Vergnügen und kommen zu keinem Ende. Hinterher sind sie indigniert, aber aufgekratzt. Einen Moment reden sie noch, dann verfallen sie in ihr bedeutendes Schweigen.

Dem erfahrungswissenschaftlichen Aufwand zum Trotz gehört Kleinsein gewissermaßen zum Familienleben. Nur im objektiven Urteil ist es ein Affront. Meistens haben die andern ja keine Macht über dein Bewußtsein. Sie benutzen kein Okular, was beweist, daß sie kein Innenleben haben. Sie befassen sich nicht mit sich selbst. Sie sehen alles in der gleichen Entfernung.

Sähen sie in dein Inneres, wärst du in ihren Augen nicht klein. Aber ihre Betrachtungsweise ist eindimensional, das ist das Problem. Vielleicht sind sie an schwierige Sachverhalte, so wie du einer bist, nicht gewöhnt. Vielleicht, wenn sie üben würden, differenzierte sich ihr Wahrnehmungsapparat. Dann könnten sie erkennen, daß du groß bist.

Stattdessen merkst du, wie dein Wahrnehmungsapparat sich differenziert. Und so bleibt dir nicht verborgen, daß die andern auf deine Art Entwicklung nicht angewiesen sind, ihre Differenziertheit ist gewissermaßen horizontal, um den Widerspruch herauszubringen: flach. Das ist der inneren Differenzierung nicht günstig, ist auf eine andere Art doch alles vorhanden, ja, mehr als das, Auffassung, Handlungsfähigkeit, Urteilskraft. Dir kommt das Ganze künstlich vor, wie ein Expertentum, daß sich nicht lohnt, so wie das Kunstgewerbemuseum eine Anhäufung unsinnigen Fachwissens darstellt; alles fein zusammengetragen, nach dem Motto: »Was es gibt, gibt’s«. Aber welch ein Sammelsurium und wie unnötig! Wie anders dagegen die Antikensammlung oder die Bildergalerie! Die kristalline Kugel, die die Welt darstellt, so wie sie sich zu deinem Empfang gerüstet hat, wird durch den äußeren Reichtum jedenfalls eher beschädigt.

Ich war ich geneigt, mich für der Welt einziges Kind zu halten, und hatte deshalb von Anfang an einen Draht zum Wesentlichen, eine mit einem unbefangenen Glauben an mich verquickte unabdingbare Überzeugung von der Einfachheit des Wichtigen. Leider spürte ich, daß die Eltern meine Sache nicht so entschieden vertraten, wie ich mir das wünschte. Schon gar nicht standen sie mir souveräner gegenüber als ich mir selbst, was die richtige Relation gewesen wäre; denn ich wollte ja noch wachsen. Zu Hause, ja, im Familienkreis, da sind alle Menschen gleich, bis auf die, die klüger und gütiger sind als die andern und dir richtig Lust machen, groß zu werden. Draußen aber kann es passieren, daß dumme und brutale Leute die gottgegebene Hierarchie nicht anerkennen, obwohl das ausgesprochen selten ist, nach meiner Erfahrung so gut wie nie vorkommt und auch meinen Eltern faktisch so gut wie nie passierte. Wieviel Lob heimsten sie nicht ein, ihre Kinder betreffend, und wie hatten sie Mühe, es wegzustecken, wie leicht wird ein Fluch daraus! Es kommt aber vor, daß andere Hierarchien, dumme, scheinhafte, äußerliche Kategorien die Einteilung der wahren, wenn auch in sich gebrochenen Hierarchie verdunkeln. Und hier entwickelten meine Eltern ausgesprochen wenig Phantasie und waren so duldsam, daß ich gelegentlich an ihrer Klugheit und an ihrer Herzensbildung zweifelte, ja nicht geringe Lust hatte, mich auf die gegnerische Seite zu schlagen. Ich traute ihnen sogar zu, daß sie auf mich hereingefallen waren. In dem Fall wäre nämlich ich die Mogelpackung gewesen, und sie, als einzige, waren sich dessen nicht bewußt.

5 Die Grenzen der Familie: Der Ort

In punkto Hierarchie hatte unser Städtchen Überraschungen bereit, die sogar ich, die nie mit ihm verschmolz, mir nicht hätte träumen lassen. Grundsätzlich war es viel zu klein, um überhaupt Überraschungen zu bieten, noch dazu von der sozial strukturierenden Art. Oder aber nicht klein genug: kein Adelssitz, kein zum Dorf vergröbertes Gut, was ich romantisch gefunden und wo ich mich, bildete ich mir ein, auch bereitwillig untergeordnet hätte, jedenfalls solange bis mich der Sproß des adligen Hauses bemerkte. Eine Stadt hob diese Unterschiede auf, zumal eine kleine, sie hob die Ordnung auf und schuf keine neue, war zugleich aber so übersichtlich, daß die in die Gleichheit oder in die Freiheit entlassenen Menschen ohne diese Krücke lebten, gestützt sowohl auf äußerliche Einrichtungen wie Straßen und Institutionen als auch auf ein inneres Navigationssystem, das den Wunsch dazuzugehören, sich einzufügen, und den sich auszuzeichnen und zu unterscheiden, ins Gleichgewicht brachte. In einer großen Stadt dagegen war ein beständiges Sich-Irren und Verirren an der Tagesordnung, ohne daß die Welt einstürzte; denn die war, in diesem Fall konnte man sagen glücklicherweise, nicht auf den einzelnen und sein Orientierungsvermögen gebaut. Ich nahm an, daß dort andere Gesetze herrschten als bei uns, die sich aus der Existenz von Massen ergaben, Versorgungs- und Entsorgungsgesetze, und da sie direkt aus den Tatsachen abgeleitet waren, nahm ich an, daß alle damit zufrieden waren, nur die nicht, die lieber in der Kleinstadt oder auf dem Dorf gelebt hätten.

Mein Ideal, das Leben in Gesellschaft betreffend, stammte von einer Zeichnung in unserm Schulbuch, die wir mühselig abmalten und die den regelmäßigen Grundriß einer Fürstenstadt, von Mannheim oder Karlsruhe, abbildete. So verächtlich ich später von Städten dachte, die, wie es hieß, am Reißbrett entworfen oder wie auf einem Schachbrett angeordnet waren, weil ich darauf bestand, sie müßten gewachsen sein, so traumhaft dachte ich mir das Leben in einer Stadt, die aus Fürstenhand entlassen worden war: frei und geordnet. Denn was war Ordnung, wenn nicht ein Zugang zu allem, was sonst durch obstacles versperrt war, ein Anknüpfungspunkt für Kenntnisse und Emotionen, Grundlage von Hobbys, Liebhabereien der vielfältigsten Art und damit aktive Lebensgestaltung. Für Zwang war ich nicht anfällig; was das betraf, war in meiner Erziehung nichts versäumt worden. Leider auch nicht für Anarchie. Der Mangel machte sich in der Phantasie bemerkbar, in der Kreativität, in allem, was mit Hervorbringen zu tun hatte. Von Schaffen will ich gar nicht reden. Gott schuf Himmel und Erde. Das hieß soviel wie: er schuf Ordnung. Schöpfen dagegen? Ein Unwort, gut nur für das, was man am Brunnen tat. Wer sich als Schöpfer ausgab, war entweder ein Betrüger oder betrunken.

Es gab solche Städte und solche. Ich würde am liebsten sagen originale und angesammelte. Letztere waren zufällig entstanden, sie hatten sich hinter dem Rücken ihrer Bewohner herausgebildet. Erst im nachhinein sah man ihnen an, daß es sich bei ihnen um eine Stadt handelte. Oder man wollte es eben so, der Wille glich den essentiellen Mangel, was das Wesen der Stadt betraf, aus. Willkür regierte. Solchen Ansiedlungen war die Zufälligkeit ihrer Entstehung oder Bestimmung nicht auszutreiben, es fehlte der harte Kern, oder man hatte ihn schlicht vergessen. Eine echte Stadt war dagegen wie ein Kiesel, in der Regel uralt, klein nicht von Bedeutung, nur von Ausdehnung, aus einer Zeit, wo ihre Kleinheit groß gewesen war. Sie war eine Verkörperung freien Bürgertums, ein Fürstenkind unter den Ansiedlungen, kostbares Relikt einer Vergangenheit, in der Größe sich nach Menschenmaß richtete. Wenn sie noch eins draufsetzen wollte, dann führte sie eine Stadtmauer um ihren kostbaren Grund, die bewies, daß es sich bei ihr beinahe um eine Burg handelte, was nichts anderes bedeutete, als daß alle Bürger – Fürsten waren. Denn die Freiheit konnte ich mir nichts anders als fürstlich denken. Manchmal barg sie wahrhaftig ein Schloß oder eine Burg. Dann verhielten die Bürgerhäuser sich dazu wie zierliche Palais; sie versinnbildlichten das Prinzip Fortschritt durch Verkleinerung. Oder sie konnte sich eines Doms, gar, als Höchstes, eines Klosters rühmen. Für die Zugehörigkeit zu ihm hätte ich alles gegeben. Jahrelang quälte ich meine Eltern mit dem absurden Wunsch, mich auf eine religiös geprägte Internatsschule für Mädchen zu schicken, auf der jeglicher Fortschritt verleugnet wurde.

Manchmal wies das Städtchen weder Kathedrale noch Schloß, immerhin aber einen bezaubernden Marktplatz als Mittelpunkt auf. Und manchmal verzichtete es sogar auf ihn und überließ es den langen Zeilen von Bürgerhäusern, im Chaos für Struktur, ja in der Ordnung für Chaos zu sorgen. Erst später lernte ich, daß nicht nur mein Vorstellungsvermögen, auch meine Bildung nicht reichte, um die ehemaligen Fluchtpunkte zu erkennen. Sie überdauerten in der Anordnung der Straßen, dem Reichtum der Fassaden. Ich freilich hätte mit der Nase darauf gestoßen werden müssen, und was verloren war, war verloren.

Unsere Stadt war klein, aber kein Städtchen. Produkt eher der Zersiedelung als der Ansiedlung, hatte sie weder ein bestimmbares Alter noch einen spezifischen Charakter, will sagen auch innerlich keinen Mittelpunkt. Nicht einmal ihre Straßennamen enthielten eine feudale Anspielung, zum Beispiel »Am Schloß«. Auch der Marktplatz fehlte. Als alt, wenn man das Wort überhaupt in den Mund nehmen darf, konnten ein paar Schieferhäuser gelten, die sich um die sogenannte Alte Kirche drückten. Die war, was uns betraf, die falsche, und zusammen mit den Häusern, die den alten Ort bildeten, war sie für uns unzugänglich und ungebräuchlich, tabu.

Ich war ein Genie im Ignorieren. Meiner Großmutter war die falsche Kirche ein Stein des Anstoßes, ich sah sie nicht einmal. Sie ärgerte mich nicht, und schon gar nicht hätte sie mich in Frage gestellt. Diejenigen meiner Freundinnen, die am Sonntag zum Gottesdienst geschickt wurden, bemitleidete ich wegen der finsteren Ecke mit den ganz in Schiefer gewandeten Häusern, die in Sack und Asche gingen. Die Kirche war wenig einladend. Logisch, daß sie nicht regelmäßig, nur zu besonderen Gelegenheiten aufgesucht wurde, Weihnachten zum Beispiel oder Karfreitag. Wahrscheinlich würde sie irgendwann ganz zumachen; so war das, wenn etwas außer Gebrauch kam. Längere Zeit hegte ich den Verdacht, sie wäre schon geschlossen und hielt auch den Friedhof daneben, den Alten Friedhof, für außer Betrieb, war alt doch beinahe das gleiche wie ehemalig. Schrecklich, wenn man dort seine Großeltern beerdigt hatte. Ob einem extra aufgeschlossen wurde? Und was mochte auf den verlassenen Wegen nicht alles geschehen. Noch gruseliger, wenn dort jemand begraben wurde, den man zu Lebzeiten gekannt hatte: er verschwand. Seltsamerweise war bei solchen Gelegenheiten nur mein Vater geladen. Ich schloß daraus, daß die Anforderungen, die sie an die Charakterfestigkeit stellten, erheblich waren. Daß meine Mutter nie mitging, nährte meinen Verdacht, daß es anlässlich eines Begräbnisses zu Orgien kam, und welcher Ort wäre dafür geeigneter gewesen als der Alte Friedhof. Dazu paßte, was ich von den Berichten meines Vaters aufschnappte. Ich nahm an, daß zwischen den uralten Grabsteinen geschmaust wurde, auf angelaufenen Silbertabletts wurden Schnittchen gereicht und zunehmend lockere Reden gehalten. Daß mein Vater, dieser durch und durch einfache Mensch, sich hierbei bewährt, ja selbst ein paar Worte gesagt hatte, als die er seine sorgfältig ausgearbeitete Rede bezeichnete, ließ ihn unwillkürlich in meiner Achtung steigen.

Er hatte sogar einen Zylinder.

6 Topographie des Orts – Alte und Neue Kirche

Von der Alten Kirche, die ich grandios verleugnete, spannte sich ein Netz über die Stadt, das ich ebenfalls nicht zur Kenntnis nahm: Achtest du, wenn du über eine Wiese rennst, darauf, wieviel Spinnwebfäden du zerreißt?

Die Neue Kirche, in die ich ging, lag am andern Ende der Stadt. Als Zentrum galt die Straße, die beide Kirchen verband, so daß sie jede an einem Tauende zogen. Die eigentliche Mitte wäre übrigens ein imaginärer Punkt dazwischen gewesen; nicht zufällig hatten sich hier der erste Supermarkt und das Kino installiert. In die Kirche zu gehen beinhaltete Mühseligkeiten, nicht nur seelische, sondern auch physische, war es doch ein Kampf mit der morgendlichen Nüchternheit – schließlich waren wir katholisch – und darüber hinaus gesellschaftliche. Immerhin mußte der innerste Glaube gezeigt, und auch die Flüchtlingsfamilie mit all ihren Gebresten mußte gezeigt werden; da war allerhand verlangt. Davon abgesehen war der Gottesdienstbesuch ein Ereignis in dem Sinn, daß alles mögliche stattfinden konnte. In der Kirche wurden die Karten jeden Sonntag neu gemischt. Weil die Alte Kirche das nicht begriffen hatte, war sie außer Gebrauch geraten. Sie hatte es nicht verstanden, das Potential neuer Kirchgänger, Flüchtlinge, Gastarbeiter, Aussiedler, für sich zu interessieren; kein Wunder, hatte sie doch etwas Abweisendes und schien auch nie offen zu sein. Wenn ich bedachte, wieviel Ströme an ihr vorbeiflossen, tat sie mir regelrecht leid. Wahrscheinlich war sie im Dreißigjährigen Krieg eingeschlafen und hatte, als die Bevölkerung wieder zunahm, nicht nur versäumt, wieder aufzuwachen, sondern schlicht ihren Auftrag vergessen. Sie interessierte sich auch nicht dafür, daß selbst die engere Gemeinde sich nur zu Weihnachten einfand. In ihrem unerforschlichen Dünkel verzichtete sie auch auf die peinliche, aber unentbehrliche Schar alter Frauen, die das Tagtägliche in Gang hielten, Trippelpfade in die Kirche bahnten. Sie verzichtete eigentlich auf alles, und ich beschloß daher, daß sie nicht existierte, wurde in meiner Entscheidung auch dadurch bestärkt, daß ich wochen-, monatelang nicht an sie denken mußte. Meine Freundinnen hatten wahrhaftig anderes im Sinn, als von der Kirche zu reden, während ich insgeheim darauf brannte, von ihren Mysterien zu erzählen. Aber gegenüber Banausen war das unmöglich, und so schwieg ich von der Neuen Kirche, so wie sie von der Alten Kirche schwiegen. Der Konfirmandenunterricht beendete nicht geradezu unsere Freundschaft, aber verdünnte auf unabsehbare Zeit unseren Kontakt, so als hätten wir schon angefangen zu studieren oder wären, horribile dictu, dabei, uns zu verloben.

Stillos, wie es einer echten Kirche geziemt, weder alt noch regelrecht neu – das vernichtende Urteil neugotisch kannte ich noch nicht und mochte später nicht glauben, daß es auf meine Kirche anzuwenden war –, war die katholische Kirche ein schlichtes Bauwerk, das als Vorwand für religiöse Gefühle nicht taugte; es mußte umgekehrt durch lebendigen Glauben geheiligt werden und war dann sogar über besagtes Urteil erhaben. Ihre Diener hatten mit den evangelischen Pastoren nichts gemein, deren Embonpoint, wie mein Vater sagte, in seiner undurchdringlichen Beschaffenheit ihrer amtlichen Bezeichnung ähnelte und deren Gattinnen ihm zur Routine in der diskreten Kunst der Hausgeburt verhalfen, deren Kinder, ihm zufolge, aber den Jugendpsychologen des ganzen Regierungsbezirks ein Auskommen verschafft hätten, wäre bei ihnen Krankheitseinsicht, gar Schuldbewußtsein nicht verpönt gewesen. Je toter die Kirche, schloß ich daraus, desto dicker die Pastoren. Im Vergleich zu ihnen erschien mir noch Fleischer und Kohlenhändler, nur weil sie Flüchtlinge waren und wie meine Großeltern »alles verloren« hatten, wie eine Verkörperung der Transzendenz. Die Gottesleute der Neuen Kirche waren dagegen schmächtig; hungrig wäre das richtige Wort gewesen, hätte der Hunger sich bei ihnen nicht sogleich in Auftrieb verwandelt, so daß sie nicht eigentlich hungrig wirkten, sondern beschwingt. Beim bloßen Wort Kaplan rann mir das Blut schneller durch die Glieder, ein Gefühl, das meine evangelischen Freundinnen nicht kannten, weswegen sie auch nicht in die Kirche gingen, stattdessen lieber ihre zahllosen Vettern und Kusinen besuchten, woran es umgekehrt mir mangelte, was ich in einen unklaren Zusammenhang mit der Neuen Kirche brachte, so als wäre dort meine wirkliche Familie.

Von einem abstrakten Gesichtspunkt mag es zutreffen, daß unsere erste Wohnung näher an der Alten als an der Neuen Kirche lag und unsere zweite an der evangelischen Volksschule näher als an der katholischen. Aber um das zu bestätigen, hätte ich gleich mehrere Tabus brechen müssen, die eher Glaubenssätzen glichen, Grundanschauungen wie die, daß die Erde eine Scheibe ist oder daß sie im Zentrum aller nur denkbaren Planetensysteme steht. Ich hätte zugeben müssen, daß unsere Stadt ebenso wie die restliche Welt flächig, nicht strahlig war und daß, mochten auch alle Wege zur bescheidenen Dreizimmerwohnung meiner Eltern führen, die Ziele, die wir ansteuerten, auf einer Landkarte existierten, so daß es keineswegs nötig war, stets »zurück auf Los« zu gehen; auf diese Weise hätte zum Beispiel mein Vater seine Arbeit nie geschafft; man stelle sich vor, er wäre nach jedem Hausbesuch nach – Hause gekommen! Ich hätte auch zugeben müssen, daß unsere Stadt kein Urwald war, den man auf Trampelpfaden durchquerte, wobei die Richtung nicht von so abstrakten Gesichtspunkten wie der kürzesten Verbindung bestimmt wurde, die bloß in den Köpfen und auch da vermutlich eher als Phantasie denn als Plan existierten. Ich hätte schließlich zugeben müssen, daß die Pisten, um sich in normale Straßen zurückzuverwandeln und in alle denkbaren Richtungen begehbar zu sein, alle persönliche Geschichte hätten ablegen müssen, die sich in Gewohnheiten niederschlug, die zu Gesetzen wurden wie der, daß ich auf dem Weg zum Zahnarzt am Hexenbusch vorbeimußte oder daß der Weg zur Alten Kirche mich über die eigene führte, was ein Graus und offenkundiger Widersinn für jeden war, der sich am Stadtplan orientierte, aber eine Selbstverständlichkeit, wenn man die persönlichen Gründe in Rechnung stellte, die mich genau diesen Weg geführt hätten. Ich hatte daraus einen Wege- und Zeitplan abstrahiert, an dessen allgemeiner Geltung ich nicht zweifelte, und staunte nicht schlecht, als ein Freund, um zur evangelischen Kirche zu gelangen, bedachtsam die Gegenrichtung einschlug und sie in weniger als der Hälfte der Zeit erreichte. Angewandte Geometrie, sagte er lachend, als ich ihn zur Rede stellte. Ich hatte das Gefühl, daß er sein Ziel von hinten überfallen hatte. Ich hätte diese Schuld nicht auf mich geladen, und was die Geometrie betraf, so weigerte ich mich zuzugeben, daß man sie anwenden konnte, hatte sie selbst doch alles getan, um sich der Welt der Anwendungen zu entziehen und ein Gedankending zu werden, und ich verehrte sie darum und durchschaute sie nie.

Ich hätte geschworen, ich wohnte auf der einen Seite der Stadt, diesseits der Barriere, die durch Nichtgebrauch entstanden war. Sportplatz, Schule, das möblierte Zimmer meiner Großeltern, alles lag wie zufällig auf dieser Seite und machte es unnötig, daß ich über die Grenze wechselte und in Feindesland vordrang, dahin, wo die Protestanten regierten; ich spürte es immerhin, daß hier so etwas wie Geschichte am Werk war und ich, hätte ich ihre Existenz zugegeben, die schlechteren Karten gehabt hätte. Dann lieber gar keine, sagte ich mir, und dieser weiß Gott erheblich größere Teil der Stadt wurde mir zum Gewirr, an das ich mit immer dem gleichen Gefühl nicht nur der unüberschaubaren Fremde, sondern auch der fehlenden Wichtigkeit dachte, der verlorenen Zeit, des verplemperten Lebens, sofern ich mich denn hinüberbemüht hätte; auch der Gefahr, verloren zu gehen, mich zu verlaufen. »Kenn ich nicht« oder »komm ich nie hin« war, wenn es um unsere Stadt ging, mehr als eine Feststellung, es war ein Urteil.

Noch während meiner Grundschulzeit zogen wir um, und die neue Wohnung lag, wie konnte es anders sein, auf der nämlichen Seite, die sich dadurch lediglich ein wenig verschob. Ich sah jetzt deutlicher die Achse, die an der einen Seite von der alten, an der andern von der neuen Wohnung gehalten wurde. Die Welt war ein Springseil, und ich, in der Mitte, sprang.

7 Fortsetzung der Topographie – Freunde

Schon in der alten Wohnung hatte ich Freunde gehabt, Nachbarskinder, deren Eltern reich waren. Ich hatte sie nicht deshalb erwählt. Nachbarn erwählte man sowieso nicht. Man war froh, daß es sie gab.

Ich hatte nicht das Gefühl, daß sie mit mir vorliebnehmen mußten, war ich doch lebendig wie alle Flüchtlingskinder. Zwar bewunderte ich die beiden Roller – ein kleiner, handlicher mit Ballonreifen, der andere wie aus Metall, hoch und schmal, ein Don Quijote unter den Rädern – und setzte meinen ganzen Charme ein, um gelegentlich mit ihnen fahren zu dürfen, was mir in weiser Abstufung gewährt wurde; denn alles hatte seinen Preis, und der Roller mit Ballonreifen war nun mal wertvoller, auch wenn er neben dem andern nutzlos in der Ecke stand. Insgeheim wußte ich, daß sie mir die Roller nie geliehen hätten, hätte ich ihnen damit nicht einen Gefallen getan. Man mußte lebendig sein, um toten Dingen Leben einzuhauchen; wenn man nämlich tot war, tat sich nichts. Ich will nicht behaupten, daß sie selbst tot waren, obwohl, aber ihre Roller waren tot. Wenn ich in den Nachbargarten ging, standen sie herum oder waren gar in den Keller geräumt. Offenbar kannten ihre Besitzer das Zauberwort nicht, mit dem man sie erlöste: Wollen wir Roller fahren? Ach nee, wie langweilig, sagten sie dann, als wären sie schon den ganzen Tag Roller gefahren, und ließen erst eine gehörige Frist verstreichen, die die Idee von mir abkoppelte und das Gewünschte in gehörige Entfernung rückte, aus der es mir dann scheinbar spontan überlassen wurde.

Ohne mich fuhren sie nie Roller, aber ich wäre ohne sie liebend gern Roller gefahren, den ganzen Tag. Ich stellte mir vor, daß ich krank wäre, freilich nicht so krank, daß ich nicht Roller fahren konnte, also nicht nur das Bett, sondern auch das Haus verlassen durfte, und das war gar nicht so einfach. Wenn es sich einmal so traf, traute ich mich nicht hinüber. Der Garten war zwar nicht abgeschlossen, aber er führte in ein labyrinthisches Dunkel, das machte mir angst. Zugleich taten mir meine Freunde leid, die er als Hadesbewohner auswies, weshalb ich sie und alle ihre Spielsachen zum Leben erwecken mußte. Ich betrat ihn nie allein und nur, wenn ich mich innerlich auf Abenteuer eingelassen hatte, auf Versteckspiele, auf Doktorspiele unter einer Krüppelkiefer oder den tief herunterhängen Ästen einer Weißbuche, die ihr Geheimnis behielten. Die älteste Schwester meiner Freunde, die sich an unseren Spielen selbstverständlich nicht beteiligte, fast schon eine Frau und mißgünstig wie eine alte Hexe, hatte einen ganz anderen Grund für meine Gartenbesuche ausgemacht. Sie meinte, ich käme ja nur wegen der Kirschen, und in der Tat, wir hatten keinen Baum.

Mehr als einmal hatte ich beobachtet, wie sie unter den hängenden Kirschen gestanden hatte, ohne sich nach ihnen zu strecken. Deshalb verstand ich nicht, wie sie überhaupt darauf kommen konnte, daß ich sie begehrte. Der Vorwurf mußte etwas anderes bedeuten. Du kommst ja nur wegen der Kirschen, das meinte offenbar soviel wie: Bettler.

Unserer neuen Wohnung gegenüber stand ein kleines Haus, das in einer Geschmacksverdrehung ohnegleichen nicht frontal, vielmehr seitlich zur Straße stand und mit der Vorderseite auf den nackten Garten guckte. Es sah wie eine Schachtel aus; Geld oder Kraft des verstorbenen Besitzers hatten offenbar nicht ausgereicht, um ein Dach draufzusetzen. Hier wohnte die Frau, der meine Eltern Miete zahlten. Ich lernte sie nie näher kennen, weil sie, wie ich mir einbildete, allzu großen Respekt vor uns hatte. Ich machte einen Bogen um sie, und zum gesellschaftlichen Umgang meiner Eltern zählte sie nicht, vielleicht auch sie nicht zu ihrem. Neben dem Haus erstreckte sich ein dunkler Wald mit hohen Fichten. Erst auf den zweiten Blick sah man, daß es ein umzäunter Park war mit einem schmiedeeisernen Tor, das die Bäume in Schach hielt und wie eine mißglückte Kulisse wirkte; denn ein Tor ohne Haus, das war ein Widerspruch in sich. Mir kam es so vor, als hätte hier jemand des Guten zuviel getan, ich will sagen die Umrisse des Hauses zu weit gezogen, man sah es nicht mehr. Da genau an dieser Stelle die Straße einen scharfen Knick machte, hatte das Tor sozusagen die Front gewechselt und war ein Teil der Straße geworden, eine wichtige Begrenzung an heikler Stelle; sonst wären die Autos auf der abschüssigen Straße noch im Wald gelandet. Später schälte sich unter den Mädchen, mit denen ich Hüpfekästchen, Verstecken und Federball spielte, eine neue Freundin heraus, die mich mit zu sich nach Hause nahm, durch eben dieses Tor, an ihrer Hand auch durch den dunklen Wald. Der war so groß, daß ich ein Schuldgefühl bekam, so als hätte ich etwas Böses getan; ich hatte ja auch meine Eltern nicht gefragt, und was war, wenn ich nicht zurückkam. Es kann keine Rede davon sein, daß ich mir den Rückweg gemerkt oder einen aufmerksamen Blick auf das Haus geworfen hätte. Mir kam es klein vor, so am Ende des Walds; als wäre der nicht die rechte Vorbereitung darauf gewesen oder es nicht das rechte Resultat. Auch mit einem Hexenhäuschen hatte es nichts zu tun, glich eher einer Baracke als einer Burg, war also wieder ein Flachbau. Ich wurde zum Liegestuhl des Vaters auf der kurzgeschorenen Lichtung gerufen und erschrak: ein Unding, daß ein Mann am hellichten Tag im Liegestuhl lag! Dabei war er so klein, daß ich im ersten Moment gar nicht wußte, warum ich zu dem leeren Stühlchen zitiert wurde. Die Frau dahinter, so daß es ebensogut ein Rollstuhl hätte sein können, war von klobiger Gestalt; unmöglich konnte sie vom gleichen Geschlecht wie meine knabenhafte Mutter und die Mama meiner zierlichen Freundin sein, die vielleicht nach dem Vater ging. Von Anfang schien mir der Park mehr zum Verbergen als zum Beschützen da und die Besitzer eher zu bemitleiden als zu beneiden. Da sie ihre Kinder mit germanischen Vornamen bepflastert hatten, staffierte ich sie in meiner Phantasie später, wenn ich mich an sie erinnerte, zu Nazigrößen aus, zu Herrn und Frau Goebbels, weil die Frau Reitstiefel trug, der Mann aber schmächtig war. Als der Weltkrieg zu Ende war, hatten sie sich hinter den hohen Bäumen versteckt, in der kindischen Hoffnung, der Verfolgung zu entgehen, indem sie sozusagen den Kopf in den Sand, das heißt in den Wald steckten, was sich in ihrem Fall aus unerfindlichem Grund bewährt hatte. Kein Wunder, daß Haus und Garten schlecht zusammenpaßten. Wohnen und Verstecken waren ja nicht dasselbe. Wir wohnten im ersten Stock eines zweistöckigen Hauses mit ausgebauter Dachwohnung. In der Stadt wohnte man tunlichst zur Miete. Man war doch kein Bauer!

Unser Haus war ein Eckhaus, und es war alles andere als verwunschen. Jede Wohnung hatte eine doppelte Anbindung zur Straße. Der Garten war winzig, wie nur für die Parterrewohnung gedacht, die über einen Wintergarten verfügte, also gleich zweifach im Vorteil war. Bei der Dachwohnung wäre die Bezeichnung verwunschen beinahe angebracht gewesen. Aber die alleinstehende Frau, die sie bewohnte, war geschieden, und das war nun einmal nicht romantisch, brachte auch Unruhe oder vielmehr ein forciertes Schweigen ins Haus, eine übertriebene Höflichkeit, so als könnte jede Nachlässigkeit ihr gegenüber von ihr als Einstieg in einen normalen Umgang gewertet werden. Wir, über jeden Verdacht, freilich auch über manche Annehmlichkeit erhaben, bewohnten den oberen Stock. Aus der Winzigkeit des Gartens leitete ich die Theorie ab, daß er allen gehörte und wir, alle zusammen, eins waren, auch wenn meine Eltern auf ihre Individualität größten Wert legten. In einem kommunistischen Vorgriff sagte ich mir, daß der Garten denen gehörte, die ihn bewirtschafteten. Ich zögerte nicht und säte Radieschen.

8 Schluß der Topographie des Orts

Ich war mir nicht sicher, ob ich mich über die gelegentliche Zulassung zum finsteren Ort freuen oder grämen sollte. Waren schon andere vor mir bis auf die Lichtung vorgedrungen, wo der schmächtige Mann im Liegestuhl lag? Mit nachlässigem Lächeln hatte er mir eine Frage gestellt, deren Sinn mir verschlossen blieb, weil er ihre Antwort bereits wußte: daß ich an der Küste aufgewachsen war. Er hatte es durch meinen breiten Dialekt hindurch gehört. Ich gestand, daß wir als Heimatvertriebene an der Ostsee gestrandet waren. Erst später waren wir ins Bergische gezogen. Wo man im Sprach-Lernalter war, kann man sein Leben lang nicht verleugnen, sagte er lächelnd. Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht soeben meine erste Begegnung mit dem Geheimdienst hinter mich gebracht hatte. Sollte ich meinen Eltern davon erzählen? Mußte ich etwas melden? Sie würden alle Schuld auf mich schieben. Wir verlassen uns auf dich, nicht auf die andern, war ihr beständiges Argument. Auf der kleinen Lichtung im finsteren Wald hatte mich die große Welt angeweht, da reichte das simple Schema der Eltern nicht. Übrigens gab es auch hier eine ältere Schwester, die durch ihren schlichten Namen in ein graues Dasein ausgegliedert war. Sie schikanierte mich wie die Älteste vom anderen Ende der Stadt, vielleicht weil sie diesen blöden Namen trug und als Ebenbild ihrer knochigen Mutter auf die Welt gekommen, nie ein anmutiges Kind, immer die kleine Ausgabe der Erwachsenen gewesen war. Aus ihrem Gesichtswinkel hatte sie mich durchschaut, wozu ihre jüngeren Geschwister offensichtlich nicht imstande waren. Du kommst ja nur wegen der Schaukel, sagte sie. Du lieber Himmel, weswegen sollten wir sonst kommen! Wenn ich heruntergeputzt wurde, dann aus Neid oder, wahrscheinlicher, weil Gott den alteingesessenen Familien die Fähigkeit zur Freude genommen hatte. Sie waren nie geprüft, sie waren nie verpflanzt worden. Das hohe Schicksal des Flüchtlings war ihnen erspart geblieben, in der Diaspora zu leben ihnen nicht zugemutet worden; ich zweifelte nicht daran, daß es einen Zusammenhang gab zwischen den Zumutungen und den Fähigkeiten. Alles Wesentliche an ihnen war so beständig wie die Grauwacke, aus denen ihre Villen errichtet waren, aber es war tot. Daran änderten auch die zahlreichen Kinder nichts, die sich dermaßen glichen, daß ich an ihrem Sinn zweifelte. Was um Himmels willen hatte man mit ihnen bezweckt? Ihre Eltern hatten gewiß auf jemanden wie mich gehofft, der sie von sich erlöste.

Du kommst ja nur wegen der Schaukel: ich hatte für den groben Vorwurf bereits ein feineres Verständnis. Nicht, daß sie mich nicht nett fand, ich war nicht gut genug. Das hatte am wenigsten mit mir zu tun; auf den ersten Blick sah man, daß ich unendlich vielversprechender war als meine Freundin, und ihr Vater hatte dem ja auch Rechnung getragen, als er sich nach meiner Herkunft erkundigte. Wenn überhaupt, dann lag es an meiner Familie; nicht mit allen Verwandten ließ sich imponieren oder eigentlich mit fast allen nicht, ausgenommen die Eltern natürlich. Viel eher aber kamen objektive Gegebenheiten in Betracht; ich nenne nur die Religion oder eben die Sache mit den Vertriebenen. Kleinmütige Bemerkungen meiner Mutter, die ich aufschnappte, wie daß wir nie akzeptiert werden würden, und die in einem schreienden Widerspruch zur Vorsehung standen – wenn ich die einmal so verstehen darf: nach dem, was sie für uns vorgesehen hatte –, bekamen einen Sinn, so etwas wie eine oberflächliche Plausibilität, waren beinahe wie eine Erklärung. Daß wir kein eigenes Haus hatten, war schlimm; obwohl, was die Zukunft betraf, war nichts tödlicher als ein Haus, wie eine Prophezeiung war es, daß man für die Welt verloren war, sich nicht in den Metropolen aufhalten, geschweige denn als freier Mensch durch die Zeitzonen wechseln würde. Daß wir nicht einer Institution oder Erbengemeinschaft Miete zahlten, sondern einer lebendigen Person, die sich womöglich die Miete ihres eigenen Hauses nicht leisten konnte und auf uns angewiesen war – sonst hätte sie ihr Haus ja bewohnt –, das war in der Tat unheimlich und ließ sich nicht einfach wegreden, zumal die Frau weder Mann noch Kinder hatte und uns von ihrem deprimierenden Vis-à-vis von morgens bis abends um unser Glück, um die in uns Kindern verkörperte Hoffnung, die in unserm Vater verkörperte Vollständigkeit beneiden mußte und schon aus diesem allzu verständlichen Grund nicht herüberschaute.

Nur wegen der Schaukel, das hieß soviel wie: Bastard.

Ich kam zu dem Schluß, daß wir für Leute nicht gut genug waren, die selbst alles andere als gut waren. Nicht regelrecht böse, dazu waren sie zu wirklich. Böses lauerte mir zum Beispiel am oberen Ende der Straße auf, wo der Kriegsversehrte anklagend mit dem Kopf fuchtelte, so daß ich auf halbem Wege umdrehte und mit der leeren Milchkanne zurückrannte. Manchmal geriet ich auf der Suche nach einem sicheren Umweg in die unaufgeräumte Peripherie der Stadt, wo von einer, wie ich später lernte, randständigen Bebauung mit festgelegter Traufhöhe oder von gepflegten Vorgärten und gepflasterten Bürgersteigen nicht die Rede sein konnte, Wohn- und Gewerbekomplexe wild durcheinandergingen und mancher Bretterzaun den Blick auf Garagenhöfe und Schrottplätze versperrte. Bereits im Garten meiner kleinen Freundin hatte ich die Orientierung verloren; zuviel Ungeklärtes drang auf mich ein. Prompt hatte ich, nachdem ich ihrem Vater über das Holsteinische in meiner Sprachfärbung nur ungenügend Rede und Antwort gestanden hatte, den Rückweg nicht mehr gefunden und war unter seinem Gelächter in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Seine Tochter hatte mich an die Hand nehmen und zum schmiedeeisernen Tor an unserer Straße zurückbringen müssen; ich hätte schwören mögen, da führte kein Weg. Die Verbindung war gerissen. Gleichwohl hatte das vernichtende Urteil einen sensiblen Punkt in mir angesprochen, meine geradezu schwärmerische Verehrung der Wahrheit. Das mit den Kirschen oder der Schaukel war zwar im höchsten Maß beleidigend, aber es traf zu. Unklar war lediglich, woher uninspirierte Halberwachsene wie die Schwestern meiner Freunde das wußten. Hier lag die Unwahrheit, oder sagen wir es offen, die Wahrheit hätte sich in der Anerkennung der Tatsachen offenbart: Willkommen, hier, bei deinen Kirschen, oder so ähnlich. Aber zumindest befanden wir uns auf der Ebene der Wahrheit, nicht der Schaumschlägerei. Da mußte man nicht mit Vorwürfen wie »Das ist eine Unterstellung!« kontern. Sachverhalte waren peinlich. Das war ihr Erkennungszeichen, ihr Echtheitsbeweis; nichts, worüber man sich grämen mußte. Im Gegenteil, man mußte sich freuen.

Nun freute ich mich natürlich nicht, aber die vernichtende Wirkung des Treffers blieb aus. Den Bruchteil einer Sekunde kaute ich an dem giftigen Bissen, aber schon in diesem allerersten Moment mehr wie jemand, der auf Metall beißt, um zu prüfen, ob es Gold ist: Sind wir bei den Tatsachen angekommen, oder hat hier nur jemand seiner schlechten Laune, seinem Ressentiment Luft gemacht? Oder hat er mir den Krieg erklärt? Will er kämpfen? Dann will ich auch. So begann eine Auseinandersetzung, die aus wunderbaren Gründen mit gleichen Waffen, mit offenem Ausgang geführt wurde; wunderbar, denn sie fand ja auf dem Grund und Boden des Gegners statt, aber ich ließ mich nicht vertreiben! Da konnten die Hexen hundertmal ihr »du kommst ja nur wegen der Kirschen«, »du kommst ja nur, um zu schaukeln« schleudern: wenn es denn so war – und der brennende Schmerz, der mich überfiel, sagte touché –, dann stand die Rechtsfrage im Raum. Wem gehörten die Kirschen, und wer hatte eigentlich ein Recht auf die Schaukel, der, in dessen Garten sie sich verirrt hatte, oder der, der bei der ersten Berührung mit ihr verschmolz und dem ein Lied aus der Brust schmetterte: »Cindy, o Cindy!« Wenn ich über die Wiese flog, erlebte ich, ganz ohne die gewohnte Angst, orgiastische Minuten. »Dein Herz muß traurig sein«, jauchzte ich, nahm einen kräftigen Schwung und spürte die Schaukel kippen. Betreten standen die angeblichen Besitzer neben der Schaukel, über eine Beleidigung sinnend, die die Verhältnisse noch einmal umdrehen konnte, während ich in den Himmel flog.

Es war ein Spiel, und selbst die ältere Schwester ließ sich umstandslos hineinziehen und übernahm den ihr zustehenden Part. Nie bestand sie darauf, daß ich die Schaukel, die Kirschen nicht anrührte, gar abhaute. Sie wollte nur klarstellen, von Vertreiben konnte keine Rede sein. Was das anging, war sie gelähmt wie in einem Traum, kraftlos. Allein schon, daß sie wie auf ein Stichwort hin auftauchte und ihren Spruch hersagte, machte sie zu einer Rolle in unserm Spiel, nicht mich zu einer in ihrem. Mehr Gespenst als Hexe, schlich sie um uns herum, ruhelos, eine Spielverderberin noch im Spiel, jemand, der aufs Gemüt schlug, lästig, unheimlich, nicht gefährlich. Kein Vergleich mit den Eltern, deren Ruf – »Abendbrot!« – das Spiel im Nu beendete und uns einander fremd machte, so daß wir uns nicht mehr in die Augen gucken konnten.

Auch für meine Mutter gab es Orte, wie Inseln, die von ihr nach demütigenden Erfahrungen gemieden wurden. Nicht zufällig lagen sie auf der Prachtstraße, die, wenn man so will, die beiden Kirchen verband und mit ihrem Namen die Monarchie ehrte.

Da gehe ich nie mehr hin, erklärte sie mehr als einmal. Wenn sie bloß an den Frisör dachte, an das Geflüster, das sie bis unter ihre Haube verfolgte. Und beim Fleischer hatte man so etwas wie »Sie kommen ja nur wegen der Würstchen« gesagt!

Die Wahrheit war, sie hatte für fünfzig Pfennig feine Leberwurst verlangt. Sonst nichts? hatte die Verkäuferin gefragt, in dem Ton, den die Einheimischen gegenüber den Flüchtlingen bevorzugten, auch gegenüber Spätheimkehrern, Besatzungsangehörigen, Zigeunern und so fort.

Da gehe ich nicht mehr hin, sagte meine Mutter. Ich fand das toll, hätte es aber noch toller gefunden, wenn sie nicht gekränkt gewesen wäre. Wütend, ja, aber nicht verletzt. Was man nicht bekommen kann, das soll man um keinen Preis wollen – weiß der Himmel, von wem ich diesen Grundsatz übernommen hatte. Ich spürte, daß ich mich auf den Zorn meiner Mutter nicht verlassen konnte. Vermutlich hatte sie es wieder einmal wissen wollen. Für fünfzig Pfennig feine Leberwurst war die Testfrage, die über den Stand ihrer Integration entscheiden sollte. Jetzt ärgerte sie sich über das Ergebnis.

Vielleicht dank des Zylinders, den er bei den seltenen Gelegenheiten brauchte, wo die Alte Kirche aktiviert wurde, verfügte mein Vater über gewisse Kenntnisse, vielleicht auch über die richtige Einstellung, um das Nichtkränkende ans Licht zu holen, die Feindseligkeit zu bannen und überhaupt dem Toten Leben einzuhauchen. Wie durch Zauber fand er das richtige Wort. Seine Erzählungen öffneten den Horizont, seine Begriffe bekundeten Verständnis, sie urteilten nicht. Sie vervollständigten die Erzählung, sie setzten nicht den Stempel unter das Bild. Dabei litt er wahrscheinlich auch oder hatte wenigstens gelitten; sonst wäre er wildfremden Leuten, den unsinnigsten Ansinnen gegenüber nicht so duldsam gewesen. Vorwürfen von Seiten meiner Mutter, meiner Großeltern begegnete er mit Kenntnissen, biß sich dafür an Leuten fest, die ihm hoffnungslos unterlegen waren, die er gar nicht hätte sehen dürfen und die ihn aus einem unerfindlichen Grund in Rage brachten. Auf der Straße, die er selten betrat, grüßte er mit heftigem Kopfnicken nach rechts und links. Ich fragte mich, woher er die Leute kannte, da er stets arbeitete, und wie er sich zurechtfinden konnte, ging er doch nie mit uns aus, weder zum Einkaufen noch in die Kirche. Gelegentlich hatte er wohl selbst den Eindruck, des Guten zuviel zu tun, es sah ja so aus, als wollte er die alten Villen zum Leben erwecken. Dann murmelte er etwas von den Erwartungen der Einheimischen und gewachsener Struktur, was mit seinem überlegenen Ton gut zusammenstimmte – offenbar war er bei den Kenntnissen –, weniger mit seinem Übereifer. Ich mußte an einen Dirigenten denken, der das Orchester zum Aufstehen ermutigt. Aber die Musiker sind träge, die Instrumente müssen eingeklappt, die Notenständer beiseite geschoben werden, und der Beifall, das wissen sie zu allem Überfluß, kann nicht geteilt werden. Mürrisch, mit den Füßen scharrend erheben sie sich trotzdem, und mein Vater dienert in alle Richtungen.

9 Calvinismus

Der Gott der Alten Kirche war tot. Nun erinnerte sie bloß noch daran, daß er tot war. Deshalb stand sie noch. Der Gott der Neuen Kirche war dagegen lebendig. Zugegeben, sein Haus war stillos, kein Bauwerk, dafür bewohnt. Es blieb mir ein Rätsel, wie die Alte Kirche die neue Konfession verkörpern konnte, sie war also gar nicht alt, allenfalls dem Gebäude nach, das sie der alten abgenommen hatte. Wie sie damit fertig wurde, war ihre Sache. Meiner Ansicht nach war das gar nicht zu schaffen.

Meine Interessen waren dynastischer, nicht historischer Art. Ich hatte es stets versäumt, mir die Geschichte der Stadt und damit auch der Kirche zu Gemüte zu führen. Mich interessierte die Legitimität, nicht die Realität. Mochte das protestantische Bekenntnis vergleichsweise jung sein; so wie alles hoffnungslos jung war, was innerhalb der neuen Zeitrechnung, also rein zufällig begonnen hatte, den Übergang vom Alten zum Neuen Testament nicht erlebt, das heißt die Verbindung mit der Vorgeschichte verloren und sich auf die Seite der Geschichte geschlagen hatte. Das jüngere Bekenntnis würde vor dem älteren zugrunde gehen; das klang unheimlich nur für den, der es als Nachfolger betrachtet hatte. Schon jetzt mangelte es ihm an Lebensäußerungen. Es war so offensichtlich in der Rückbildung begriffen wie ein Geschwür, das zuerst Ekel erregt und sodann vertrocknet. Dazu kam natürlich die Ähnlichkeit zwischen dem Äußeren der Kirche und dem Bekenntnis, wenn alt freudlos hieß, schmucklos, dem Tod nicht bloß zugewandt, sondern tot, jung aber unerheblich, ohne eigene Wurzel, infolgedessen flüchtig.

Fuhren wir über die Dörfer, dann wies mein Vater auf die Flußtäler, in denen protestantische Industrie gesiedelt hatte, was immer das sein mochte; in Anbetracht der beengten Verhältnisse, der eingeklemmten Fabrikgebäude, in denen die Sonne nie aufging, eine triste Angelegenheit, mehr ein Schicksal als eine Karriere. Ich verstand gar nichts und wurde das Gefühl nicht los, daß mein Vater Dinge zur Sprache brachte, die in der Stadt hätten geklärt werden müssen, nicht auf dem Land. Ich begriff auch nicht, warum mein Vater, der bei seinen Krankenbesuchen ein »Gedöns« sondergleichen um mich machte, so daß ich mir schon einbildete, sie fänden um meinetwillen statt, mich im einen oder andern Fall hinter seinem Rücken versteckte und allenfalls respektvoll nach vorne schob, damit ich das Händchen gab und einen Knicks machte. »Calvinistischer Adel«, hatte er mir auf dem Weg durch den Vorgarten noch verschwörerisch zugeraunt, der das düstere Haus hinter Fichten verbarg, und meinte natürlich Fabrikadel. Es kränkte mich ungemein, daß er sich einbildete, ich müßte wissen, was das bedeutete, und witterte Verrat. Soviel wußte ich immerhin, calvinistisch war die innerliche Form von evangelisch; protestantisch, schloß ich, die äußerliche. Mit dem simplen Schema der Konfessionszugehörigkeit, evangelisch/katholisch, hatte das nichts zu tun und war damit unerheblich, oder aber jenes.

Wenn Vater sich vor meinen Augen in einen fremden Mann mit peinlichen Manieren verwandelte, wurde ich störrisch, so schüchtern ich sonst war, und hätte ihn am liebsten lautstark an unseren Vertrag erinnert: die ganze Welt war zu meiner Bildung da, nicht ich, damit sie sich auf meine Kosten weniger langweilte. Gott sei Dank kamen solche Besuche nur selten vor, teils, weil mein Vater sich nicht traute, mich mitzunehmen, oder das Bild eines ergebenen Dieners – ein Wort, mit dem er sich tatsächlich vorstellte, mehr noch verabschiedete – sich in seinen Augen nicht mit dem des hingebungsvollen Vaters vertrug, teils weil die Industrie verfiel und der calvinistische Adel sich verkrümelte. Wie mein Vater berichtete, waren in unserer Gegend die Tage der Wirtschaft gezählt, ihre Geschichte seit unserem Zuzug ein einziger Niedergang. Die Eisenindustrie hatte es noch vor unserer Zeit erwischt. Jetzt war die Textilproduktion an der Reihe. Ich wußte, daß die Schuld bei den Koreanern lag. Mit ihrer unermeßlichen Zahl, ihren niedrigen Löhnen, ja, auch ihrer winzigen Statur, die wiederum in einem inneren Bezug zu ihrer Zahl stand und ihre Löhne drückte, hatten sie einfach das bessere Argument, wenn ich mir persönlich auch nicht denken konnte, welcher Vorteil imstande war, die immensen Entfernungen wettzumachen, über die sie ihre Billigwaren verschifften; denn das war nicht nur eine moralische Frage, sondern hier scheiterte auch mein Verstand. Gold, Weihrauch und Myrrhe lohnten den Transport, aber doch nicht Kleiderschürzen und billige Schuhe! Die Ungereimtheiten verstärkten meine Zweifel an der Existenz der Koreaner. Ich jedenfalls kannte keine und staunte, mit welcher Geläufigkeit meine Eltern von ihnen redeten. Sogar meine Großmutter, die sich vor allem Fremden hütete, nannte das Kind beim seltsam klingenden Namen. Die weitläufigen Anlagen der heimischen Industrie dagegen, die nach dem Fabrikgründer benannt waren und die Stadt prägten, hatten in Ortsbeschreibungen ihren festen Platz, sie gaben Bushaltestellen ihren Namen und geisterten durch die Unterhaltungen, Wohlbehagen verbreitend. Sie waren ein fester Bestandteil der Gegend, mehr als ihrer wechselvollen Geschichte; ohne sie hätte man sich verirrt. Bei Krawinkel bog man in der Fahrstunde rechts ab, bei Ising tunlichst nach links. So war das und hatte nichts damit zu tun, ob am jeweiligen Ort noch produziert wurde, hinter Krawinkel, wie es hieß, noch Krawinkel stand; wäre es anders gewesen, die Gegend hätte neu kartiert werden und auch der Fahrschullehrer hätte ein neues Programm auflegen müssen. So wie sie gebraucht wurden, waren die Namen, um es in meinem späteren Vokabular zu sagen, die Bedingung der Möglichkeit des Abbiegens. Ich glaubte noch an sie, als die kompakte Fabrik sich schon längst in ein Sammelsurium kleinerer Betriebe aufgelöst hatte, auf das ein Schilderwald hinwies, den ich nicht einmal gedanklich zu durchdringen versuchte, geschweige denn, daß ich mich in den Dschungel begeben und mir ein realistisches Bild vom Gewerbe gemacht hätte: daß es in Stockwerken hauste. Ich kam gar nicht auf die Idee. Wer guckt schon gern hinter einen Namen.

Dadurch daß mein Vater die Gegend anhand der Flußläufe erklärte, geriet unsere Stadt vollends ins Hintertreffen, gehörte zu ihren Mängeln, was das Fehlen stolzer Bürgerhäuser mit Renaissancefassaden, eines Marktplatzes oder Doms, eines Adels- oder Klostersitzes, römischer Reste oder Festungen anging, doch auch das Fehlen eines Flusses, dessen Namen sie womöglich in den eigenen hätte aufnehmen können und der ihrer Existenz einen Grund und dem alltäglichen Leben in ihr einen Sinn gegeben hätte; denn was konnte schöner sein, als sich an seinen Ufern zu ergehen. Auch in der Stadt lag die Wirtschaft darnieder; die Calvinisten hatten die Zeit verschlafen. Nach und nach begriff ich, daß sie bloß noch ein Marktplatz der Eitelkeiten war, ein Mittelpunkt für die umliegenden Ortschaften, dabei selbst nicht mehr als ein Ort, ein Konsumtempel für die Leute vom Dorf, mit einer Kreisverwaltung, deren Einrichtungen von denen der Stadt nur von den Eingeweihten unterschieden wurden; ein potemkinsches Dorf.

10 Calvinismus, Fortsetzung

Calvinisten vermehrten sich nicht. Sie starben aus. Vor meinen Augen starben sie weg. Das, und nicht die Koreaner, war der wahre Grund, warum sie verschwanden. Der wahre Grund der Koreaner, aber das erfuhr ich erst später, bestand in ihrer Teilung. Daß man beim Anblick jedes Koreaners – aber man sah eigentlich keinen – sogleich wußte, daß es sich um einen Südkoreaner handelte, fand ich erstaunlich. Wahrscheinlich war Nordkorea eine Erfindung der Politiker oder Journalisten, nichts Wirkliches, ein Zipfel im Norden eben, vermutlich gebirgig. Daß ausgerechnet das kleine ferne Korea den Calvinisten den Schneid abkaufte, lag daran, daß sie sich vermehrt hatten: durch Teilung. Südkorea, Restkorea also oder, wie wir der Einfachheit halber sagten, Korea, hatte sich durch die Amputation verdoppelt. Das war wie beim Blutspenden: Man zapft dir Blut ab, und die blutbildenden Organe fangen an, wie verrückt zu produzieren. Genauso hatten die Koreaner produziert, wie die Verrückten. Ich stellte sie mir daher hektisch vor. Obwohl ich wußte, daß es sich bei ihrer Ware um Massenware handelte, begegnete ich ihr in den Geschäften nie. Ich stellte mir vor, daß sie Dinge produzierten, die ich nie und nimmer tragen würde, vor allem Kleiderschürzen, eben Textilien.

Mein Vater hatte mir erzählt, daß die Calvinisten viele Kinder hatten. Kinder bedeuteten Segen. Ich dachte sogleich an Waisenhäuser, in denen Kinder auch nicht gezeugt, nur gesammelt wurden. Denn wer hätte je einen Calvinisten zeugen sehen, und wer hätte es von ihm geglaubt! Was für eine Mühe hatte ich gehabt, den Nachbarjungen zum Doktorspielen zu überreden, bändigte seine Lethargie den Forscherdrang doch mehr als jede Moral. Waisenhäuser paßten überdies zu dem Wald, der den Calvinisten von Gott offenbar persönlich überantwortet worden war, damit die Kinder darin spielen konnten; wer sonst sollte Wald schenken. Als ich Jahre später in meine Heimatstadt kam, wuchsen die Bäume noch immer finster und feindselig in den Himmel, aber es waren keine Kinder mehr da. Die Calvinisten vermehrten sich schon lange nicht mehr, mit Rücksicht auf den schlechten Geschäftsgang oder weil sie selbst vertrocknet waren, ein verdorrter Ast am christlichen Baum, aus dem nicht einmal mehr Gott ein Tröpfchen herauspressen konnte. Vermutlich hatte er auch vom calvinistischen Hochmut, speziell von der Arroganz der hageren Mütter mit ihren hoffärtigen Töchtern die Nase voll. Seltsamerweise war ich stets geneigt gewesen, die Väter von der Kritik auszunehmen. Sie glänzten durch Abwesenheit, wo sie doch nur gestört hätten, und sie waren mir immer mit freundlicher Aufmerksamkeit begegnet, beinahe neugierig. Ihr Horizont war weiter, als ihre gesellschaftliche oder religiöse Beschränktheit erwarten ließ. Sie waren Calvinisten, aber sie kannten die Welt. Ihre Gattinnen hielten die Welt für calvinistisch, und wer nicht Calvinist war – sie meinten, von Herkunft, nicht von Bekenntnis, aber seltsamerweise gab es bei den Calvinisten da wenig Widersprüche –, der war kein Mensch. Ihre Söhne, die sich den mütterlichen Schwachsinn nicht leisten, zur Größe der Väter aber nicht aufschwingen konnten, versagten nach den allgemeinen Maßstäben und kamen ins Internat. Sie verschwanden aus meinem Leben, wie sie hineingekommen waren. Ich war sicher, daß Gott sie frühzeitig in Staub verwandelt hatte, um die calvinistische Periode in meinem Leben zu beenden. Er hatte anderes mit mir vor. Wie ferne Weltgeräusche in ein von Mauern umgürtetes Kloster gelangten später, als wir flügge wurden, Andeutungen von Partys, Orgien, bis zu mir. Das Geräusch kam von da, wo die Calvinisten hausten. Aber die Gerüchte berührten mich nicht sonderlich, und ich ging mit ihnen auch nicht anders um als mit allen großen Kränkungen, die ich in meinem Leben erfuhr. Ich glaubte sie nicht, wußte ich doch, daß im verödeten Park noch immer eine Schaukel von mir träumte. Ob ich daher eingeladen wurde wie alle andern oder als einzige nicht, spielte keine Rolle. Manchmal war aussortiert zu werden sogar eine Ehre, ließ auf eine Bestimmung schließen. Andererseits wollten sie bestimmt keine Zeugen. Sie mußten einander nichts beweisen. Sie waren nicht – wie hieß das schöne Wort – satisfaktionsfähig und durften dafür Partys feiern. Ich hätte ihnen bloß ein schlechtes Gewissen gemacht, und ohnehin entsprangen die Orgien nur der Phantasie von Kleinstädtern und entbehrten jeder Grundlage.

11 Diaspora

Wenn man in der Diaspora lebte, hatte es keinen Sinn, etwas Besonderes sein zu wollen. Man war etwas Besonderes. Die Konstellation warf ein Licht auf das Wesen der Besonderheit. Auch im äußersten Fall, wenn man ein Genie war oder Gott persönlich, gehörte sie zu den Zufällen, den Umständen, den Mißhelligkeiten. Man konnte sich auf sie etwas einbilden, man konnte etwas aus ihr machen. Aber sie war nichts. Speziell auf religiösem Gebiet machte es keinen Sinn, etwas Besonderes zu sein. Besonderheit zielte auf Sekte. Gemessen am religiösen Anspruch auf Wahrheit, war Sekte ein Widerspruch in sich. Besonderheit war punktförmig. Sie hatte ihre eigene Intensität und Leuchtkraft; von den Bildern mancher Schauspieler konnte ich nicht den Blick wenden. Wahrheit war allgemein. Die einzige Besonderheit, die ich mir zugestand, war, diese Tatsache zu begreifen; von innen heraus natürlich.

Für den Calvinismus interessierte ich mich nicht, sowenig wie für das Protestantische. Wenn er zu letzterem aber die Steigerung war, dann mußte er etwas Besonderes sein. Und wenn man bedachte, daß die Pyramide die Form oder das Schicksal der Steigerung war, weil die Luft nach oben nun einmal dünner wurde, und bereits der Protestantismus sich auf einem Irrweg befand, dann konnte der Calvinismus nur eine ganz unerhebliche Minderheit betreffen, und lediglich Reichtum und ein gehöriger Dünkel hatten die Calvinisten offenbar vor den Peinlichkeiten der populären Sekten bewahrt.

Mit der Religion war es anders als im täglichen Lebenskampf, wo die Schlauen nur wenige waren, die Klugen noch weniger und die Weisen regelrecht selten. Mit der Religion war es wie mit den Grundfertigkeiten, die in der Volksschule vermittelt wurden. Alle mußten am Ende lesen und schreiben können, während man im Gymnasium in Mathe ruhig eine Fünf haben durfte. Das heißt, die andern durften in Mathe ruhig eine Fünf haben, ihr Abitur bestanden sie trotzdem. Wir hatten in Religion und Sprachen tunlichst eine Eins und in Mathe mindestens eine Drei; das isolierte. Aber in der Neuen Kirche quetschten wir uns mit Armen und Reichen, Dummen und Klugen in eine Bank. Reiche gab es unter den Katholiken kaum, das hing mit den Flüchtlingen zusammen. Generell aber galt: Klugheit und Allgemeinheit, das gab Power!

Aus der Apostelgeschichte wußte ich, daß man ohne Gefahr in der Diaspora leben konnte; ich meine, ohne Gefahr für die Wahrheit. Diaspora und Sekte standen zueinander in einem hochinteressanten Verhältnis, nämlich in gar keinem. Diaspora hatte mit Unwahrheit und mangelnder Allgemeinheit nichts zu tun. Im Gegenteil, sie machte sowohl klug als auch lebendig; ihre Unterlegenheit war ein Antrieb, da mochte man kaum noch von Zufall sprechen. Wer als Priester eine Glaubenskrise hatte, der wurde ja auch nicht nach Spanien oder Italien, sondern in die Diaspora geschickt, so wie jemand, der seines Reichtums überdrüssig war, nicht auf eine reiche Hazienda, sondern in einen Slum oder zu einem Bergstamm geschickt wurde. Dort lernte er, sich seiner Privilegien wieder zu freuen.

In der Diaspora lernte man, sich seiner Religion wieder zu freuen. Das war merkwürdig, aber ich erfuhr die Richtigkeit dieser Behauptung tagtäglich am eigenen Leib. Es stimmt schon, daß ich gelegentlich ganz gern zur Mehrheit gehört hätte, aber in dem schon angesprochenen Sinn, daß ich auch gern einen Haufen zweifelhafter Vettern und Kusinen, einen ganzen Stall voll zwielichtiger Neffen und Nichten gehabt hätte, die aus den früh geschlossenen Ehen meiner älteren Geschwister, vielleicht von unbekannten Stiefgeschwistern stammten, deren ungebetene Existenz das gesamte Familienbild höchst angenehm verdunkelt hätte. Meine Freundinnen teilten sich in solche, die über ihre Religion vor lauter Dünkel überhaupt nicht sprachen – vielleicht waren sie als Kinder noch nicht zugelassen und hatten tatsächlich nichts zu erzählen – und solche, die sich nicht für sie interessierten, als typische Vertreter der Mehrheit antriebslos und eher lasch waren. Sie ernsthaft um ihre Lebensform und ihre Einstellung beneiden konnte ich nicht, wenn ich auch von Herzen gern ihre himmlische Gleichgültigkeit geteilt hätte und so richtig mittelmäßig gewesen wäre.

Vielleicht war die Diaspora der einzige Ort, wo die Wahrheit aller mit der Klugheit weniger Hand in Hand ging. Diaspora, das war Mehrheit in punktförmiger Reduktion oder qualitative Mehrheit in der speziellen, aber immer noch kompatiblen Form der Minderheit. Entscheidend war, daß der Glaube nicht erstarrte, zugleich total und lebendig war, und dazu gehörte die Form der dynamischen Minderheit beziehungsweise Respekt vor der bitteren Erfahrung, daß Mehrheit mit Erstarrung, Minderheit mit Lebendigkeit zusammenging; eine Erfahrung, die auf den Himmel als die einzig legitime Einheit von Totalität und Lebendigkeit verwies. Ich hätte es mir anders gewünscht, konnte aber die höhere Vernunft der Verhältnisse nicht leugnen. Überhaupt lieferte die Diaspora für mein Grübeln einen der Hauptanlässe und eines der Lieblingsmodelle. Auf diesem Gebiet oder dank dieses Gegenstands war ich entschieden frühreif; nicht altklug, sondern frühreif.

12 Evangelisch und katholisch

Freunde und Feinde, so reimte ich mir die Sache zusammen, arbeiteten zusammen wie aus einem Geist und Gefühl, wenn es darum ging, meine geistige Überlegenheit zu fördern, dafür meine Unschuld zu schützen. Die Möglichkeit, daß ihnen bloß der Katholizismus unheimlich oder meine Familie zu streng beziehungsweise, je nachdem, zu gut oder aber nicht gut genug war oder daß ihnen an mir nichts lag, ließ ich sich gar nicht erst zu einem Verdacht kristallisieren; ich hätte mich nicht von ihm erholt. Außerdem waren einfache Erklärungen immer schief. Eine meiner besten Freundinnen war evangelisch und wurde, wenn sie von einem Jungen heimgebracht wurde, von ihrer Mutter rechts und links geohrfeigt, ich nie. Wenn es denn wirklich mal Begleitung gab, wurde ich weder gemaßregelt noch bestraft, eher mit Scheu behandelt, so als wäre ich besessen oder krank. Ich galt als gefährdet. Der Himmel wurde zum Zeugen dafür angerufen, daß es mit meiner Zukunft vorbei war, noch ehe sie angefangen hatte. Meine Freundinnen konnten die Jungen in alles mögliche hineinziehen und wurden von ihnen trotzdem nicht gemieden. Sie waren auf jeder Party zu finden. Ich wurde aufgespart, das bedeutete nicht eingeladen.

Vermutlich lag es doch an der Religion. Meine katholischen Freunde aus der Volksschule hatten sich verkrümelt, der Herrgott mochte wissen, warum. Zwar von tadellosem Bekenntnis, hatten sie sich als nicht gut genug herausgestellt. Hier rächte sich, daß wir Diaspora waren. Die Auswahl war zu gering, die gewachsenen Unterschiede fehlten. Unterschicht regierte, auch wenn allein schon das Wort eine Ohrfeige in Gottes Antlitz hätte sein müssen; die Leute wollten einfach nicht höher hinaus. Die Mädchen heirateten, bevor sie anfingen zu sündigen; das war lange, bevor ich sündigte, ohne zu heiraten. Nur wer keine Perspektive hatte, richtete seine Neugier, sein ganzes Interesse auf diesen einen Punkt. Da aber über das, was unabdingbar zur Heirat führte, nie geredet wurde, auch von denen nicht, die es wissen mußten und die zum Teil meine vertrautesten Freundinnen waren, geschah es vermutlich im Zustand der Ohnmacht. Ganz sicher aber führte die Verdoppelung durch die Ehe zur Halbierung der Partner; siehe Nordkorea.

Unmerklich rutschte ich auf die Seite der Nichtkatholiken. Meine neuen Freundinnen hatten Verabredungen bereits in einem Alter, da hätten mich meine Eltern aus Ahnungslosigkeit noch mit jedem Jungen spielen lassen. Sie vergaßen sich ständig, aber es passierte nie etwas. Ihre eigentümliche Form der Nichtreligion bewahrte sie offensichtlich davor, oder sie verfügten über Praktiken, von denen die katholischen Mädchen und Jungen nichts ahnten, vollzog sich bei ihnen doch sogar noch die Sünde in gottgefälliger Form. Im Religionsunterricht war uns gesagt worden, daß Protestantismus keine Spaltung, sondern ein Verzicht auf Religion war und Säkularisierung zur Folge hatte, nicht Reform, also, sondern eine mehr oder weniger platte Orientierung auf die Gesellschaft. Religion war der Protestantismus gewesen, als er noch katholisch war. Mit seiner Entscheidung, protestantisch zu werden, hatte er aufgehört, religiöses Bekenntnis zu sein, egal, was Personalausweis und Steuererklärung dazu äußern mochten. Er hatte aufgehört, Religion zu sein und war Gesellschaft geworden. Das war schwer verständlich, schlechthin unvorstellbar angesichts der Flüchtigkeit alles Irdischen, der Armseligkeit des Ausdrucks »Gesellschaft«, aber begreiflich, wenn man das Leben selbst betrachtete. Irgendwie schafften die Evangelischen es, aus jeder Katastrophe eine Episode zu machen, aus einer tödlichen Bedrohung ein Rendezvous mit dem Leben.

Evangelisch sein hieß folglich: gar nichts sein. Es war eine Aufforderung, die durch die Säkularisierung erzeugte Leere zu füllen. Wer eingesegnet wurde, sah sich deshalb tunlichst nach Jungen um. Mit jemandem gehen füllte die Leere. Ich war bereits im zarten Alter von zehn zur Ersten Kommunion gegangen. Angstvoll wartete ich seitdem jede Nacht, ob Gott mich rief. Das war eine einsame Tätigkeit, die mich den Freundinnen innerlich entfremdete; äußerlich gerade mal so, daß man nicht wußte, woran es lag.

Wer gerufen wurde, mußte den Schleier nehmen, sofern er eine Frau war, und die Pforten des Klosters schlossen sich hinter ihm – und vor seinen Freundinnen. Wenn ich Priester hätte werden können, hätte ich in die von Gott dargebotene Hand tapfer eingeschlagen, ich wäre ohne zu zögern Jesuit geworden. Daß Gott mich nicht rief, um seine Braut zu werden, bedeutete Kränkung und Rettung zugleich. Ich begegnete den Nonnen auf der Straße, natürlich nur solchen, die das Kloster verließen, um fremde Kinder zu erziehen und den Armen und Kranken beizustehen, in Wirklichkeit, dachte ich, weil sie ihren Geselligkeitstrieb nicht zügeln konnten. Wie konnte man freiwillig die schützenden Mauern verlassen, wenn man sich einmal überwunden hatte hineinzukommen! Nicht einmal den breiten Dialekt hatten diese Frauen abgelegt. Ein kritischer Blick unter den derben Schleier verriet, daß eher ästhetische als religiöse Gründe ihre Partnerwahl bestimmt hatten; nur, warum hatte Gott sie gewählt? Ich sah in den Spiegel und entdeckte die gleichen ländlichen Backen wie bei ihnen. Was, wenn Gott auf die äußere Ähnlichkeit hereinfiel und mich rief!

Gott war groß. Aber in kleinen Dingen konnte auch er irren. Er besonders, dem die kleinen Dinge so fern waren. Was nicht hinderte, daß ihm in großen unbedingt Vertrauen zu schenken war. Aber an kleinkarierter Wahrheit war er nicht interessiert. Das hatte ich schon herausgefunden: Philosoph war er nicht. Zum Beispiel mußte er nie etwas beweisen. Er mußte nichts begründen, und rechtfertigen mußte er sich schon gar nicht. Das ganze System galt für ihn nicht. Bis die Juden das kapiert hatten, hatte gedauert. Beharrlich hatten sie ihn zur Rechenschaft genötigt. Gott als Oberrabbiner; was für eine Verdrehung der Tatsachen! Gleichzeitig beneidete ich sie um ihre Kühnheit, die Umstandslosigkeit, mit der sie mit ihrem Gott verhandelten. Dieses Verhältnis war weder stumm noch einseitig. Wenn sie gut drauf waren, mußte er wollen, wie sie wollten, und umgekehrt war eben umgekehrt, aber hinterher machten sie ihm die bittersten Vorwürfe. Ich dagegen wartete Nacht für Nacht auf ein Zeichen, daß er mich rief. Berufung hieß ja, stumm auf dies Zeichen zu warten; die dialogische Seite der Berufung, das Hören und Antworten, blieb mir verschlossen. Dadurch daß ich es womöglich übersah, konnte ich unermeßliche Schuld, die Erbsünde noch einmal auf mich laden. Eine Zufallsäußerung aber, ein kleines Rülpsen überzuinterpretieren, wie wir das in der Schule nannten, würde mich für mein Leben unglücklich machen. Im Kampf gegen das, was ich jederzeit vernehmen konnte, wurde ich hohläugig, auch scharfsinnig; denn ich kämpfte an mehreren Fronten, klatschte mir mit den Händen gegen die Ohren, wenn ein Geräusch im Anzug war, und lauschte auf die Botschaft, die ich selbst erzeugte.

Wenn Gott rief – und ich hoffte inständig, ich würde es nicht überhören, es sei denn, ich wäre physiologisch und damit schuldlos taub –, wenn ich ihn also hörte, dann mußte ich wollen wie er. Ich mußte mit allem brechen, was mich mit dem Leben verknüpfte. Ich mußte nicht nur einzelne Freuden aufgeben, ich mußte das System wechseln. Nicht mehr und nicht weniger war mit dem Ausdruck »den Schleier nehmen« gemeint.

Wenn er mich aber nicht rief – und tagtäglich wuchsen bei mir Hoffnung und Furcht, denn rein kalendarisch, so meinte ich, spitzten die Dinge sich zu –, dann weil auch er sich an gewisse Fakten halten mußte.

13 Spiritualismus

Wenn Gott mich nicht rief, dann weil er sich darüber im klaren war, daß ich keine Frau war, jedenfalls nicht im geläufigen Sinn, als Unterbestimmung des Menschen. Ich würde nicht nur eine unglückliche, sondern auch eine schlechte Braut abgeben. Jedes dicke Landmädchen, das von seinen Eltern mehr geschoben, als von Gott gezogen wurde, wäre eine bessere Braut als ich.

Wenn es aber eine Grundregel gab, an die Gott selbst sich halten mußte, dann die von den Talenten. Das betraf ihn unmittelbar, rührte an seine wesentliche Tätigkeit, sein Gottsein. Man durfte seine Talente nicht vergraben. Und er durfte nicht das Grab sein!

Hier mußte ich förmlich schreien, um die Gegenstimmen zu übertönen, die nämlich das Grab priesen und das Verschwindenlassen göttlicher Anlagen in die taube Welt hinausriefen, als Gottes letzten Triumph. Es waren begabte, aber abstrakte Geister, die Leben hergaben für Geist, nicht Geist für Leben, Ekstatiker, ihrem Temperament und Gebaren nach, dabei doch nichts als Logiker, Verwerter oder eigentlich Umwerter. Ihr Talent war ihr Pfand. Sie setzten es ein, so wie andere ihren großen Namen, ihre hehre Abkunft einsetzten, und bekamen Gottes Ruhm dafür oder die sinnfällige Verdeutlichung von etwas, was mehr war als Talent. Für sie war es also kein Zweck, der gefördert, Brot, das vermehrt, sondern ein Mittel, Material für Höheres, das sich darin ausdrücken konnte, darum selbst hoch.

Das Talent, das im Kloster vergraben wurde, ging auf mystische Weise nicht zugrunde. Daß es zugrunde ging, verwandelte sich in Gottes Ruhm. Wer Gott nahe war, brauchte kein Talent. Das Talent war flüchtig, Gott ewig; dabei hatte ich gedacht, daß das Talent, allein schon durch seine Bindung an die Zukunft ewig war. Nicht bloß auf die proportionale Entsprechung von irdischem Gebrauchswert und himmlischer Spiritualität kam es an, sondern darauf, daß das eine dem andern geopfert wurde. Das letztere mehr als das erstere bewies die Primitivität des mittelalterlichen spirituellen Denkens; ich hätte auch sagen können, das erstere bewies die Primitivität des mittelalterlichen Denkens, das letztere die seiner Spiritualität.

Ich mußte zugeben, daß es beides gab: wunderbare Vermehrung und wundersame Verwandlung. Ausgerechnet das Wunder der Brotvermehrung hatte sektenförmige Abspaltungen begründet, während noch die absonderlichste Weltflucht die weltliche Macht der Kirche gestärkt hatte. Mit dem Brot hatte es etwas Primitives auf sich, da es nur quantitativ vermehrt werden konnte, während Gott mit dem Talent einen göttlichen Samen in uns gelegt hatte. Wir sollten wie Gott werden; das hieß, wir sollten unser Talent mehren. Allerdings mußte sich Gott nach seinem eigenen Gleichnis richten. Wir waren sein Talent. Uns mußte er mehren. Wäre die Welt aber in Ordnung oder ich in Ordnung beziehungsweise Gott in jedem Moment seiner Schöpfungsabsicht ganz bei Trost oder auch nur auf der Höhe seiner Absicht gewesen, dann hätte ich den Schleier nehmen können, und es wäre kein Vergraben, es wäre eine wundersame Vermehrung gewesen. Da aber ein Riß durch Gott, folglich durch mich und die Welt ging, mußte ich mich entscheiden, ob ich mich auf die Seite meines Talents oder auf Gottes Seite stellen wollte. Die Antwort war, gemessen an der ungeheuren Kompliziertheit des Problems, geradezu simpel: Da meine Talente noch unentdeckt und unbekannt waren – und wer weiß, vielleicht hatte ich ja kein Talent –, konnte ich gar nicht anders als mich auf ihre Seite stellen, hatte ich doch nichts, was ich in die Waagschale werfen und womit ich den Eintritt ins Kloster erzwingen konnte; es sei denn, Gott hätte meine Defizite, meine Unausgeglichenheit, meine widersprüchliche Verfassung, meine fehlende Verankerung als Zeichen eines tiefen Glaubens gewertet, aber dazu war er längst zu gewitzt, will sagen zu selbstbewußt Kirche. Ja, wäre ich aristokratischer Abkunft gewesen und hätte selbst die Qualität eines Zeichens gehabt! Aber dann hätte ich nicht ins Kloster zu gehen brauchen. Mein Leben hätte ohne Einmischung von außen, ja ohne mein geringstes Zutun einen Sinn gehabt; was sag ich gehabt, es hätte Sinn in die Welt gebracht und auf diesem Umweg auch zu mir, so daß ich sogar den Schleier hätte nehmen und mich, wie es bei aristokratischen Damen heißt, ins Kloster zurückziehen können.

Man konnte das auch kirchenpolitisch erklären. Wie der Gymnasialpfarrer andeutete – und er war froh, es einmal nicht mit einem Landmädchen zu tun zu haben, aber entsetzt über meine Absichten –, war die Kirche nicht ohne weiteres imstande, mich zu integrieren, zumal ich nicht Priester werden konnte, weil ich eben kein Mann war. Vielleicht war sie zu sehr Glucke geworden, was gegenüber dem männlichen Geschlecht förderlich, aber gegenüber Frauen fatal war. Da sie für mich keine adäquate Verwendung hatte, war es für sie besser, wenn ich als Katholikin im weltlichen Rahmen Karriere machte. So konnte sie auf mich zeigen, stolz auf mich sein. Katholisch, wie ich mit meiner Existenz kundtun würde, war nicht nur für Doofe.

Auch für mich war es seiner festen Überzeugung nach besser. Hier kam er zwanglos auf das Gleichnis von den Talenten zu sprechen, das für ihn kein Lehrstück, sondern Ausdruck praller Lebenserfahrung war; ich vermute, Erfahrung hatte es, von ihm unbemerkt, entsprechend verändert. Jeder – das sagte ihm zufolge nämlich das Gleichnis – wurde entsprechend seinen Fähigkeiten gefordert; der Arzt, kurz gesagt, als Arzt, wer es zum Dienstmädchen brachte, eben als Dienstmädchen, die dritte oder vierte Tochter – Gott verhüt die elterlichen Sorgen – als Nonne. Der Pfarrer war nicht verstiegen genug, sich zu fragen, ob Gott nicht lieber umgekehrt tüchtige Frauen ins Kloster schicken sollte, da ihnen die kirchliche Hierarchie ohnehin verschlossen war, Landmädchen aber in einen Beruf, als Dienstmädchen zum Beispiel, wo ihnen alles mögliche zustoßen konnte, nicht nur ihnen, sondern auch der Kirche, der sie angehörten, zum Schaden; das hieß von Gott verlangen, daß er göttlicher als Gott sein sollte. Der Gymnasialpfarrer unterrichtete wie gesagt an Gymnasien, und es mußte ihm schon gestattet sein, sich eine realistische, nicht zum Mysterium zusammengeschnurrte Vorstellung vom christlichen Leben zu machen und seine Schüler, besonders die Schülerinnen, zu einer solchen Sicht zu erziehen. Hier war Knochenarbeit zu leisten, typische Nachkriegsarbeit, übrigens, eine Verwandlung, die der göttlichen vom Aufwand her beinahe gleichkam, von Roheit in Kultur.

Ich fand seine Erklärung oberflächlich. In all dem Wohlwollen spürte ich auch das Verbot. Was mir vorschwebte als das einzige, was wirklich aufregend gewesen wäre und gelohnt hätte, auf fremdem Gebiet zu mir zu kommen, zum Beispiel auf dem erotischen meiner protestantischen Freundinnen, auf dem religiösen der katholischen Landmädchen oder im finsteren Reichtum der calvinistischen Erben, das war bestenfalls leichtsinnig, vermutlich Zeichen einer Krise; es würde unterbunden werden. Ich war nicht nur unzufrieden, sondern auch unglücklich. Mir war, als müßte ich im Gefängnis meiner Begabungen verkümmern.

Mit dem Pfarrer sprach ich übrigens erst hinterher, beim Abschied, als Furcht und Hoffnung ausgestanden waren. Ich wollte ihm zeigen, daß ich doch dichter dran gewesen war, als er geglaubt oder es den Anschein gehabt hatte, und ihm eins auswischen; ich junge Frau war religiöser gesonnen als er. Daß er, der Kirchenmann, die klösterliche Perspektive für mich ablehnte, kränkte mich noch nachträglich, als ich schon anderes im Sinn hatte, sagen wir Geist ohne Gott. Es mangelte ihm an Unbedingtheit, fand ich, und dabei war er hochgebildet, beinahe Philosoph. Geistliches Wissen war in seiner Jugend in ihn hineingepumpt worden und hatte in seinem Kopf Platz gefunden. Er hatte in Rom studiert, die Stadt der Katakomben und des jugendlichen Glaubens brachte er zu uns ins Klassenzimmer; auch wir waren jung, durften uns angesprochen fühlen. Im Krieg war er verschüttet gewesen. Seitdem man ihn ausgegraben hatte, hielt er die Welt für das Paradies. Ohne es zu merken, war mein Beichtvater und väterlicher Freund Protestant geworden. Die Kirche aber würde ihn, anders als Luther, nicht zur Ordnung rufen, sondern ihn demnächst pensionieren.

Protestant sein hieß, daß man auf religiösem Gebiet nicht ernstzunehmen war; daß man den absoluten Glauben verloren hatte. Realismus, die Verabsolutierung der Erfahrung, war allenfalls eine Folge dieses Verlusts, aber kein konkurrierendes Modell und vor allem keine Erklärung.

14 Scholastik

Wenn Gott mich nicht gerufen hatte, dann aus dem einzigen Grund, weil er nicht tüftelte. Er verfügte über keine Grammatik des Nur. Er redete nicht wie die Menschen. Er sagte nicht: Schade, daß dieses Mädchen kein Junge ist, sonst hätte es Jesuit werden können; so wie die Dinge stehen – rebus sic stantibus –, kann es nur meine Braut werden. Er redete auch nicht wie die Priester: Die Kirche ist ein Haus mit vielen Stockwerken und so weiter. Das war die Sprache der Scholastik. In ihr gab es Ausdrucksmöglichkeiten für alles mögliche, auch für das, was es nicht gab. Es gab halbe Möglichkeiten, Viertelmöglichkeiten oder, wie der Gymnasialpfarrer betonte, der vor lauter Lebenserfahrung längst Protestant geworden war, weltliche Möglichkeiten, solche, die lediglich ein Hinweis aufs Unbedingte, selbst aber alles andere als unbedingt waren. Wer nicht Priester werden konnte, weil er eine Frau war, wurde nicht Klosterfrau, sondern Präsidentin des Hausfrauenbunds oder Familienministerin, sofern sein Talent dem eines Priesters entsprach. Das war eine seltsame Auslegung.

Wer nicht Priester werden konnte, obwohl er das richtige Geschlecht hatte, aber zu arm oder zu dumm für den Priesterberuf war, wurde übrigens nicht Mönch, sondern Laienbruder, Kleiner Mönch. Mit ihm war es etwas Paradiesisches, etwas, worauf man nicht gekommen wäre, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Er war nicht wie Gott, so wie der Priester, wenn er die Sakramente reichte, zu denen er, der Laienbruder, keinen Zutritt hatte: er war bei Gott.

Auch der Laienbruder kannte das Bild von der Kirche als Haus mit einem großen Dach – und er in der Dachkammer. Der Psalm sang von Schutz und Schirm, und es gab kein schöneres Lied. Nur dachte der Laienbruder dabei nicht an die Kirche, sondern an Gott. Das war überhaupt der entscheidende Unterschied, wenn ich dem Gymnasialpfarrer glauben durfte, der intellektuelle Unterschied, der zwischen Mittel- und Oberstufe, die entscheidende Information, die man bis zur Oberstufe zurückhielt, weil die mit der Mittleren Reife doch nichts damit anfangen konnten und sich lieber gleich an Gott hielten oder an den lieben Gott: Gott war konkret, also für Dummköpfe, die Kirche war abstrakt.

Gott, der Göttliche, war konkret, und die Kirche, die Weltliche, abstrakt. Seltsam.

Wenn der Laienbruder an die Kirche dachte, dann nicht wie an ein Haus, sondern wie an einen Pilz mit breitem Hut, und er, der Kleine Mönch, stand darunter. Wenn der Regen prasselte, daß die Tropfen bis unter die Kappe sprangen, Gewitterblitze den Himmel marmorierten, Landregen durch die Jacke drang, dann lehnte er sich an den soliden, an der richtigen Stelle leicht gebuckelten Stiel und war zufrieden. Mochte das Dach der Himmel oder die Kirche sein, Gott war der Stamm.

Da der Kleine Mönch, wenn er nicht die Latrinen der Priester putzte, sich ohnehin meist im Garten beschäftigte, war er immer der schnellste unter dem Pilz, und kein Jesuit der Welt konnte ihm den trockenen Platz streitig machen.

Im Vergleich mit den Frauen stellte der Unterschied zwischen Mönch und Laienbruder sich als geringfügig heraus, ja was den geeigneten Weg zum Himmel, das wahre Leben betraf, war hier sogar Irrtum möglich, echte Konkurrenz. Womöglich handelte es sich um eine bloße Auslegungsdifferenz, und Originalität stand gegen Originalität. Im Verhältnis von Mönch und Nonne war dagegen der Substanzunterschied weder durch Irrtum noch durch Schein zu bemänteln. Das ging schon daraus hervor, daß sie ja kein wirkliches, nur ein begriffliches Verhältnis zueinander hatten; sie hatten nicht das geringste miteinander zu tun. Daß der Priester den Nonnen die Beichte abnahm und ihnen das Sakrament reichte, war eine Monstrosität, wie sie nur die Kirche als Institution erdenken und woran nur eine Institution wie die Kirche ein Interesse haben konnte. Sich so etwas auszudenken hätte auf einen gefährlichen Wirklichkeitsverlust, eine beängstigende Phantasie hindeuten müssen. Die Einheit der Kirche erforderte offenbar solch seltsames Verfahren. Dabei wäre es nur logisch gewesen, wenn die Nonnen mit ihrer demonstrativen Absage an die Welt das Recht zum Gebrauch der Sakramente erworben hätten oder ihrer nicht bedürftig gewesen wären, waren sie doch selbst sakramental und der Gedanke, daß man ihnen etwas verabreichen mußte, ein Sakrileg. Entweder sie waren wie Gott, oder sie waren nichts. Dieses Nichts war die Falle, die die Kirche für die Frau, wenn sie denn heilig werden wollte, bereithielt.

Im Verhältnis zum Himmel war die Nonne wie ein Wölkchen, im Verhältnis zu Gott ein leeres Wort, das lächerlicher Weise Gestalt angenommen hatte. Mönch und Laienbruder dagegen waren wirklich. Der eine wirkte im Garten, der andere in der Kirche; beinahe hätte ich gesagt, sie brauchten Gott nicht. Zwar machten beide Anspruch auf das Paradies, aber da der Kleine Mönch weniger Anspruch machte, hatte er womöglich die besseren Chancen – bekanntermaßen war ja das Verhältnis zwischen Diesseits und Jenseits umgekehrt proportional, je mehr hier, desto weniger dort –, der Jesuit zum Beispiel, in seinem nicht überwundenen Ehrgeiz, war im höchsten Maße gefährdet. Ja, wenn es ein Paradies neben dem Paradies gegeben hätte, einen Himmel neben dem Himmel, je einen für die, die die Erde für den Himmel, und die, die den Himmel für die Erde hielten! Die Jesuiten hätten ihren Himmel mit den merkwürdigsten Gestalten geteilt, ich denke bloß an die Existentialisten. Sie hätten ihn mit all denen geteilt, die ihre geistigen Ansprüche zwar geläutert, den Himmel mit voller Absicht verspielt, aber ihre Gottgleichheit nicht überwunden hatten.

»Die Himmel rühmen des Ewigen Werke.«

Auch wenn der Jesuitismus, das ganze Priesterwesen, letztlich vom Neid auf die Einfältigen diktiert war, von der unfreiwilligen Einsicht, daß der Platz bei Gott besetzt, daß überhaupt Anlehnung unvergleichlich viel schöner als Ähnlichkeit, »bei« unvergleichlich viel schöner als »wie« war, so ergab sich daraus noch nichts, was auf Weiblichkeit deutete. Weder war sie einfältig, vielmehr abgeleitet, also notgedrungen intellektuell, und außerdem nicht ähnlich; also weder »bei« noch »wie«, im Grunde gar nichts, ergo überflüssig.

Arm im Geist, aber wahrhaft groß im Vertrauen, stand der Laienbruder neben Gott. Aber auch die Frau stand neben Gott; wo sonst sollte man stehen, wenn man mit sekundären Geschlechtsmerkmalen ausgestattet war. Der Kleine Mönch war, wie der Name sagte, kleiner als Gott, die Frau anders. Es stand also die Frau genauso wie der Kleine Mönch neben Gott – wobei der andere jeweils wegzudenken war –, aber aus Gründen der Verschiedenheit, nicht der Nähe. Eigentlich hätte sie darum in den Himmel für Jesuiten und Existentialisten, in den Himmel für Nicht-Frauen gehört. Da wollte ich hin.

Hätte es die Muttergottes nicht längst gegeben, wahrhaftig, ich wäre überzeugt gewesen, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Stattdessen hatte ich nur eine der unzähligen Platitüden der Kirchendogmatik rekonstruiert.

Unter der Hand war mir der Kleine Mönch zu einem Jungen geraten, der unter die Achsel Gottes schlüpft wie unter den Mantel der Muttergottes. Tatsächlich stand er wie ein Kind neben seiner Mutter und nicht wie ein Mann neben Gott. Ein Mann konnte das. Eine Frau konnte nur als Braut neben ihrem Mann stehen. Da lag der Hase im Pfeffer: Es gab kein Neben zwischen Mann und Frau.

15 Rückfall in Philosophie und Schluß – Erfreulicher Ausblick

Meine heftigen, von scholastischen Minderwertigkeitskomplexen und religiösen Wahnvorstellungen gezeichneten Jugendängste hatten nie an den innersten Kern meiner Überzeugungen gerührt – sonst wäre ich nämlich Nonne geworden, dieses Dranrühren wäre der Ruf gewesen! Gott tüftelte nicht. Er wußte, daß er in mir so etwas wie einen Kumpel hatte. Er sagte: Dieses Mädchen geht in seiner irdischen Beschaffenheit nicht auf; da ich es nicht als Priester berufen kann, muß es sich seine Bestimmung selbst erfinden.

Ich fühlte mich mit diesem Problem nie wirklich allein gelassen. Offenbar war Gott entschlossen, mir zu helfen. Mich nicht zu berufen war ein enormer Eingriff seinerseits, seine Weigerung eine enorme Hilfe, die zu weiterer Hilfeleistung verpflichtete, zu beständiger Solidarität. Ich dachte mir Gottes Solidarität ganz konkret: vor allem als Bewahrung vor unbedachten Bindungen, dann aber auch als den substantiellen Grund, warum er mich bewahrte. Talent nämlich war der Hinderungsgrund für meine mögliche Berufung. Geschlecht konnte kein Hinderungsgrund sein; du wurdest Nonne oder Mönch. Du mußtest dich nicht einmal entscheiden. Mit dem Talent war es etwas anderes.

Bestimmt hatte mir Gott ein Talent gegeben. Sonst hätte ich ja seine Braut werden können. Da es mich hinderte, seine Braut zu werden, lag der übliche Trugschluß, der Gedanke nämlich an ein männliches Talent, nahe. Ich war aber selbstbewußt genug zu wissen, was andere in einem langen Leben nicht kapierten: daß Männlichkeit nicht die Substanz, die wahre Natur des Talents, sondern nur eine Einfärbung war, sagen wir eine unfreiwillige Veranschaulichung von etwas, was, nicht veranschaulicht, immer in der Gefahr war, nicht zu existieren. So wie man sich den Himmel mit Menschen bevölkert dachte, so mußte man sich das Talent männlich denken; weil weibliche Assoziationen wie etwa Braut an alles andere als Talent denken ließen.

Die Bedeutung des Männlichen konnte gar nicht primitiv genug vorgestellt werden. Da die Weiblichkeit aus dem Talent ausgeschieden war, ordnete es sich um desto entschlossener der Männlichkeit zu; das war alles. Dabei war Talent, seinem klangvollen Wortcharakter nach, weder männlich noch weiblich, Körper oder Geist, auch nichts, was zwei Hälften verband, sondern ein Ganzes. Alle Einschränkung bestand darin, daß es per definitionem eine Möglichkeit, bissige Zungen hätten gesagt bloß ein leeres Versprechen war. Ganz anders die Intelligenz. Die hielt, was sie versprach.

Ich haßte die gesamte Aufrechnerei, das binäre System, das sich in die Definition des Menschen eingeschlichen, ihm seinen Stempel aufgedrückt hatte. Dabei gab es ungeschlechtliche Begriffe: Kind. Obwohl ich nicht Priester werden konnte, lernte ich mit Begeisterung Latein: homo, der Mensch, der Mann, der Homosexuelle. Indem die Spezifikation den Begriff füllte, leerte sich das von ihm abgesteckte Feld. War da noch etwas zwischen Mensch und Mann, das sich gegen den synonymen Gebrauch sperrte? Hätten die Additionstheoretiker und scholastischen Lückenfüller recht gehabt, dann wäre Gott der einzige einigermaßen vollständige Mensch gewesen. Er war aber Gott. An mir lag es, den Menschen um die mit seiner Spezifikation einhergehende Beschränktheit zu bringen.

Ich dachte allmählich weniger an Gott, schlief besser und schielte weniger enthusiastisch nach den Jesuiten. Sie waren empirisch. Ich war utopisch.


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