Ilse Bindseil

Aus allen Wolken

Roman meiner Kindheit

Zum Inhaltsverzeichnis

Nachspiel: Religion und Hexerei (II)

  1. 1 Kinderspiele
  2. 2 Freundinnen
  3. 3 Meine Schwester
  4. 4 Meine Schwester, Fortsetzung
  5. 5 Fortsetzung
  6. 6 Sie und ich – Übergriffe
  7. 7 Übergriffe, Fortsetzung
  8. 8 Übergriffe, Ende – Symbiose
  9. 9 Liebesspiele
  10. 10 Lesemappen und das Bett meiner Eltern

Nachspiel: Religion und Hexerei (II)

1 Kinderspiele

Der Nachbargarten meiner Kinderjahre, ein Park, wie aus dem Wald herausgeschnitten, mit altem Baumbestand, dessen gärtnerischer Plan längst nicht mehr zu erkennen war, war alles andere als heimelig, wenn auch nicht so tot wie die Gründerzeitvilla, die er in den tiefsten Schatten rückte, so daß sie unbewohnt wirkte; undenkbar, daß sie Kinder beherbergte, und wenn, dann waren sie dort eingesperrt wie Hänsel und Gretel, würden nicht geradezu geschlachtet werden, aber verkümmern. Die älteste Tochter, die uns Kirschengeilheit unterstellte, gehörte nicht zu ihnen. Ich interessierte mich für ihre persönlichen Umstände nicht, ging eher davon aus, daß es keine gab, und fragte auch mich nicht, wo sie sich in den Zeiten aufhielt, in denen sie nicht zu sehen war, und ob sie einen Verehrer hatte, den wir belauern konnten. Ihr Name war Rose. Wenn sie auftauchte, dann im ungünstigsten Moment, und sie kam wirklich hinter einem Baum hervor, stellte sich nicht vor, machte sich nicht die Mühe einer Einleitung, sondern beschimpfte uns trocken und kalt. Immerhin kannte sie uns, wenn auch wir nicht sie; dazu hätte sie mit uns spielen müssen. Offenbar hatte sie ihre Kindheit vergeudet und war nun auf dem besten Weg, eine alte Jungfer zu werden. Eigentlich ganz hübsch in ihrem hellen Kleid, wie sie da hinter einem Baum hervortrat, als wäre sie seine mädchenhafte Seele oder sein Geist, war sie ihrer Natur und Bestimmung nach eine Hexe. Gelegentlich gewahrte ich auch an meiner eigenen Schwester Züge, die sich anders nicht erklären ließen; dafür an mir nichts.

Ich zitterte vor der älteren Schwester nicht nur, ihr Anblick tröstete mich auch. Wenn sie schattengleich unter den Bäumen ihres wunderbaren Gartens herumstrich, auf der Suche nach Eindringlingen, die sie beleidigen wollte, aber seltsamerweise nicht beleidigen konnte, wurde mir nicht nur schwer ums Herz, vielmehr beruhigend schwarz vor Augen und dank einer umfassenden Verfinsterung der Welt auch leicht in der Brust. Meine Überängstlichkeit, mein nimmermüdes schlechtes Gewissen kamen an ihre Grenze. Gegen Hexen kämpfen konnte ich nicht. Sie meinte ja auch nicht mich persönlich. Sie kannte uns nicht; dazu hätte sie mit uns spielen müssen. Sie hatte zwar eine Rolle in unserm Spiel, aber sie spielte nicht mit uns; man kann sagen, das war ihre Rolle. Ebensowenig wie wir an ihr hatte sie an uns ein persönliches Interesse. Sie durfte uns befehlen, aber sie hatte keine Macht über uns. Sie verkörperte eine Ordnung, die wir gar nicht in Frage stellten. Es war nur so: Hätte sie sich nicht bemerkbar gemacht, wir hätten nie erfahren, daß es diese Ordnung gab. Also hatte sie ein Bedürfnis, es uns mitzuteilen, und der Kontakt ging von ihr aus; kein Grund, daraus einen Konflikt abzuleiten, aber wir fürchteten uns doch und fühlten uns unbehaglich, solange wir mit ihr rechnen mußten, und wir rechneten stets mit ihr, aber wie mit einem beiläufigen Umstand, und wenn sie dann auftauchte, war es trotzdem wie ein Schock.

Wir waren zwar nicht die Eigentümer des Gartens, aber die Gestalter. Dabei wurden wir selbst hineingesogen in ein Spiel, in dem unsere Fehler, charakterliche Mängel, ungenügendes Talent, ein stures Gemüt, Rechthaberei und Herrschsucht oder schnelles Beleidigtsein, die es aufhielten und immer wieder unterbrachen, auf wunderbare Weise neutralisiert wurden und erst in dem Augenblick wieder zum Tragen kamen, wenn wir aufhörten, ein organischer Teil der Spielgemeinschaft zu sein, und wieder – Kinder wurden. Möglicherweise brachte ich für die bürgerliche Existenz meiner Spielkameraden auch keine Kraft auf, war mir doch schon die eigene lästig, eine peinliche Scheinexistenz, die aber als Zuflucht gebraucht wurde, sobald der Hexeneinfluß überhand nahm. Ich ging davon aus, daß die Spielkameraden keinen Rettungsanker brauchten – dazu waren sie einfach nicht wirklich genug –, und konnte mir auch nicht vorstellen, daß ausgerechnet das ihre Zuflucht war, was mich von ihnen trennte: die ältere Schwester, die finsteren Eltern, der verstaubte Reichtum, der verrottete Calvinismus. Sie waren ein bißchen blaß, aber beim Spielen nicht so langweilig, wie man hätte vermuten dürfen. Nur selten beriefen sie sich auf ihre bürgerlichen Vorzüge, auf den Reichtum ihres Vaters, ihre Alteingesessenheit, oder erinnerten uns daran, daß wir Gäste waren, was im Kinderjargon eine finstere Bedeutung hatte und alles andere meinte, als daß man uns etwas anbieten, uns in allem den Vortritt lassen mußte; Gast bedeutete im Gegenteil so viel wie geduldet. Wenn aber einer der ahnungslosen Erwachsenen uns bewirten, gar sich mit uns unterhalten wollte, sich nach dem Ergehen unserer Eltern erkundigte, uns ein wenig ausfragte, dann war nicht nur das Spiel zerstört, sondern auch unser Ansehen bei den Kindern beschädigt. Uns auf unseren Gästestatus zu berufen, selbst wenn die Initiative nicht von uns ausgegangen war, kam einem Frontenwechsel gleich und wurde mit Entzug bestraft. Manchmal stellten wir uns jeder für sich an einen Baum und ließen uns Verlautbarungen zukommen, unterbreiteten uns gleichsam Schriftsätze, in denen unser Status entweder zu unseren Gunsten oder Ungunsten ausgelegt wurde, kämpften mit riskanten Worten statt mit derben Taten. Auf eine undefinierbare Weise gehörten auch solche rituellen Auseinandersetzungen noch zum Spiel dazu, der Baum, an dem wir lehnten, deutete darauf, daß wir nicht im Sinn hatten wegzulaufen. Auch vertreiben kam nicht in Frage.

Meine Eltern waren übrigens von einer geheimnisvollen Nachsicht, was Pünktlichkeit betraf, und aus dieser Nachsicht oder Nachlässigkeit habe ich auch später die fürchterlichsten Irrtümer abgeleitet, wie, daß sie mich verstünden und von meiner wirklichen Existenz wüßten. Wahrscheinlich genossen sie bloß die Minute, die ihnen durch unsere Unpünktlichkeit geschenkt wurde. Wenn ich mit roten Backen, erhitzt, nach Hause kam und am Abendbrottisch, meiner Unpünktlichkeit ungeachtet, Radieschen auf dem Überraschungsbrot vorfand oder ein Schälchen Erdbeeren mit Milch oder ein Pfirsich, größer als ich, neben dem Brettchen lag, dann sagte ich mir, das ist, weil sie mich verstehen. Keiner machte ein böses Gesicht, so als wüßten sie, daß ich in heiliger Entfremdung unterwegs gewesen war beziehungsweise als ehrenvoller Besuch, in reizender Camouflage bei ihnen pausierte. Aber manchmal hätte ich lieber gewollt, sie hätten ein böses Gesicht gemacht; kam es mir doch so vor, als wäre ich die einzige an diesem unschuldigen Tisch, die vom Bösen eine Ahnung hatte.

2 Freundinnen

Als mein Radius wuchs, wurde ich eine Meisterin im Auffinden von Spielkameraden, deren einzige Qualität in ihrer Verfügbarkeit bestand. Mit einer Freundin ließ ich mich nicht gerne sehen. Aber ich spielte mit ihr. Sie wohnte im Mietshaus gegenüber, einem pompösen Block mit allerlei zusammengewirbelten Bewohnern, gleich neben dem finsteren Garten. Es war so hoch, daß ich nie herauskriegte, in welchem Stock sie eigentlich wohnte, womöglich im fünften, gleich unter dem Dach. Sie zu besuchen kam nicht in Frage; ich hätte meine Eltern fragen müssen, aber sie mit Lappalien stören durfte ich nicht, so daß ich also meine Großmutter oder Tante fragen mußte, und die trauten sich eine so prinzipielle Entscheidung nicht zu. Ich stellte mich deshalb vor das Haus und rief, und sie rief zurück, aber ich sah sie nicht. Gleich darauf kam sie, oder aber sie durfte nicht. Nicht jedes Kind konnte soviel spielen wie ich, gerade Mädchen hatten Pflichten, ich lediglich die, klug zu werden und mich nicht zu vergeuden, zum Beispiel mit diesem Mädchen, das keinen Vater hatte und dessen Mutter Flüchtling war, wie wir, aber anderer Herkunft und Konfession, eine einfache Frau.

Wir spielten Hüpfekästchen, und wenn es regnete, spazierten wir untergeärmelt auf der Straße und sangen »Es regnet«. Es hieß, im Mairegen würde man wachsen. Groß werden hieß, sich von der Last der Verbote befreien, vom Unangebrachten bis zum einfachen Hinderungsgrund, der schuld war an dem gefürchteten Ruf »Ich kann nicht!« oder an der hastig gemurmelten Einschränkung »aber nur, bis meine Mutter ruft«, und dann rief sie auch gleich. Meine Freundin war ein wenig älter als ich. Wenn wir uns unterfaßten, spürte ich ihren Busen und war ihr dankbar, daß sie mich an ihm teilhaben ließ, ohne viel Aufhebens darum zu machen; andere pochten auf ihren Besitzanspruch. Besonders der eines Nachbarmädchens war mir ein Dorn im Auge, weil sie mich in nervtötender Umständlichkeit darauf hinwies: Das hier – so als gehorchte sie einem Sprechverbot, deutete sie stumm auf ihre Brust – verkörpere Anziehungskraft. Ich fand, sie hatte stechende Augen.

Wenn meine Eltern zugegen waren, blieben diese Freundinnen unsichtbar; um sie zu schonen, glaubte ich, da sie alles verkörperten, was meine Eltern fürchteten, vor allem Frühreife.

Wenn mein Vater von der Arbeit kam, spielten wir auf der Straße Federball. Willig überließ ich ihm meinen Schläger. Das Zwielicht erlaubte nur noch wenige Ballwechsel. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft, Tennisspieler, der nach Alter und Aussehen zu gut für uns war, ein Angebeteter, Held unserer Tagträume, gesellte sich wie von ungefähr dazu und spielte mit meinem Vater, der spätestens in diesem Moment in die Sphären der Götter aufstieg. Es dunkelte rasch, und mein Vater und der junge Mann sahen den Federball nur noch ungefähr; einmal weggucken, und die Nacht hätte ihn verschlungen. Von meinen Freundinnen war weit und breit nichts zu sehen. Ich war sicher, die Mütter steckten dahinter. Ein junges Mädchen mit Busen hatte um diese Tageszeit auf der Straße nichts mehr verloren, es war überhaupt keine Uhrzeit für ein junges Mädchen. Je verdorbener die Töchter, schien mir, desto strenger die Erziehung. Womöglich erinnerte die Mutter sich an die eigene Jugend, oder es war bereits etwas vorgefallen. Außerdem war kein Vater da. Ich war noch unverdorben, man sah mich nicht, und bis mein Vater nach Hause kam, durfte ich auf der Straße spielen. Legte er den Federballschläger aus der Hand, mußte ich mit hinauf, aber eher aus Gewohnheit. Die schickliche Zeit war längst abgelaufen, und man mußte improvisieren.

Der junge Mann wußte, daß ich zu diesem wunderbaren Vater gehörte. Er war Kriegswaise wie jedes zweite, dritte Kind um mich herum. Bereitwillig machte er sich die Perspektive meines Vaters zu eigen, derzufolge ich ein Mädchen mit Zukunft war, und reihte er sich in den Kreis derer ein, die mich schonten. Auch als er sich, von einer bösen Stimmung getrieben, eine Gelegenheit geschaffen hatte, die der Ausflucht wenig Raum ließ – ich war zu allem bereit –, ließ er mich im allerletzten Moment los, und ich sah ihn dann abends über den Zaun mit der gleichaltrigen Nachbarin flirten. Die war nicht nur bodenlos ironisch, spitz wie ihre Nase, sondern in ihren sparsamen Bewegungen, der Art, wie sie ihr Tuch über dem Brustbein zusammenzog, gekünstelt wie eine Tragödin auf der Bühne, das heißt vollendet langweilig, ohne Reiz, es sei denn dem ältlichen der Erwachsenen, und ohne das geringste träumerische Versprechen. Da sie ein paar Jahre älter war als ich, überdies ebenfalls keinen Vater hatte, nahm sie es trotz ihrer herrschsüchtigen Art auf eine mir unerfindliche Weise weniger genau. Ich war nicht eigentlich gekränkt, weil ich die Sache nicht ernst nehmen konnte. Das Mädchen hatte kein Gemüt, und da der Junge auch kein Gemüt hatte, war ich sicher, daß er ein Mädchen mit Gemüt brauchte. Schüchternheit war übrigens nicht der Grund, warum ich geschont wurde. Schüchterne Mädchen waren gefährdet; immer wieder wurde ich daher zu Hause angehalten, nicht schüchtern zu sein. Geschont wurden Mädchen, die im Rahmen einer verlängerten Brutpflege dem Schoß der Familie noch nicht entschlüpft waren; wer, der nur seinen Spaß haben wollte, wäre bereit und in der Lage gewesen, mich weiter zu hüten. Durch ihre unzerstörbare Jugendlichkeit oder Präsenz, ihre ich will nicht sagen Geistigkeit, aber Geistesgegenwärtigkeit hatten meine Eltern es geschafft, daß jeder in mir, dem Mädchen mit der verdorbensten Phantasie, dem längsten Beichtzettel für Gedachtes, nicht blöde Unschuld, sondern Reinheit verkörpert sah; niemand durfte mich berühren. Auch darüber waren sich alle einig, daß die Intelligenz mir aus den Augen leuchtete, auch wenn ich bei der geringsten Matheaufgabe versagte und mir unter Chemie nichts vorstellen konnte. Ich würde bis zum Sanktnimmerleinstag studieren, und der Mann mußte noch ausgebrütet werden, der mich zum Reden bringen und mein intelligentes Geschwätz dann auch noch aushalten konnte.

Dazu kam, daß es keiner mit meinen Eltern verderben wollte.

3 Meine Schwester

Gott hätte mir einen Bruder geben können, damit ich mehr wurde. Die Schwester gab er mir, um mich zu vermindern. Das war logisch. Denn wenn man von der gleichen Sache zwei schuf, dann konnten die sich nur beeinträchtigen, und es war auch nicht normal, daß Gott bei all seiner Weisheit auf den Gedanken kam, ein Zweites zu schaffen, wo doch das eine existierte. Was zum Teufel hatte ihm eingegeben, daß noch etwas fehlte!

Ich erwähnte bereits, daß die Beleidigung vorrangig meine Schwester traf. Denn sie war die Ältere, und ich fand sie auch verbittert durch meine Geburt. Aber so einfach, wie ich mir einzureden versuchte, lagen die Dinge nicht. Schließlich konnte der Erfolg den Mißerfolg aufheben, und umgekehrt. So wurde beim Weitsprung etwa der schlechte durch den guten Sprung eindeutig aufgehoben. Die Harke wurde betätigt und die peinliche Scharte im buchstäblichen Sinn ausgewetzt. Sogar bei Klassenarbeiten wurde eine schlechte Arbeit durch die guten gleichsam widerlegt. Ja, hier galt sogar: je schlechter, desto besser, da man das Untypische, den Aussetzer deutlicher erkannte, auch wenn die Erinnerung quälend blieb. Bei einer Schwester war es anders. So gelungen war schließlich niemand, daß er durch einen Vergleich nicht litt. Kam hinzu, daß man durch die beständige Auseinandersetzung Schaden nahm. Wie hieß es doch: »Auch der gerechte Haß verzerrt die Züge.« Nun haßte ich nicht, wäre aber auch nie auf die Idee gekommen, diese unschöne Gemütswallung zu vermissen, wenn es nicht gute Gründe für Haß gegeben hätte und ich nicht zugleich unfähig gewesen wäre, ihn zu empfinden. Ich deutete diese Hemmung als Unfähigkeit und schob sie auf die rudimentäre Entwicklung meiner Gemütskräfte. Dagegen verspürte ich so etwas wie Angst.

Ich war auch schlecht im Vergleichen. Genauer gesagt, ich hielt es für schlecht. »Du sollst nicht vergleichen.« Als beileibe nicht das letzte unter den zehn Geboten hätte es gleich mehrere, in ihrer Einzelheit unangenehme und kleinliche, auch ein wenig lüsterne Gebote ersetzt, das vierte zum Beispiel, ebenso das sechste; denn nicht nur des Nachbarn Weib durfte man nicht begehren, sondern auch die Eltern der andern Kinder nicht. Sogar das zweite wäre noch darunter gefallen; auch Götter waren empfindlich. Ich fragte mich bloß, warum mir der Vergleich zugemutet wurde. Es nutzte gar nichts, daß ich selbst nicht verglich, war ich doch, wenn es mir begegnete, mitbetroffen, schließlich war meine Schwester ein Teil von mir. Wenn sie verlor, so ich mit und wenn sie gewann, verlor ich ebenfalls. In beiden Fällen war das Resultat das nämliche: ich fühlte mich schlecht. Davon unabhängig ging es gar nicht so sehr darum, was ich tat und was nicht: wir wurden verglichen! An meiner Schwester einen Fehler zu entdecken stürzte mich in Verzweiflung, ihr vorgezogen, gar zum Vertrauten hämischen Geredes über sie zu werden stieß mich in den Abgrund der Nichtexistenz. Zurückgesetzt zu werden war nicht entfernt so schlimm, im Gegenteil, es stärkte meine Potenz. Wenn es denn einmal so aussah, als würde sie mir vorgezogen oder hätte einfach mehr Glück als ich, dann steckte ein ausgeklügelter Plan dahinter, in Wirklichkeit mir etwas zugute kommen zu lassen und mich zu fördern. Konnte sie mir nicht Beziehungen verschaffen, mich an der rechten Stelle plazieren? Verdankte ich ihr, der per definitionem Jüngeren, nicht eine bezaubernde Kindlichkeit, den Nachweis ewiger Jugend?

Tatsächlich war »Du sollst nicht vergleichen« soviel wie das gegenüber Hiob geäußerte, im Grunde eine und einzige Gebot: »Du sollst nicht hadern.«

Ich bemühte mich, nicht zu hadern und meine Schwester zu vergessen.

Das war nicht schwierig, da um sie herum nur Schein war. Ernsthaft betrachtet, hatte sie alle Züge eines Phantoms. Sie war rätselhaft in ihren Äußerungen und verständnislos gegenüber denen anderer. Ich verdächtigte sie, die Position der Älteren, auf die sie doch soviel Wert legte, mit der der Einzigen zu verwechseln und sich dabei auf die kurze Zeit zu berufen, in der sie tatsächlich allein gewesen war, nicht die Ältere, eben die Einzige. Sie weinte am hartnäckigsten, wenn die Eltern verreisten, und schnauzte Großmutter und Tante an, die uns versorgten. Dabei mußten wir uns mit ihnen gut stellen, wenn wir nicht auch von ihnen verlassen werden wollten. Ihr ging es ums Prinzip. Sie reklamierte Rechtsverstöße und stellte die Legitimation derer, die auf uns aufpassen mußten, in Frage. Wenn sie krank war, staunte ich, wie es ihr damit gelang, die Aufmerksamkeit der gesamten Familie für sich zu beanspruchen. Nach meiner Auffassung hatte sie sich bloß unter ihr Federbett zurückgezogen und wollte eine Zeitlang für sich sein. Das war nicht nur ihr gutes Recht, es drückte auch ihr flüchtiges Dasein aus. Ich war alles andere als besorgt oder befremdet; so unwirklich meine Schwester war, so wenig konnte ihr die Krankheit etwas anhaben. Meine naiven Eltern dagegen hatten von der Doppelbödigkeit ihrer Existenz keine Ahnung. Da meine Schwester schon einmal lebensbedrohlich krank gewesen war – das war bezeichnenderweise vor der Zeit, da mein Erinnerungsvermögen einsetzte –, waren sie stets auf das Schlimmste gefaßt.

Seltsamerweise zweifelte ich nie an der Vernunft meiner Schwester. Vielleicht hielt ich deshalb ihre Krankheiten für gespielt, ihren Kummer gar für inszeniert und ihre Zornesausbrüche einfach für Beweise ihrer schwarzen Seele. Da ich unter rätselhaften Verstimmungen litt, für die meine Eltern nicht immer die erforderliche Geduld aufbrachten, war ich auf die Schwester angewiesen, mehr, als mir lieb war, vor allem nachts, wenn mich Gespenster heimsuchten und meine Eltern allen meinen Anstrengungen zum Trotz in den süchtigen Schlaf von Erwachsenen gefallen waren, die am Abend unvermeidlich an das Morgen denken. So erwachsen war meine Schwester, all ihrer vorgegaukelten Vernunft zum Trotz, noch nicht, daß sie mir nicht das Blaue vom Himmel versprach: daß sie kein Bedürfnis nach Schlaf empfand und sie ewig über mich wachen würde; womit sonst sollte sie sich beschäftigen, wenn sie nicht schlief. Aber unter ihrem hochgewölbten Federbett war es betäubend warm, wärmer als unter meiner modernen Steppdecke. All meine Phantasie bot ich auf, um ihre Vorstellungskraft zu beschäftigen. Wenn Gott mir gnädig war, dann schlief ich als erste ein, mitten im Erzählen; wenn er mir Höllenpein bereiten, mich für was auch immer bestrafen wollte, sie. So zuverlässig die Stimme meiner Schwester soeben noch geklungen hatte, als ich ihr ängstlich ein Lebenszeichen abverlangte, einen gewissermaßen stimmlichen und nicht bloß verbalen Beweis dafür, daß sie nicht nur wach, sondern munter war und ohne weiteres die Nacht durchmachen konnte: wenn sie schlief, dann schlief sie, und keine Macht der Welt hätte sie unter ihrem Federbett hervorgeholt. Ich hätte nun aber aufstehen und all das vollbringen können, woran mich nur fürsorgliche Kontrolle hinderte: nach der vom Vortag auf dem Tisch liegenden Schere langen, mich in das Schlafzimmer der Eltern schleichen und sie umbringen, danach meine Schwester, die sie nicht vor mir beschützt hatte, sodann mich. Mir war nicht ganz klar, welche Art Mord mit der Schere verübt wurde, durch Erstechen oder durch Zerschneiden, ich wußte auch gar nicht, ob auf dem Tisch wirklich die Schere lag, durfte aber nicht darüber nachdenken, da mir Gedanke und Handlung ineinander zu fließen drohten, und wie hätte ich dann wissen können, ob ich das Furchtbare nicht schon vollbracht hatte. Ich hätte aufstehen und nachsehen müssen und – hätte es dann womöglich getan, das Bedürfnis nach Klärung hätte die Tat herbeigeführt.

Die Kunst im Umgang mit meiner Schwester bestand darin, sie so wirkungsvoll wachzuhalten, als kennte sie den Ernst der Lage, ihr diesen zugleich vorzuenthalten, denn sonst hätte sie noch mehr Macht über mich gehabt. Vielleicht wußte sie längst Bescheid, und sie erpreßte mich auch das eine oder andere Mal, sie würde in der kommenden Nacht nicht auf mich aufpassen, wenn ich ihr die von den Eltern übertragene Aufgabe, tagsüber auf mich achtzugeben, nicht durch Gehorsam erleichterte. Aber wenn es so war, dann fiel das wenig ins Gewicht; denn nachts konnte ich nicht wählerisch sein. Wäre sie der Teufel persönlich gewesen, hätte ich dennoch die beschwörende Frage gestellt: "Wachste?" Tagsüber war sie mir eher hinderlich, und sie erreichte daher auch mit den schmählichsten Erpressungen, falls sie denn vorgefallen sein sollten, bei mir nicht mehr als eine widerwillige Kooperation. Vielleicht, daß ich das eine oder andere Mal mit nach Hause kam, wenn sie drohte, auf sie würden die Vorwürfe der Eltern herunterprasseln, wenn sie sich Sorgen gemacht hatten, uns wäre etwas passiert; das hieß, wir wären mit jemandem mitgegangen, etwas anderes konnten sie ja nicht denken. Öfters aber entwischte ich oder machte mit den Kameraden sogar gemeinsame Sache gegen sie, auch wenn das ein unheimliches Gefühl war, so als ginge es gegen mich. Merkwürdig hilflos kam sie mir dann vor, obwohl ich mich doch nur zur Wehr gesetzt hatte; offenbar war nicht nur ich ein Teil von ihr, sondern auch sie bloß ein Teil von mir. Theoretisch wußte ich zwar, hielt es aber trotzdem für eine Ausrede – sagen wir für eine Tatsache ohne Gewicht –, daß sie ohne mich nicht nach Hause kommen durfte, es hätte wer weiß was gesetzt. Der Himmel wäre eingestürzt, und das war noch das Wenigste.

4 Meine Schwester, Fortsetzung

Wenn ich an die Zukunft meiner Schwester dachte, wurde mir angst und bange. Ihr fehlte zum Überleben, was andere vielleicht zuviel hatten: jene Geschmeidigkeit im Blick, die dem andern versichert, daß er unbehelligt bleiben wird. Ich hatte zweifellos zuviel von dieser Geschmeidigkeit und glich darin dem Weißen des Spiegeleis, wenn es zerläuft; während meine Schwester mit ihrem schmalen, festen Gesicht, auf das die Flammenzungen ein hohles Muster zauberten, wie das Eigelb war, das sich im Garvorgang verhärtet, oder, so drückten wir Flüchtlinge uns aus: das Gelbei. Mit den Menschen pflegte meine Schwester einen Umgang, der dem meinen schlicht entgegengesetzt war. Die Menschen waren zu ihrer Verfügung gestellt, so glaubte sie, sie waren ihr zur tatkräftigen Bearbeitung übergeben. Sie handelte, als wenn das göttliche Gebot »Macht euch die Erde untertan«, sich auch auf die Menschen bezogen hätte. Wenn sie sich widersetzten, weil sie von ihrer Bestimmung nichts wußten, dann strafte sie sie nicht oder schmollte mit ihnen, sondern sie wurden bearbeitet. Auf diese Weise machte sie aus wenig motivierten, auch oberflächlich angelegten Menschen Freunde. Freund sein hieß Partner sein, aufnahmebereit für das viele, das sie zu geben hatte, die komplizierten Gefühle, die sie umständlich mitteilte, das reichhaltige Wissen, von dem sie bereitwillig abgab. Das ging nur in einer Atmosphäre des Vertrauens, der geduldigen Aussprache. Niemand konnte Mathe so gut erklären wie sie; unmöglich, mit ihr befreundet zu sein und auf einer Fünf in Mathe sitzen zu bleiben. Ich hätte auch nicht sagen können, woher sie die Kraft zur Verführung nahm, den unbändigen Willen, sich nicht abschrecken zu lassen durch Reichtum, Schönheit oder Eleganz. Dabei spielte sie übrigens nie den Diener; sie warb um den andern, aber sie erniedrigte sich nicht. Schmücken konnte man sich mit ihr kaum – nach meinem bescheidenen Dafürhalten jedenfalls nicht. Wenn man sich mit ihr einließ, dann mußte man es um jener Werte willen tun, die sie verkörperte und mit denen sie einen belohnte und die sich auf eine Eigenschaft reduzieren ließen, oder eigentlich zwei: daß sie einen nie im Stich ließ und daß sie das Leben gestalten konnte. Sie war die Erlösung von Sinnlosigkeit und Verlassenheit, die den Alltag von manchem verfinsterten, der hübscher oder reicher war als sie. Aber besonders cool war sie eben nicht. Oder erst sehr viel später und auch nur für die kurze Zeit, in der sie es den Freunden gestattete, sie zu bearbeiten, anstatt umgekehrt.

Sich für meine Schwester zu entscheiden war soviel wie sich einer Minderheit zuzuordnen, irgendeinem Glauben, der auf seine Paradoxa stolz ist, statt sich ihrer zu schämen. Sich ihre Freundin zu nennen, obwohl sie einem keinen Zugang zu einer geilen Party verschaffte, einer intimen Orgie, wie sie in der Kleinstadt in Mode kam, ja um ihretwillen womöglich so wie die frühen Christen Freunde und Beziehungen verlor, das war zugleich Überzeugung und Verpflichtung. Es isolierte kolossal, aber es kam auch vor, daß sich aus Respekt vor soviel Mut und aus Neugier auf die geheime Quelle solcher Kraft, aus Neid auf soviel unbeirrt verfolgten Lebenszweck bislang verschlossene Türen öffneten, so daß es durchaus vorkam, daß meine Schwester in Zirkeln verkehrte, von denen ich, die ich niemandem zu nahe trat, rigoros ausgeschlossen blieb. Ich verstand das nicht, während echte Feinde meiner Schwester, die nicht mit ihr verwandt waren und ihre Durchsetzungskraft, ihre zähe Wühlarbeit offen verabscheuen durften, ohne dafür mit eigenen Einbußen bezahlen zu müssen, es für Hexerei hielten. Nicht selten fanden diese Feinde meiner Schwester wiederum mich ganz nett, andere dagegen so blöd wie sie; sie nannten uns nur mit dem gemeinsamen Nachnamen und hängten ein s dran oder ein »-mädchen«.

Wen meine Schwester gezähmt hatte, der war markiert. Ich will die Analogie mit dem frühen Christentum, seinen Katakomben und Kreuzen nicht übertreiben, sonst kommt man noch auf die Idee, die Bestimmung meiner Schwester in der Religion zu suchen, gar ihr missionarische Neigungen zu unterstellen. Letztere hatte sie durchaus, aber sie gründeten nicht auf dem Jenseits oder auf Gott, vielmehr auf ihr selbst und auf ihrer Auffassung vom Leben. Was diese Auffassung betraf, so war sie der schlichten Ansicht, daß sie richtig war, keine Auffassung, also, sondern eine Tatsache. Ich schämte mich ihrer Beschränktheit, hatte sie doch keinen Sinn für das Hypothetische jeglicher Erklärung, ich dagegen außer einen fanatischen Wahrheitsliebe keinen Standpunkt. So spürte ich durchaus die Kraft, die in der Beschränktheit meiner Schwester steckte. Noch wo es um Schlüsse ging, war sie unbedingt praktisch orientiert. Hier war sie stark, während meine feinsinnigen Analysen ihre Nähe zum Gefasel nicht verleugnen konnten. Bei unseren Kinderauseinandersetzungen, wenn wir an demselben Kissen zerrten, als wäre es die Arche Noah, von der unser Überleben abhing, war sie mir regelmäßig überlegen. Wenn ich nicht nur ihre faktische, sondern auch rechtliche Überlegenheit spürte, dann entzog ich mich, und auch sie empfand das Fatale der geschwisterlichen Verstrickung, daß, wer gewann, den andern verlor, und reagierte – wie sagte ich – merkwürdig hilflos darauf.

5 Fortsetzung

Daß meine Schwester dem Leben mit Fähigkeiten begegnete, die für die Lebenden gelegentlich zuviel waren, hatte sich bei ihrer Geburt entschieden, als sie sich einen Platz bei ihrer Mutter erkämpfen mußte, die auf Jungen gesetzt hatte und auf die Konfrontation mit dem eigenen Geschlecht nicht vorbereitet war, während sie von ihrem Vater, der sich jedem Problem außer seiner Männlichkeit gewachsen fühlte, mit zarter Liebe empfangen wurde. Von mir, obwohl ich auch nur ein Mädchen, noch dazu die Jüngere war, wurde sie dennoch entthront. Als ich zum ersten Mal mit Bewußtsein die Augen aufschlug, sah ich in die entzückten Augen meiner Mutter, die sich über meinen gesunden Appetit freute, und in die meiner Großmutter und meiner Tanten, die meine runden Backen tätschelten und meinen freundlichen Charakter, meine Fröhlichkeit rühmten – samt und sonders Anspielungen, die von der Betroffenen gehört werden sollten; denn wer einsteckt, will auch austeilen. Meine Schwester machte mir klar, das einem im Leben festes Zupacken weiterhalf, zumal wenn man nicht auf Akzeptanz setzen konnte. Dazu gehörte, daß man seine Sprache zum Instrument seines Willens machte; kein Löschblatt fand Platz zwischen ihr und ihm, wodurch sie ein wenig von der Geschmeidigkeit verlor, über die sie normalerweise verfügte, und der Wille, nun ja, er war wie vom Odem des Lebens angehaucht. In allem ging sie planvoll vor, und sie war wieselflink. Im Nu ordnete sich unter ihren Händen das Chaos im Kinderzimmer, im Sandkasten, und das überfüllte Auto, das wüste Zelt wurden ein Zuhause; der Fürst der Wüste hätte sich auf den anmutig gerollten Schlafsäcken geaalt. Dank ihren Angaben organisierte sich das Durcheinander im Hinterhof und wurde ein Spiel. Ihre Anweisungen, die bis weit hinauf in die Küche drangen, beruhigten unsere Mutter, ohne daß sie aus dem Fenster schauen mußte, und beunruhigten sie zur selben Zeit, denn sie wußte nicht, wie lange die andern Kinder sich den Ton gefallen lassen würden. Gelegentlich kam es aus Erbitterung zum Abbruch des schönen Spiels. Auf einmal war es nicht mehr schön im Hof. Nach fruchtlosen Verhandlungen verzogen sich die Kinder, der Sieger blieb allein auf dem Feld zurück, oder fast: ich war ja noch da.

Ohnehin gab es über meine Schwester die gegensätzlichsten Urteile. Fähigkeiten und Charakterzüge waren nun einmal nicht das gleiche, das eine bezog sich auf dies, das andere auf das. Für meinen Vater, den Gesetzgeber im Hintergrund, war sie schlechterdings vollkommen. Da sie ein Mädchen war, konnte er ihr zubilligen, was er in seiner Nähe sonst nicht geduldet hätte: Eigenständigkeit. Sie war flink, zupackend und gewandt, darüber hinaus nicht nur zäh, sondern auch zart, nicht nur schnell, sondern, ja, eben flink, nicht nur tüchtig wie ein Kerl, sondern geradezu überirdisch begabt, sein Ebenbild, kurz gesagt, oder sein Ideal, so wie er hätte werden können, wäre er nicht ein Mann geworden, das einzige auf dieser Welt, wozu er, Halbwaise und Muttersohn, keinen Draht hatte. Da er im großväterlichen Haushalt, neben einem Greis und Hagestolz, wenn man von der engelsgleichen, aber schattenhaften Existenz seiner Mutter absah, unter Heimchen und dienstbaren Geistern aufgewachsen war, waren Kinder für ihn schlechterdings ein Wunder, das größte, unfaßbare Wunder aber: eigene Kinder. Hätte er seinen Sohn von der eigenen Person noch schlecht unterscheiden können und alle Ängste, die ihn in seiner geschwister- und vaterlosen Kindheit heimgesucht hatten, auf ihn gehäuft oder so, wie er es uns an einem jüngeren Vetter, dessen sprichwörtlicher »Lahmarschigkeit« wegen, demonstrierte, vielleicht in Kritiksucht und Verachtung umgemünzt, so hatte die Ankunft der Tochter, auf die die Mutter mit scheelen Augen blickte, der Freude und der beständigen beglückten Verwunderung Bahn gebrochen. Er war Vater geworden, das fühlte er, als er seine Tochter in den Armen hielt und die filigranen, die Mutter sagte mageren Finger bestaunte, die sehnigen, die Mutter sagte zerrigen Glieder, die helle, nach der verkniffenen Ansicht der erschöpften Mutter durchdringende Stimme. Es entging ihm, daß sich zum einmalig Gelungenen seiner Tochter sehr rasch eine zweite und dritte Meinung ausbildete, die mit seiner kontrastierte, sie vielleicht auch in geheimnisvoller, nie ganz greifbarer Gegnerschaft ergänzte. Nach der Auffassung meines Vaters war meine Schwester nicht nur flink, beweglich von Körper und Geist, sondern dies war auch das Größte, was man von einem Menschen aussagen konnte; denn wer rasch auffaßte, hatte die Welt schon geordnet, während die andern noch über den Prinzipien brüteten oder sich in der Vielfalt der Einzelheiten verloren und das Unmögliche versuchten, die Dinge von unten herauf zu ordnen. Wer die Welt auffaßte, so die Überzeugung meines Vaters – die freilich völlig von ihm selbst absah, denn er war zwar weiß Gott rasch oder, wie er sagte, fix, aber ein Zauderer allererster Ordnung – der besaß sie auch; sie war sein. Meine Schwester war schnell und zupackend; in der Version der Kleingeister, mit denen sie es zu tun hatte, hieß das besitzergreifend und herrschsüchtig. Da die Stellung meines Vaters in der Familie über allen Zweifel erhaben, im Alltag aber unerheblich war, ist nicht ausgeschlossen, daß sich an seiner ältesten Tochter das Ressentiment austobte, das eigentlich ihm galt. Natürlich war sie die Älteste. Aber je unangreifbarer die Position, desto ungenierter durfte man sich an der Person vergreifen. Hatte ihre Stimme nicht einen unangenehm befehlenden Klang, und ging sie nicht immer wieder zu weit? Letzteres legte den Verdacht nahe, daß sie von ihrer Größe, ihrem Umfang eine andere Vorstellung hatte als die andern, auch ihre Rechte, man kann vielleicht sagen ihre Pflichten weiträumiger auslegte, als ihr das von andern zugestanden worden wäre. Und was den Klang ihrer Stimme betraf, woher hatte sie den überhaupt, das wiederum hieß: von wem? Da in der eher ländlichen Familie meiner Mutter Frauen sich ungeachtet ihres tatsächlichen Einflusses in der hinteren Reihe postierten, kamen sie, ihrer eigenen Ansicht nach, für einen solchen Ton nicht in Frage. Und da die Frauen in meines Vaters Familie sich überhaupt nicht äußerten, im diktatorischen Umfeld des Großvaters vielmehr nur auf Zehenspitzen gegangen waren, konnte es sich nur um einen Geschlechtssprung von einem Mann auf ein Mädchen handeln; das aber war im höchsten Maße ungehörig, erlaubte nur die ungünstigste Prognose und gestattete andererseits, da das Kind ja bereits in den Brunnen gefallen war, auf meiner Schwester herumzuhacken wie auf einem Bastard. Ab dem Zeitpunkt, wo ich dabei war, war schon nicht mehr auszumachen, an welchem Punkt das Verhängnis seinen Ausgang genommen hatte. Es war wohl so, daß meine Schwester dazu neigte, die Eltern gegen die entfernteren Verwandten auszuspielen, also auf einer strengen Hierarchie und entsprechenden Abstufung in der Zuweisung von Autorität bestand; eine nur scheinbar machtvolle Strategie, die sich im Alltag gar nicht gut bewährte, konnten uns die Verwandten, die uns anstelle unserer Eltern umsorgten, uns ihre Sicht der Dinge durchaus fühlen lassen. Der schrille Verweis meiner Schwester auf ihre direkte Abkommenschaft von ihren Eltern und daß ihr andere Leute gar nichts zu sagen hätten, brachte sie auf diesem komplizierten Wege nicht nur in den üblen Ruf des Hochmuts, sondern auch der Gefühlskälte. Die Verwandten selbst dagegen nahmen im bösen Eifer genau die Züge an, gegen deren Zuweisung sie sich am meisten wehrten: die nämlich ressentimentgeladener Domestiken.

Was die gemeinsame Erziehung der Geschwister anging, so trafen Vaters ausdrückliche Wünsche und die prinzipienlosen Gewohnheiten der mütterlichen Verwandten ausnahmsweise glücklich zusammen. Zwei hüteten sich leichter als einer, sagten sich die letzteren. Sie konnten aufeinander achtgeben. Nach der Ansicht meines Vaters, der als Einzelkind, in einer schwärmerischen Liebe zur jungfräulichen Mutter, in ehrerbietigem Abstand zum gefürchteten Großvater dahinvegetiert war und an die Kindheit überhaupt nur schemenhafte Erinnerungen hatte, waren wir nicht nur unendlich privilegiert, sondern unvermeidlich glücklich. Aneinander geschmiedet wie nur zwei Galeerensträflinge auf derselben Ruderbank, entwickelten wir wirkungsvolle Techniken des Alleinseins, der Ausblendung der jeweils anderen. Tatsächlich waren wir grundverschieden, wie es nur zwei Wesen sein können, die ihre Eigenart in beständiger Reibung entwickelt haben. Es mangelte uns also überhaupt an einem eigenen Kern, wenn ich auch zugeben mußte, daß meine Schwester immerhin achtzehn Monate lang Zeit gehabt hatte, diesen Kern zu entfalten. Um mit unserer permanenten gegenseitigen Gegenwart fertig zu werden, drifteten wir nicht wenig ab in das Reich der Einbildungen oder des Gefühls, was es schwierig machte, den realen Hintergrund oder Ausgangspunkt unserer Konflikte noch zu erkennen. So brachte meine Schwester es zu Äußerungen des Hasses gegenüber den Verwandten, die ich mir einfach nicht erklären und deshalb nur entweder auf ihre Hexennatur schieben oder aber nicht ernst nehmen konnte; ich wiederum entwickelte allerlei Ängste, die trotz der Lebensfreude, die ich verbreitete, den Umgang mit mir dann doch wieder so kompliziert machten wie mit meiner Schwester, die diese Störungen für schlechterdings simuliert, Ausdruck eines mit allen schmutzigen Mitteln geführten Kampfes um Geltung hielt. So sehr waren wir aneinander gefesselt, daß wir schon aus pragmatischen Gründen über längere Zeiträume in einem völlig problemlosen, ja symbiotischen Verhältnis lebten und nicht merkten, wie sehr wir uns entfremdeten.

6 Sie und ich – Übergriffe

Ich betrat ein Haus, in dem die Fronten geklärt waren: auf der einen Seite die Eltern, die sich rar machten, auf der andern die treusorgenden Verwandten; dazwischen, als Demiurg, der die Parteien auseinander stemmte, meine Schwester. Obwohl ich mich bei den Tanten, Großeltern und ihren wenigen, aber in ihrer fremdartigen Erscheinung hochinteressanten Bekannten eigentlich hervorragend befand und überhaupt lieber das gesichtslose Mitglied einer Großfamilie als ein problematisches Unikat gewesen wäre, beneidete ich meine Schwester um ihre ursprüngliche Beziehung zu den Eltern, die ich zwar als künstlich empfand, die aber in jene Vergangenheit zurückreichte, von der ich keine Ahnung hatte. Wieviel Zeit hatte mein Vater, bevor er in letzter Minute eingezogen wurde, noch mit seiner jungen Familie verbracht? Ich hoffte, gar keine. Aber gelegentlich erzählte meine Mutter, daß sie zu dritt in der großen Stadt gelebt hatten, beim legendären Großvater, bevor sie in die Kleinstadt zu ihren eigenen Eltern zurückgekehrt war, um auf die Rückkehr ihres Mannes und, natürlich, auf meine Geburt zu warten, auch ihren kränklichen Vater nicht im Stich zu lassen. Meine Schwester war in der Universitätsklinik geboren worden, was ihr anhaftete. Ihr Apperzeptionsapparat war für die Großstadt ausgelegt. Vater und Mutter hatten sie abwechselnd im Arm gehalten, einen sagenumwobenen Augenblick lang auch der Großvater, der ihr seinen Segen gegeben hatte, bevor er starb, was sie auf eine lächerliche Weise wörtlich genommen haben mußte, lief sie doch herum, als hätte sie einen höheren Auftrag. Ich konnte mich nicht satthören an den Dorfgeschichten meiner Großtante, derben Possen, in denen der Schmutz regierte. Aber ich hörte nicht gern von der großen Stadt erzählen, von der es meiner Ansicht nach nichts zu berichten gab, was nicht auf eine relative Vergrößerung der tristen Kleinstadt hinauslief. Ich wollte auch nicht so genau wissen, daß es selbst für unsere klassische Flüchtlingsfamilie noch eine andere, auf den gewöhnlichen Familienfotos als ideal vorgestellte Existenzform gegeben hatte: Vater, Mutter, Kind. Daß in diesem Fall nicht ich das Kind gewesen war, konnte ich einfach nicht glauben. Dabei war, als ich geboren wurde, mein Vater in Gefangenschaft, ich, ein glückliches Kind, auf dem Arm von jedem, der sich in schwerer Zeit an mir erfreuen wollte; aber davon gab es keine Fotos, wie es in jener allzu kurzen Zeit überhaupt keine Familienfotos gab. Ich strickte an einer anderen Legende, derzufolge mein Vater, wie jeder Soldat, um dem Tod etwas entgegenzusetzen, im Fronturlaub zuerst das eine und später das andere Kind gezeugt hatte; gemeinsam wären meine Schwester und ich die ersten Jahre vaterlos aufgewachsen, hätten aber die Lebenszugewandtheit des Vaters in uns getragen und schon deshalb wie Pech und Schwefel zusammengehalten. Das alles war natürlich nicht wahr. Bevor mein Vater überhaupt an die Front dachte, hatte er meine Schwester und später dann, als seine Einberufung unmittelbar bevorstand, auch mich noch gezeugt, damit meine Schwester nicht allein aufwuchs, falls er nicht zurückkam; so wie er sollte sie es nicht haben. Als Kriegswaise war er erst in den letzten Wochen eingezogen worden, sein soldatischer Mut hatte sich nicht an der Front, sondern in der Auflösung bewährt; immerhin war er entgegen einer weiteren Legende in dieser Epoche kein Angsthase gewesen. Das Bild meiner Schwester behielt er im Herzen. Mich verwechselte er dann auch mit ihr, als er mich bei seiner Rückkehr auf dem Arm seiner Frau erblickte, während meine Schwester am Wegesrand Blumen pflückte, wie immer planvoll in ihrem Tun und wieselflink.

Meine Geburt war leicht gewesen, da, wie meine Mutter nicht ohne Betonung sagte, bei der Geburt der Ältesten bereits alles kaputtgegangen, folglich der Weg frei war. Angekommen, öffnete ich das Mäulchen, und meine Mutter, die nicht einmal für sich genug zu essen hatte, spendete mir reichlich Milch. Das war wie ein Wunder, und für ein solches wurde ich gehalten, auch wenn ich wieder kein Junge war. Ich lebte wie in Abrahams Schoß. Alles war nachgiebig und weich, das auf einer frühen Mädchenstufe stehen gebliebene, wenig differenzierte Gesicht meiner Tante, der enorme, aus Bauch und Busen gemixte vordere Teil meiner Großmutter, mit dem sie hinter der Kasse des Feinkostgeschäfts neben der Weinstube residiert hatte, der aus hartem Korsett und weicher Natur humoristisch gestaltete hintere Teil meiner Großtante. Meine Schwester war nicht weich. Ein Kriegskind durch und durch, nahm sie das Leben schwer und hielt die Erinnerung wach an die reguläre Ordnung von früher. Trost und sippenförmige Verbrüderung lehnte sie ab. Sie bestand auf ihrer richtigen Familie.

Ich will nicht um den heißen Brei herumreden: Mir erschien das ganze Wesen meiner Schwester als Einmischung. Wenn sie etwa bei der Fronleichnamsprozession nach einem prüfendem Blick in mein Körbchen mit raschem Griff die Blumen ausräumte, weil ich sparsam, sie dagegen großzügig mit ihnen umgegangen war und bei ihr der Boden schon durchschimmerte. Da mir das religiöse Brimborium aufs Gemüt schlug, war ich in jenem für unser weiteres Verhältnis entscheidenden Moment wahrscheinlich hoffnungslos in Andacht versunken, oder aber ich mußte austreten. Der plötzliche Angriff auf mein Körbchen riß mich aus allen Träumereien. Ich sah mich einem Abgrund von Boshaftigkeit gegenüber, einer räuberischen Attacke, die kein Gesetz kennt, während meine Schwester bloß die verlorengegangene Gleichheit wiederherstellen wollte. Die Tränen stiegen mir in die Augen, gleich würde ich vor allen Leuten weinen. Vom heißen Gefühl wurde mir gleichzeitig die bis dahin unterdrückte Tatsache bewußt, daß ich dringend austreten mußte; alle größeren Unternehmungen jener Zeit ließen sich unter der Überschrift zusammenfassen, daß ich irgendwann austreten mußte, und je später das der Fall war, desto apokalyptischer würde er sich darstellen. Wenn es verhindert werden konnte, daß sich alle Schleusen öffneten und ich in diesem apokalyptischen Augenblick den Menschen wirklich etwas von mir geben konnte, wenn auch nicht das, wofür die Eltern mich erzogen hatten und was die Menschen an mir gewohnt waren: den Anblick eines reizenden, geschlechtslosen Kindes, dann hatte dies nicht nur damit zu tun, daß es meistens doch irgendwie gelang, die Sache aufzuschieben und zu gegebener Zeit, am geeigneten Ort zu erledigen, sondern auch mit jenem peinvollen Moment, wenn nach unvernünftigem und unzulässigem Aufschub die Blase ihren Inhalt nicht hergeben und das strömende Lustgefühl sich nicht einstellen konnte. Diese Schmerzen hatten unverkennbare Ähnlichkeit mit jenen andern, in die ich mich in meinen Phantasien hineinzusteigern pflegte, ja im Grunde waren es die gleichen, und wie jene führten sie in den Verhalt.

Auch bei der Fronleichnamsprozession war meine Aufmerksamkeit gleichermaßen durch die Andacht wie durch die Besorgnis in Anspruch genommen, wie ich sie, ohne auszutreten, überstehen sollte, oder vielmehr fand die Sehnsucht nach Erlösung, die mich wie immer bei religiösen Feierlichkeiten, zumal wenn sie von Musik begleitet waren, überkam, in meinem Bedürfnis eine konkrete Spiegelung. Wahrscheinlich war ich deshalb gegenüber den Angriffsvorbereitungen meiner Schwester, dem scharfen Blick in mein Blumenkörbchen, dem messerscharf gezogenen Vergleich mit ihrem, blind; sie hatte übrigens eher nachts mit dem natürlichen Bedürfnis ihre Probleme. Ansonsten lag sie ganz richtig, wenn sie aus ihrer Stellung als Älterer das Recht ableitete, mich gelegentlich auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen, und sei es durch schnöde Übertretung aller rechtlichen Vereinbarungen, die, natürlich ohne daß wir sie ausdrücklich getroffen hatten, unser gemeinsames Zusammenleben ermöglichten, ihm de facto also zugrunde lagen. Da bei der faszinierenden Vorbereitung der Prozession lediglich von Blumenarrangements und mobilen Altären, von Frauenblocks und Gruppengebeten, aber nicht von dem fraglichen Bedürfnis die Rede war, glaubte ich ernstlich, daß es keine Rolle spielen würde; Gott würde es suspendieren.

Während wir in den hinteren Reihen kämpften – meine Schwester weniger mit ihrem schlechten Gewissen (wie gesagt war ihr der Gedanke fremd, daß sie mein Blumenkörbchen nichts anging, mußte sie doch stets auf mich aufpassen, und das hatte sie hiermit getan) als mit ihrer gerechten Empörung über die Undankbarkeit der Welt, die sich gegen ihre ordnende Hand stemmte, obwohl sie ihr anvertraut war, ich mit den Tränen, dem leicht hervorquellenden Ersatz für Dringlicheres –, war uns die Welt verrammelt. Ich empfand die innerste Einsamkeit dessen, der unter seine Feinde gefallen ist. Vor mir ragten die Rücken meiner ungewöhnlich groß geratenen Vorderleute auf; unbemerkt bei all dem Kummer waren wir unter die Erwachsenen geraten. Was an der Spitze des Zuges vor sich ging, wo in feierlicher Prozession das Allerheiligste getragen wurde, das konnten wir nicht einmal mit der Vorstellung erreichen; da wir es nie gesehen hatten, drangen unsere Gedanken nicht bis dorthin. Einmal hatte ich doch versucht, mich bis nach vorn durchzuschlagen, verlor aber rasch die Orientierung, die Szenerie, um nicht zu sagen der ganze Umzug hatten ein fremdartiges Aussehen bekommen, und ich wußte mir in meiner Verwirrung keinen anderen Rat, als mir in einem Tränenstrom Luft zu machen. Fremde Leute nahmen sich meiner an, meine schlimmsten Befürchtungen damit bestätigend. Ich versuchte sie zu treten, um mich aus ihrer tröstenden Umklammerung zu befreien. Aber sie merkten es nicht einmal. Lachend übergaben sie mich meiner Tante, die im Frauenblock mitging. Meine Schwester, die es nicht geschafft hatte, mich zu hüten, hatte mich tagelang gehaßt.

Ja, wenn wir unter den Ministranten unsern Platz gehabt hätten – was für uns Mädchen natürlich ausgeschlossen war (daß es später einmal soweit kommen würde, konnten wir uns nicht vorstellen, und als es soweit war, nicht einmal mehr gutheißen) –, es wäre alles anders gewesen. Wir hätten auch bessere Figur gemacht als die Jungen, die ihre Knie vor dem Allerheiligsten im Gehen einknickten, was sehr häßlich aussah, halbherzig, so als wären sie drauf und dran, aus dem Gottesdienst wegzulaufen. Wir, meine Schwester und ich, hätten die Bewegungen bis zur Vollkommenheit geübt und unsern Auftritt bis zur letzten Sekunde ausgekostet. Ich wußte ja, wie exakt meine Schwester war, wie flink. Sie hätte den Überblick gehabt, ich die Andacht. Wir wären ein herrliches Paar gewesen, ich in meiner Frömmigkeit, sie in ihrer Perfektion. Nur durften wir eben nicht streiten. Meine Schwester durfte ihre Hand nicht nach mir ausstrecken, wenn ich doch einmal aus dem Takt fiel, und ich durfte nicht flennen. Das heißt, sie mußte sich vor dem Altar zügeln, und ich durfte mir die Nähe zum Allerheiligsten nicht zu Kopf steigen lassen.

Das war nicht einfach, und ich dankte insgeheim dem Himmel, der mich zum Mädchen gemacht hatte. Aber solange wir einig waren, konnte uns nichts und niemand aus dem Takt bringen. Gemeinsam würden wir Bischof werden, ich meinetwegen Weihbischof, wußte ich doch bereits, daß nur einer Erzbischof werden konnte, oder gar Kardinal, und ich hätte den Neid meiner Schwester nicht ertragen, wohl aber meinen eigenen. Erzbischof, das hatte mit Alter zu tun, mit verliehener, nicht erworbener Legitimität, mit irrationalen Vorrechten. Meine Eltern, wenn sie daran dachten, daß sie bei der Geschenkeauswahl einen Fehler machen konnten, erblaßten jedesmal vor Schreck.

Ich würde nie Erzbischof werden, und schon gar nicht von Köln.

7 Übergriffe, Fortsetzung

Mein Vater war, was das Zusammenleben von Kindern betraf, von keiner Kenntnis angekränkelt. Er wußte nicht, was sich abspielte, wenn man sie sich selbst überließ. Für ihn war, sich selbst überlassen gleichbedeutend mit allein sein, und er wollte, daß seine Kinder nie allein sein sollten. Zusammen bildeten wir seiner Ansicht nach ein fürsorgliches System. Das schloß gelegentliche Reibereien nicht aus. Immer aber, das verlangte er von uns in geduldigen Ermahnungen, in denen seine eigene Kindheit eine Rolle spielte, sollte die Dankbarkeit für die jeweilige Existenz der andern die Oberhand behalten; alles andere war Sünde.

Ich weiß auch nicht, was geschah, wenn wir allein waren, aber ich spüre die Gegenwart meiner Schwester, ihre weder durch die Anwesenheit der Großmutter noch der Großtante gemilderte Gewalt. Gewiß, in der Küche klirrt das Geschirr. Ein verheißungsvoller Duft nach "Kommunionssüppchen" oder angebratenem Fleisch steigt uns in die Nase. Auf dem einzigen Sofa liegen wir Kopf an Kopf, Po an Po, rangeln um das einzige Kissen, auf dem ein großer und ein kleiner Pilz suggerieren, es wären zwei. Das Sofa ist eigentlich mein Bett. Auf dem meiner Schwester, einem echten Bettgestell, das am Kopfende höher als am Fußende ist, stapelt sich einer uralten Gewohnheit gemäß das Bettzeug; einmal Bett, immer Bett. Immerhin beherbergt es unter einem glänzenden Überwurf auch meine Steppdecke, und darum hat meine Schwester im Prinzip das gleiche Anrecht auf das Sofa wie ich. Erstaunlicherweise hielt sie sich wenig in unserem gemeinsamen Zimmer auf, das zugleich die Funktion eines Eßzimmers erfüllte, so daß der Tisch zur Mittagszeit abgeräumt werden mußte, um der gebrauchten Tischdecke Platz zu machen. Wahrscheinlich drückte sich hier der Altersunterschied aus, oder ich erinnere mich einfach nicht. Gelegentlich aber kommt sie auf ihr gutes Recht an dem Sofa zurück, auf dem ich in der Regel liege und lese. Jetzt heißt es standhaft sein und nicht mehr als nötig zur Seite rücken, auch den Körperkontakt nicht scheuen, wenn sie sich ebenfalls auf dem Sofa niederläßt; um zu lesen, wie sie behauptet, tatsächlich, damit das Recht nicht verfällt. Auch das Kissen mit dem großen und dem kleinen Pilz wird geteilt, und da der kleine Pilz erheblich kleiner ist als der große, geht die imaginäre Grenzlinie durch den größeren.

Wir liegen also Seite an Seite, Kopf an Kopf, Haar an Haar, so daß die harten Buchdeckel der Leihbücher aus der katholischen Jugendbücherei einander in die Quere kommen, während die Beine, die wir auf dem Rücken liegend übereinanderzuschlagen pflegen, einen kleinen Wirbel treten. Da es zu dieser Kraftprobe, ausgetragen um die Couch, die eigentlich mir gehört, nur im Konfliktfall kommt, wenn wir bereits verzankt sind oder ich meine Schwester ernstlich gekränkt habe, muß die körperliche Nähe ausgehalten werden, wenn wir uns am wenigsten riechen können. Da wir nicht mehr miteinander sprechen, müssen die Ellbogen die Grenzlinie korrigieren. Hier ist ein Zentimeter zuviel, da einer zuwenig: Autsch. Aneinandergeschmiedet wie ein mythologisches Geschwisterpaar, wie die Zwillinge am Firmament, verteidigen wir in einer seltsam finsteren Erfüllung des väterlichen Liebesgebots einen Platz, der bei gutem Einvernehmen nie ernstlich in Frage gestellt worden wäre, muten uns in voller Absicht die geschwisterliche Nähe zu, die nur unbewußt und unbeachtet zu ertragen ist, und liegen beieinander in ohnmächtiger Wut.

Zu einer unter Geschwistern üblichen Kraftprobe, einem Geplänkel, das zu allerlei Balgerei und Schmuserei führte, kam es nicht beziehungsweise ich ließ es nicht dazu kommen; ich wäre damit ja auf das Spiel meiner Schwester eingegangen. Daß sie ein Mensch mit Triebregungen war, drückte mich mit solcher Scham, daß ich eine abgrundtiefe Malaise empfand, so als wäre da nicht nur Mitleid mit der verschmähten Liebhaberin, sondern als bestünde bereits eine geradezu körperliche Verbindung.

Wären wir Zwillinge gewesen und hätten uns, in unbekannter, aber verbürgter Vergangenheit, um den Mutterkuchen gezankt, ich hätte das Ganze schon eher verstanden.

8 Übergriffe, Ende – Symbiose

Es führt kein Weg zurück, hinter die Puppenwagen, von denen meine Schwester die elegante Kinder-, ich die billige Sportwagenausgabe besaß, auch hinter die Puppen, von denen Suse, die Puppe meiner Schwester, mit dicken Zelluloidbacken und gefrorenem Lächeln thronte, während meine, klein, wackelig und gelenkig wie ein Kobold und von unbestimmbarem Geschlecht, sowenig eine Puppe wie ich eine Puppenmutter war. Es führt auch kein Weg hinter die Geburtstage zurück, von denen derjenige meiner Schwester, wie es der Älteren entsprach, frühzeitig im Jahr stattfand, was zur Tradition einer ehrfurchtgebietenden Apfelsinentorte führte, in meinem herbstlichen Fall zur uninspirierten Frage: Was für einen Kuchen möchtest du denn diesmal haben?

Die Welt ist geteilt und deshalb befriedet. Man mag das Ressentiment pflegen, ein ewiges Gedächtnis für erlittenes Unrecht installieren, vom Weglaufen in einer Zukunft träumen, in der es nicht mehr nötig wäre, sich zu befreien, denn man ist schon frei; aber Rache wird süß sein. Die Welt ist geteilt, aber der Zustand ist ein rechtlicher. Er belohnt mit Zeiten, in denen es nichts zu streiten und, wichtiger, nichts zu bereuen gibt. Dann liegen wir friedlich jede in ihrem Bett und singen Kirchenlieder; immer abwechselnd darf eine von uns bestimmen, was gesungen wird. Wir singen schauderhaft, aber wir wissen, wie es gemeint ist, und es gibt keinen Grund, sich zu schämen.

Gelegentlich mengen sich Empfindungen dazwischen, die sich nicht in Frage stellen lassen; sie sind einfach da. Sind sie Ausläufer des Ungeheuerlichen, durch keine Auseinandersetzung zu bändigen, oder bloß der materielle Ausdruck des Kleinkriegs, alles andere als dramatisch, also, und schon gar nicht archaisch?

Ich finde meine Schwester häßlich. Ich finde, sie riecht. Ich finde, sie spricht aus der Kehle. Wenn sie lacht, schaudert es mich. Nicht, daß sie nicht weiblich ist, ach nein, aber wie aus keines Weibes Schoß entsprungen, Athene. Ein unheimlicher Draht führt von meinem Vater zu ihr, oder sagen wir in diesem Fall von ihrem Vater zu ihr – denn was habe ich damit zu tun –, so als könnte sie sich geburtstechnisch auf ihn berufen. Sieht sie nicht, daß schon unsere Mutter keine richtige Frau ist, ich meine eine mütterlich-weibliche, so daß unser Vater in dieser Hinsicht also bestens versorgt wäre? Und doch ist unsere Mutter anders als ihre ältere Tochter, ein Jüngling in Frauengestalt, und daher lustiger als meine Schwester, die zweifellos ein Weib ist, aber entsprungen aus dem Schenkel des Vaters und daher mächtig, von undurchschaubarer, aber unbezweifelbarer Autorität.

Man sieht das schon, wenn sie schläft: Es sieht aus, als ruhte sie nur. Wenn sie aufwacht, braucht sie keine Sekunde, um sich zu orientieren. Früher, wenn ich sie nicht länger wachhalten konnte, war sie offensichtlich unter dem Plumeau verschwunden, ich will sagen, unter dem Deckbett war es leer! Kein Wunder, wenn ich sie nicht wecken konnte, und wenn ich noch so kläglich fragte: Wachste? Später liegt sie nur da mit seltsam entspanntem Gesicht, und wenn ich sie anspreche, grunzt sie nicht oder murrt, sondern antwortet im alltäglichsten Ton von der Welt, wie mitten aus einer Unterhaltung. Ich traue dem Frieden nicht. Warum sind ihre Augen zu, wenn sie nicht schläft, und wenn sie nicht schläft, was macht sie dann? Ich, wenn ich die Augen zu habe, bin jedesmal in einen jener inneren Zustände vertieft, die auf Lust hinauswollen und über Krampf nicht hinauskommen, und ich schwöre, man sieht es mir an, und deshalb scheint mir meine Mutter auch immer so verlegen, wenn sie mich wecken kommt und ich bin schon wach, und mein Vater, ab einem bestimmten Alter, betritt mein Zimmer überhaupt nicht mehr. Wenn ich dagegen das Zimmer meiner Schwester betrete – später haben wir jede eins für uns und leben in behaglichen Verhältnissen, aber sie schläft immer noch unter ihrem Plumeau, ich unter meiner Steppdecke, die von Tag schwerer wird, wulstiger, und mich schier erdrückt –, liegt ihr Körper wie eine Hülle da. Mit dem gleichen Gefühl, mit dem ich in einer leeren Kirche das Knie beuge – vor wem oder vor was –, rede sie an. Sie schlägt die Augen auf und sagt: Ja? Ich kann nur annehmen, daß sie die Hülle zurückläßt, wenn sie auf Wanderschaft geht, als Köder oder Attrappe, wer weiß. Wenn sie schläft, bewohnt sie ihren Körper nicht und ist doch gleich bei sich. Wenn ich schlafe, dann bin ich ganz bei mir; schlaftrunken winde ich mich aus meiner eigenen Umarmung heraus, schöpfe kurz vor dem Ertrinken Luft und schlucke den Speichel hinunter; was mag das für Geräusche geben – Aufwachgeräusche eben. Wenn ich von mir ausgehe, muß ich sagen, meine Schwester schläft überhaupt nicht; sie ruht. Sie ruht so lange, bis sie wieder tätig ist. Ansprechbar ist sie immer. Ich meine, sie hat gar kein eigenes Leben!

Ich erschrecke, wenn ich unzweideutige Zeichen von Lebendigkeit bei ihr entdecke, von Normalität. Nicht, wenn sie lacht, zum Beispiel, das meine ich nicht, soviel Lärm muß nicht sein, es ist ja, als wollte sie die Trompeten von Jericho übertönen. Ich meine nicht Zeichen von Herrschsucht, sondern Zeichen von Leben. Auch daß sie gern und laut weint, meine ich nicht, weil der Zweck dominiert, und das ist kein Zeichen von Lebendigkeit. Ich finde allerdings nicht, daß meine Schwester simuliert. Ich finde, sie demonstriert; sie weint zum Fenster hinaus. Klänge es nicht so gestelzt, man könnte sagen, sie weint, ich beweine. Aber man könnte es auch noch anders formulieren: Sie weint die Leute an, und ich bin es, die weint. Kein Wunder, wenn sie meine Tränen für unecht hält, haben sie doch keinen erkennbaren Grund, während ihre begründet sind. Wenn ich weine, ist die Kommunikation abgebrochen; und genau das hält sie für simuliert. Wenn sie weint, dann will sie etwas ausdrücken. Ihre extrovertierte Art, sich zu geben, meine ich also nicht. Unheimlich sind mir stille Zeichen von Lebendigkeit; die kann man nicht manipulieren. Daß sie Sommersprossen hat, darüber komme ich nicht hinweg, daß ihr die Arme rund und fest aus dem ärmellosen Kleid wachsen, daß auch sie Anteil hat an Blütezeit und Mädchenfleisch. Wäre es denn möglich, daß dieses fremdartige Wesen ein wirklicher Mensch ist, ein Mädchen wie ich? Daß meine Mutter sich geirrt hat, als sie meinte, sie hätte ein Gänslein geboren, nichts als Haut und Knochen, dazu ein zäher, um nicht zu sagen sehniger Wille, mit dem sie uns noch alle in die Tasche stecken würde? Ich beschließe, daß ihre Sommersprossen aufgemalt sind, da sie überhaupt etwas hölzern Optimistisches hat, etwas unbezwinglich Haltbares, wie Zäpfelkern in der deutschen Version von Pinocchio, der das Herzstück meiner Kinderbibliothek ist; daß sie etwas Verlebendigtes hat, etwas in menschlicher Hinsicht zwar Dilettantisches, in handwerklicher aber Erstaunliches, in mythologischer oder moralischer Hinsicht Unheimliches. Jahre später ist alles anders. Wenn ich in das Zimmer meiner Schwester komme – da sind wir schon groß und vernünftig –, betrete ich eine freundliche Welt. Das liegt nicht nur daran, daß sie von schöpferischer Unordentlichkeit ist. Auch nicht bloß daran, daß in ihrem Zimmer das Radio läuft, wogegen bei mir Friedhofsruhe herrscht. Auch daran liegt es nicht – aber hier stocke ich schon –, daß meine Schwester ihr Zimmer zu andern Zeiten bewohnt als ich meins, steht sie doch lange vor mir auf, um ihre Schularbeiten im Bett zu erledigen, und wenn ich schlafen gehe, höre ich aus ihrem Zimmer leise Musik. Ich gebe zu, ich mag es immer noch nicht, wenn sie schläft. Daß sie die Augen schließt, diese Vorstellung ist mir verhaßt. Ich vermeide es auch, ihr Zimmer zu betreten, wenn sie nicht da ist. Es ist eine tote Welt, in der das Radio läuft, Bücher und Schulhefte aufgeklappt herumliegen. Ein sonderbarer Geruch hängt über dem unaufgeschüttelten Plumeau, wie wenn hier ein Mensch wohnte, nicht der gute Geist, zu dem meine Schwester geworden ist. Mit meiner Schwester ist es nämlich so: Sie beherrscht mich nicht mehr – unbemerkt ist diese Zeit vorübergegangen –, sie sorgt nur noch für mich. Morgens flüchte ich mich aus meinem Zimmerchen zu ihr. Schlaftrunken taumele ich in ihr warmes Bett, schlüpfe unter das früher ach so gefährliche Plumeau, balanciere den riesigen Bol und schlürfe den Pulverkaffee, den meine Schwester aufgegossen hat, bevor sie mich weckte (erst Kaffee machen, dann wecken). Merkwürdig: Meine Schwester hat einen Draht zur Uhr. Solange sie sich um mich kümmert, brauche ich noch nicht aufzustehen, kann in Ruhe den Kaffee trinken, den sie mir gebracht hat, mir womöglich die Haare waschen, mit einem dicken Handtuch um den Kopf noch einmal ins gemütliche Bett steigen. Wie der liebe Gott persönlich hält sie die Zeiger an und schubst sie wieder an, und nie in meinem ganzen Leben fühle ich mich besser aufgehoben als in dieser Zeit, wo sie Freude daran hat, für mich zu sorgen, so als wären Vater und Mutter nicht mehr da. Unter diesen Bedingungen würde es mir nicht einmal etwas ausmachen.

Außer Frage, daß meine Schwester das Kaliber von beiden hat. Unbefangen lasse ich mich von ihr verwöhnen. Herrschen wollte ich sowieso nie, dazu mangelt es mir an Bereitschaft, auch an Einsatz, einfach an Statur, ganz im Gegensatz zu ihr, die König und Königin zugleich sein könnte, wenn es ihr nicht an einem Reich fehlte. Ohne ihre Tatkraft bin ich wie ein ausgesetztes Kind, ein Königskind meinetwegen, aber eine Beute von Gespenstern. So sind wir wie siamesische Zwillinge aneinander geschmiedet, ich ein Sein, sie eine Funktion; sie, ohne mich, kein Sein, ich, ohne sie, nichts.

Meine Schwester klopft, und ich fange an zu leben: wie bei einer liebevoll aufgebauten Modelleisenbahn leuchten die Birnchen auf, ein geheimnisvolles Summen läßt sich vernehmen, die Bahn fährt an, der Trafo macht seinem Namen alle Ehre. Meine Schwester kommt mit dem Kaffee herein, ich trinke den ersten Schluck. Wir sind schon älter, meine Schwester bereitet ihren Umzug vor, und das Wichtigste in unserem Umgang ist das Klopfen. An ihr vorbei husche ich hinüber in ihr Zimmer, in dem schon das Nachtlämpchen brennt, stelle die riesige Tasse neben das Bett und schlüpfe unter das warme Plumeau. Vom sicheren Port sehe ich meiner Schwester zu, wie sie hin und hergeht und den Tag in Gang bringt. Wenn aber die Schummerstunde vorbei ist und wir uns ins Leben stürzen, ist sie nach Belieben häßlich zu mir, und ich bin häßlich zu ihr. Fremde treiben einen Keil zwischen uns, und wir schämen uns füreinander. Das wäre Befreiung, denke ich ein ums andere Mal, wenn ich meine Schwester vergessen könnte.

O schöne Geschwisterzeit!

9 Liebesspiele

Hinter die kräftigen, blitzschnell reagierenden Hände meiner Schwester geht es nicht zurück. Da ist die Welt verrammelt. Wer weiß, was wir angestellt haben, wir beide, daß ich später den Arzt, den Apotheker, den Installateur, den Fliesen- und Teppichverleger, den Garagisten und Staubsaugerverkäufer, den Kellner und den Kaufmann, daß ich sie alle, die sich mit einer Sache abgeben, für Liebende halte und mich für die Sache? Was ist die Ursache davon, daß ich Lieben mit Hantieren verwechsele und, da ich zwei linke Hände habe, was meine Rolle betrifft, mit Stillhalten. Leider bin ich kein Mann. Als Mädchen muß ich mich schon aus Selbsterhaltungstrieb wehren, muß kratzen und beißen. Spielen ist nicht, und beherrschen lasse ich mich noch lange nicht. Wenn ich nur wüßte, worum es damals ging und wie wir das Problem des Lassens und Herrschens gelöst haben. Mehr will ich ja gar nicht wissen.

Es gibt später unter meinen Freundinnen – und durch meine Kindheit ziehen Heerscharen von Freundinnen – solche, die passen entweder nicht zu meiner Familie oder nicht zu meiner Konfession oder nicht zu meiner Intelligenz, auch nicht zu meinem Wesen. Diese Mädchen, die mich ihrer Freundschaft würdigen, ohne daß ich viel dazu beigetragen hätte, sind älter, oder, da die innige Beziehung zu ihnen fehlt, gröber als meine besten Freundinnen, dafür nicht zimperlich. Auf vorsichtiges Annähern und Abklären, das ganze Gedöns der Vertrauensbildung sind sie nicht angewiesen; wie heißt es im Märchen, es geht auch anders, aber so geht es auch. Wir lieben einander nicht, aber wir sind auf das gleiche aus. Himmlisch, wenn man sich nicht um Kopf und Kragen reden, sich mit Lügen nicht wortreich kompromittieren muß; denn wenn man ein Bürgerskind ist – Stand: kindlich, Konfession: katholisch, Eltern: ehrlich, Zukunft: akademisch –, kann man sehr wohl in Konflikt geraten. Himmlisch, wenn man nicht rechtfertigen muß, was, ausgehend von der bürgerlichen Familie, unmöglich zu rechtfertigen ist und trotzdem rechtfertigt werden müßte, gäbe es nicht diese gemeinsame Basis oder diese anderen Freundinnen.

Es kommt sogar beim Englischüben mit der besten Freundin vor, einem Kind, so unschuldig wie ich, so gut protestantisch wie ich gut katholisch, daß wir uns bei den Fragen mit to do zu vorgerückter Stunde gewagte Anspielungen diktieren, so daß wir die Hand wie von ungefähr auf die Beispielsätze legen müssen, wenn die Mutter mit dem Obstsalat hereinkommt; auch sie will das pädagogische Werk unterstützen. Nach solchen Exzessen bemühen wir uns, die in Schuldgefühle umgeschlagene Erregung wieder abklingen zu lassen, am Familientisch nicht die Unschuldslämmer zu spielen, sondern wieder unschuldig zu werden, so daß wir, wenn die eine die andere nach Hause bringt, einander in die Augen sehen und unbefangen herumalbern können; denn Freundinnen sind wir fürs Leben, nicht nur für den Schmutz. Da reicht es nicht, gemeinsam an Schmutziges zu denken; man muß auch wieder aufhören können.

Gelegentlich erlauben wir unserer Freundschaft eine Pause und wenden uns anderen zu, ohne daß von Untreue und Verrat die Rede ist. Das ist wie mit älteren Rechten, wie sie vor allem gegenüber meiner Freundin geltend gemacht werden: von Kusinen zum Beispiel, älteren Mädchen aus ihrem Haus oder Freundinnen aus der evangelischen Volksschule. Zu denen pflegt sie nach wie vor ein inniges Verhältnis, obwohl sie doch jetzt mich hat und weiß, wie nichtig der religiöse Unterschied ist und daß ich ihr zuliebe Geschwister, Freundinnen und Verwandte zu opfern bereit wäre; freilich habe ich keine Kusine, die katholischen Freundinnen sind mir beim Wechsel auf die Oberschule abhanden gekommen, und meine Schwester, nun ja, die habe ich schon irgendwie geopfert. Hätten wir nicht die gewissen Erfahrungen beim Üben, käme mir, trotz der Vielzahl ihrer älteren Verpflichtungen, auch nicht der Verdacht, daß nicht alles mit rechten Dingen zugeht, speziell mit den älteren Mädchen. Gegen die ist kein Kraut gewachsen.

Was ich nicht vorschlagen kann, das muß ich mir erschleichen.

Eine andere Freundin aus dem Gymnasium ist nicht besonders interessiert, aber nachgiebig. Da sie über die Maßen schön ist, ist sie es vielleicht gewohnt, daß sich Erwartungen an sie heften. Sie ist ein reputierliches Mädchen, keine Frage, nur hat sie, wenn ich ihre äußere Erscheinung mit meiner vergleiche, eben eine gewisse Verantwortung zu tragen: sie kann nicht so tun, als wenn sie keinen Körper hätte! So stellt sie ihn in einer indolenten Weise zur Schau und dämpft den Glanz ihres weißen, noch babyhaft unterfütterten Teints, die Verführungkraft der weichen, mit einer gewissen Fülligkeit spielenden Formen lediglich durch eine Zurücknahme ihrer Lebensäußerungen im allgemeinen, durch einen gewissen Gleichmut, eine gewisse Gleichgültigkeit, die es zwar nahelegen, ihr einen Hang zum Laster zu bescheinigen, wobei es aber schwerhält, ihr einen lebendigen Trieb zu unterstellen, etwas, was sie wirklich will.

Vielleicht leidet auch sie unter nächtlichen Obsessionen, sie sieht mir ein bißchen so aus.

Ich fühle mich nicht eigentlich zu ihr hingezogen – obwohl sie überaus anziehend ist –, was die unpersönliche Seite des Spiels unterstreicht. Ihr Leben ist so anders als meins, daß ich es mit dem Leben, das ich in meinen Phantasien führe, verwechseln könnte, wenn ich nicht wüßte, daß auch ihre Familie anständige Leute sind, sonst dürfte ich gar nicht zu ihr gehen – obwohl, allzugern sieht es meine Mutter nicht, Oma schon gar nicht, wegen der Religion, aber mein Vater duzt sich mit ihrem. Als Ausdruck und Gipfel der Andersartigkeit unterhalten sie in ihrem Hotel einen Veranstaltungsraum mit Samtvorhang und Klavier, in dem wir nach der Schule spielen dürfen. Jedenfalls hat es uns niemand verboten. Wer hat uns beigebracht, daß die ollen Kamellen die besten sind? Woher kennen wir die Archetypen der Unanständigkeit, das öde Spiel der Lust und Gewalt, die Grundregel, daß man, um genötigt werden zu können, eigens zustimmen muß? Ich bin wie elektrisiert von den schweren Falten des Vorhangs, von der Bühne, auf der richtig gespielt wird, nicht nur geträumt! Meine Freundin, mit der elektrisierenden Umgebung allzugut vertraut, klimpert bereits gelangweilt auf dem Klavier. Gleich wird sie vorschlagen, daß wir nach draußen gehen; bestimmt hat sie mit ihrer Kinderfreundin allzuoft hier gespielt, und der müde Glanz hat sich über ihre samtigen Augen gelegt, Schlafzimmeraugen, während die ihrer ältesten Freundin wissende Augen sind; ich kann da nicht mit, meine Augen sind blau. Bei mir zu Hause steht kein Klavier, niemand hat ein solches Vertrauen in die Dauerhaftigkeit unserer Leidenschaften, daß er darauf eine unwiderrufliche Anschaffung gründen würde. Ob sie mir die Anfangsgründe beibringen, mir vielleicht regulär Klavierunterricht geben kann? Sie zeigt wenig Interesse, was hätte sie schließlich davon? »Nur mal probieren, du bist der Klavierlehrer.« Auf das Zauberwort hin spielen wir Klavierunterricht.

Vor dem verstimmten Instrument steht ein einziger Stuhl. Brav stehe ich neben dem Lehrer, während er mir die Melodie vorspielt. Als ich sie nachspielen soll, setze ich mich schüchtern auf seinen Schoß. Mit festem Griff zeigt er mir, wie man die Tasten anschlägt. Ping, mache ich zaghaft, ping.

Meine Freundin kann nicht nur Klavier spielen, im Gegensatz zu mir hat sie eine schöne Altstimme, eine richtige Frauenstimme, mit der sie mühelos den richtigen Ton trifft. Ich wäre schon froh, wenn ich die einfache Melodie auf dem Klavier zusammenbrächte. Die Hand fest und ruhig in meinem Schoß, singt sie:

Sitzt ein kleins Vöglein im Tannenwald
Tut nichts als singen und schrein
Was mag das nur für ein Vöglein sein
Das muß die Nachtigall sein.

Sie ist die Nachtigall. Ich bin das Vöglein.

10 Lesemappen und das Bett meiner Eltern

Wie jede Familie, so hat auch meine ihren toten Winkel. Wir leben in einem Zustand der vollkommenen Unschuld, sieht man von den schmutzigen Gedanken, die mich belagern, den Argusaugen meiner Großmutter, die auf ein dunkles Wissen schließen lassen, einmal ab, aber jedes Wochenende bringt mein Vater aus der Praxis die Lesemappen mit herauf. Merkwürdig, wo etliche Frauen in unserer Familie in ihrem Leben nie einen Mann erkannten und folglich keine Ahnung von dem haben, was ihnen aus den bunten Blättern entgegenkommt, Freitag bis Sonntag lesen wir alle Illustrierte.

Es mögen die Bilder sein, wie meine Mutter mir später erklärt; nach dem Krieg, sagte sie, gab es einen Hunger nach Bildern. Ich kann mir nicht vorstellen, was das für ein Hunger sein soll, aber ich bin schockiert. Oma, Opa, Tante und Großtante, was machen sie mit all den Ausschnitten, den abgewinkelten Hüften, dem glänzenden Blond? Lesen sie dieselben Geschichten wie ich – ich kann es nicht glauben –, oder interessieren sie sich nur für die Rezepte auf den hinteren Seiten des Journals? Die Nachrichten aus dem Leben der Stars und des Adels nehmen sie für bare Münze. »Ihr Mann hat eine Jüngere«, sagt meine unverheiratete Tante, als wäre von der Nachbarin die Rede. »Jetzt ist sie allein«, sagt sie. »Was hat sie nun von all ihrem Geld?«

Ich finde meine Verwandten peinlich. Was, wenn sie jemand hört, was sollen die Leute von mir denken. Dabei besteht keine Gefahr, sie äußern sich nur zu Hause, und sie gehen auch nicht zum Arzt, um im Wartezimmer Illustrierte zu lesen. Was ich eigentlich meine, ist, warum schämen sie sich nicht vor mir und bringen mich dazu, daß ich mich für sie schäme. Im Gegensatz zu mir aber sind sie frei. Sie können die Illustrierte auf- oder zuschlagen; aus den Augenwinkeln verfolge ich, wie sie das tun, es muß eine Kunst sein, oder es ist ein Trick dahinter, das Heft zuschlagen, klack! Sie können auch von der Ratgeber- auf die Reiseseite, von den Enthüllungen direkt zur Wettervorhersage blättern, nur ich hänge fest. Immerhin wissen sie, was ich in die Finger kriege: Bäuchlings auf dem Teppich liegend, die Ellbogen aufgestützt, die Unterschenkel in der Luft gekreuzt, die Nase wie immer im Gedruckten, mitten unter ihnen, bastele ich vergeblich an meinem ersten Orgasmus; ich habe noch nicht begriffen, daß Lust einen Zwischenraum braucht. Unter dem traulichen Schein der Stehlampe, im Kreise meiner Lieben, mit einer Lektüre beschäftigt, die sie teilen, bin ich, die Einsamste unter den Einsamen, ans Schambein genagelt. »Fertig?« fragt Opa. Da er kaum hörbar spricht, streckt er die Hand aus. »Gleich«, sage ich in einem Ton, dem man das Gepreßte nicht anhören soll – man hört es ihm an, aber wer weiß, vielleicht kommt es von der Bauchlage. Seltsamerweise ist auch er auf den Fortsetzungsroman scharf, der in seiner Verquickung von Sex und Krieg meine Nächte verstört; meine Mutter sagt, weil der Autor aus Schlesien ist. Opa ist alt, krank, winzig, gebückt und ungelenk, in jeder Hinsicht wehrlos. Ich kann nicht begreifen, wie er mit den Bildern fertig wird, die die Schilderung erzeugt, oder erzeugt sie in ihm keine Bilder? Während er das Blatt in seinen matten Fingern hält, verfolge ich heimlich, ob sie sich in seinem Gesicht spiegeln. Wandern seine Augen die Zeilen hinunter? Blättert er wenigstens um? Wahrscheinlich guckt er doch nur nach den Fotos, die das zerstörte Breslau zeigen.

Der schlimmste Moment ist der am vorläufigen Ende, wenn es heißt: »Fortsetzung folgt«. Gebannt schaue ich nach meinem Opa, wenn er an die gleiche Stelle kommt. Quält ihn die ausweglose Erregung? Zuckt er unter der Attacke der Enttäuschung zusammen? Aber er schlägt das Blatt nur mühselig zu, erhebt sich gebückt und sagt: »Komm, Cilly, wir gehen schlafen.«

Es muß an mir liegen. In mir haust das Böse. In meinem Schambein steckt alle Schuld.

Mit gesenktem Blick sage ich ebenfalls gute Nacht, überzeugt, daß die Eltern mich nicht hinausgehen lassen werden, ohne mich zur Rede zu stellen. Aber meine Mutter blättert versonnen in der Illustrierte. Vater liest noch rasch den »Spiegel«-Artikel zu Ende, der »so herrlich bösartig« ist, daß er darüber die eigene Duckmäuserei vergißt.

Obwohl ich mein schreckenerfülltes Leben in vollkommener Heimlichkeit und entsprechend in vollkommener Verlassenheit lebe, beschließen meine Eltern von heute auf morgen, die Illustriertenmappe nicht mehr in die Wohnung zu bringen. Es tue ihren Kindern nicht gut. Meine Großeltern bekommen zum Trost einen Fernseher. Von da an sind wir freiwillig bei ihnen im Oberstock zu Gast.

Gegen die Unschuld meiner Familie ist kein Kraut gewachsen. Opa ist das beste Beispiel dafür. Samstagabend liest er die schmutzigen Illustrierten und läßt sich Sonntagmorgen sorglos zur Kommunion führen. Die Tanten in meiner Familie sind Jungfrauen, kriegsbedingt, und das Bett meiner Eltern ist rein, darf es doch aufgedeckt und zugedeckt, aufgebettet und umgebettet werden je nach Bedarf, speziell von meiner Großtante, die in die Geheimnisse des Ehepaars eingeweiht ist: Vater liebt zusätzlich kleine Kissen, da er im Bett liest, Mutter bekommt eine Wärmflasche. Kalte Betten sind abstoßend, zumal wenn das Schlafzimmer so kalt ist, daß die Alpenveilchen auf den Fensterbrettern blühen. Zugedeckte Betten sind abweisend, da sie, hochgetürmt, unter der glänzenden Überdecke aussehen wie Särge. Jeden Abend, bevor meine Eltern nach Hause kommen, deckt meine Großtante daher die Betten auf und rückt die Kissen einladend zurecht. Über Mutters Bett brennt in der Regel das Nachtlämpchen, damit man sich auf dem Weg zum Telefon neben Vaters Bett ganz hinten im Winkel nicht stößt. Bevor meine Mutter schlafen geht, versteckt meine Großtante noch die Wärmflasche unter dem Plumeau und legt das Nachthemd darauf, damit es angewärmt wird, streicht das ohnehin makellos gespannte Laken glatt. Ich finde kein Bett so bewohnbar wie das meiner Eltern.

Freilich sind unermüdliche Anstrengungen dazu nötig. Man darf sich nicht auf den Standpunkt stellen: Warum das Bett zudecken, wenn man es doch wieder aufschlagen muß? Man muß es morgens zudecken im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß man es abends wieder aufschlagen wird. Man muß die Kissen aufschütteln, damit sie wieder zerdrückt werden können. Nur so entsteht der Eindruck der Reinheit und Frische, den ich an den Betten meiner Eltern so bewundere. Mein Bett sieht anders aus. In Rippen kräuselt sich das Bettuch über der dreiteiligen Seegrasmatratze, die Steppdecke mit Irisettebezug, mittlerweile von bewundernswertem Alter, weicht in konzentrischen Halbkreisen zurück – wenn ich abends hineinschlüpfe, versuche ich unwillkürlich, so wenig Schlamm wie möglich aufzuwühlen und nicht in die kälteren Abteilungen zu geraten, die See ist tückisch. Wie eine Fremde, liege ich in meinem Bett, stocksteif. Erst wenn ich morgens aufwache, fühle ich mich unter meiner Decke zu Hause, und dann muß ich aufstehen.

Die Betten der Eltern werden so oft gelüftet, daß ich mich ohne Angst hineinflüchte, während es in meinem von Gespenstern nur so wimmelt. Auch unter dem Bett wird täglich gemoppt. Der Mopp stiftet Unruhe. Wo er tätig wird, kann sich nichts einnisten. Ich könnte nie moppen, es sei denn, ich wäre entweder abergläubisch oder aber spießig.

Wenn ich krank bin, darf ich gelegentlich im Schlafzimmer meiner Eltern liegen, ganz offiziell, am hellichten Tag, das ist wie ein Ausflug. Ihre Betten sind frisch, meins ist verödet. Manchmal traue ich mich nicht einmal, mich umzudrehen, aus Angst, ich könnte etwas Totes berühren; aber das ist ein anderes Kapitel, daß alles, was ich nicht ständig anfasse, stirbt. Indem meine Großtante die Betten meiner Eltern anfaßt und aufhebt, indem sie sie umdreht und schüttelt, bewirkt sie die zierliche Anordnung, das perfekte Aussehen nicht nur täglich neu, sondern sorgt auch dafür, daß sie nicht absterben. Man kann sich in ihnen drehen und wälzen, wie man will; nirgendwo stößt man an Kaltes, Totes oder Glitschiges. Zivilisation herrscht bis in ihren letzten Winkel. Auch wenn sie leer sind, sind sie bewohnt. Ich bin überzeugt, daß meine Eltern das allein nicht zustande brächten, so wenig Zeit, wie sie im Schlafzimmer verbringen, obwohl meine Mutter eine leidenschaftliche Schläferin ist, mein Vater im Bett ein leidenschaftlicher Leser. Die Wohnlichkeit der Betten hängt nicht von den Zeiten der Bettruhe, sondern von denen außerhalb der Bettruhe ab. Das ist wie mit dem elektrischen Licht: Wird es ausgeschaltet, sobald man den Raum verläßt, oder bleibt es im Zimmer hell, also, ist das Licht für das Zimmer? Mir wäre es lieber, wenn es für das Zimmer wäre. Dann könnte es mich aufnehmen.


 ← Zurück

Zum Inhaltsverzeichnis

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt28.html.

Zur Textübersicht

© 2000 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.