Ilse Bindseil

Aus allen Wolken

Roman meiner Kindheit

II.Teil: Elternhaus und Schule

  1. 1 Die Familie
  2. 2 Die Eltern
  3. 3 Ortssinn – Mein Vater
  4. 4 Ortssinn, Fortsetzung
  5. 5 Ortssinn, Fortsetzung. Symbole und Abkürzungen
  6. 6 Ortssinn, Schluß. Erste Lieben
  7. 7 Erste Lieben, Fortsetzung
  8. 8 Liebe, Schluß
  9. 9 Volksschule
  10. 10 Mädchengymnasium
  11. 11 Das Jungengymnasium
  12. 12 Adel und Reichtum. Meine Schwester
  13. 13 Kleidersorgen
  14. 14 Kleidersorgen, Fortsetzung
  15. 15 Kleidersorgen, Schluß

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II Elternhaus und Schule

1 Die Familie

Meine Freundinnen hatten Verwandte, mein Vater hatte Patienten. Sie fuhren in den Ferien zu Verwandten. Wir fuhren dahin, wo es nach Aussage meiner Mutter vor allem keine Patienten gab. Meine Eltern standen sich mit aller Welt vorzüglich, aber im Hinblick auf ihr Privatleben waren sie heikel. Bekannte gerieten häufig in die Kritik, und die Bezeichnung Freund wurde zu Hause nur für Vaters Kamerad aus der Kriegsgefangenschaft gebraucht; ansonsten waren ihre Ansprüche zu hoch. Ihnen fehlte die Zeit, um Freundschaften zu pflegen, außerdem haftete dem Freund der Ruf des Faulpelzes an – meinetwegen auch der des besonders tüchtigen Kerls, der alles unter einen Hut brachte, des Junggesellen im Grunde –, der Freundin aber der Ruf der geschwätzigen Frau, die die Geheimnisse ihres Ehelebens zum Gegenstand der Erörterung machte und dann die entsprechende Gegenleistung erwartete, kurz, wiewohl selbst verheiratet und natürlich treu, keinen Respekt vor der Ehe als Einrichtung hatte, als Sakrament oder Bastion. In meiner Familie war der Partner der beste Freund; wäre dies nicht der Fall gewesen, dann wäre man ohne ausgekommen, hart dabei geworden, innerlich und äußerlich unabhängig. Das Behagen, das die intakte Familie, wie mein Vater sie bezeichnete, ausstrahlte, setzte sie wohltuend von unkonventionelleren Lösungen ab, mochten sie die Atmosphäre großbürgerlicher Freiheit oder proletarischer Unkompliziertheit verbreiten; das Unbedingte fehlte. Wer seine Kinder- und Jugendfreundschaften ins Erwachsenenalter hinübergerettet hatte, also kein Flüchtling war, konnte sich auf einen Freundeskreis von ähnlicher Unbedingtheit verlassen wie meine Familie; man kam nicht hinein. Es war kein Zirkel zur Förderung des beruflichen oder politischen Fortkommens – die gab es auch –, sondern ein Kreis mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen, aber gemeinsamen Erinnerungen und Interessen. Laut meinen Eltern ging ihr Überdruß, was jegliche nähere Bekanntschaft betraf, auch auf das Konto der Patienten, die sehr viel Zuwendung beanspruchten. Aber ich zweifelte an dieser Version, da die Eltern meiner Freundinnen auf irgendeine Weise alle mit Patienten zu tun hatten – denn was waren Kunden anderes –, mit Freunden aber nicht das geringste Problem. Im Gegenteil, ohne die tröstliche Gewißheit von Skatabend und Saunaverabredung, von sonntäglichem Paddelausflug und Karfreitagswanderung, den spannungsreichen Wechsel von Freundschafts- und Familienunternehmungen hätten sie weder die Kraft gehabt, sich der Familie, noch die Geduld, sich den Kunden zu widmen, die pflegebedürftige Großmutter zu versorgen und dem Nachbarn beim Hausbau zu helfen, alles Pflichten, denen sie unermüdlich nachkamen. Bei uns kam etwas anderes hinzu, in den Worten meiner Großmutter, für die sogar der Kriegskamerad meines Vaters, ein honoriger Arzt, eine tendenzielle Bedrohung war: meine Eltern waren zu gut für diese Welt, jede Kontaktaufnahme daher eine Unverfrorenheit, im harmlosesten Fall steckte eine Forderung dahinter.

Damit meine Großmutter nicht mißverstanden wird: nicht zu gutmütig wären meine Eltern, obwohl mein Vater durchaus Züge dieser Schwäche hatte, sondern zu gut. Auch nichts Jenseitiges hatte sie dabei im Auge, vielmehr den diesseitigsten Sachverhalt von der Welt: wir waren etwas Besseres.

Dafür sprach nicht zuletzt die Überschaubarkeit unserer Familie, die nur deshalb unnatürlich groß wirkte, weil wir alle beieinander hockten. Nach unten zu, wo es entscheidend darauf ankam, verjüngte sich die Pyramide dramatisch. Meine Schwester und ich waren die einzigen Kinder, meine Mutter und ihre Schwester die einzigen Kinder ihrer Eltern, mein Vater der einzige Sohn. Das war nur scheinbar normal, wirkte vielmehr wie eine wortwörtliche Auslegung der biblischen Anfänge, denen zufolge ein Paar zur Reproduktion reichte, freilich auch nötig war. Hätten unsere Eltern uns nicht gezeugt, unsere Familie hätte sich nicht fortgesetzt. Für ihr Überleben waren sie ganz allein verantwortlich, andere Familienmitglieder hatten sich, wer weiß, vielleicht in weiser Einschätzung ihrer Fähigkeiten, der Fähigkeit zur Verantwortung zumal – vielleicht auch weil meine Großmutter sie, wie es ihre Art war, auf den einen oder anderen Mangel eines möglichen Anwärters hingewiesen hatte –, an den familiären Reproduktionsaufgaben nicht beteiligt. Unsere Familie war nicht klein, aber von bestechender Transparenz; Qualität ging eben auf Kosten der Quantität, umgekehrt, wie meine Großmutter nicht müde wurde zu betonen, genauso. In der Tat hatten meine Freundinnen jede Menge Verwandte, und es erwuchsen ihnen allerlei Pflichten daraus. Aber das trübte ihre Anhänglichkeit nicht, sie waren nicht sensibel genug, um unter der Last der Umstände zu ächzen.

Bekannte hatten meine Eltern reichlich. Wie hätte mein Vater sonst für seine Praxis gesorgt? Trafen sie einen von ihnen auf der Straße, blieben sie bereitwillig stehen und unterhielten sich stundenlang mit ihm; man hätte meinen können, sie freuten sich über die Gelegenheit zu Klatsch und Tratsch, trennten sich nur widerstrebend und gingen womöglich gar nicht gern nach Hause. Hinterher fühlten sie sich hereingelegt und bezeichneten das Zusammentreffen als Katastrophe. »Wenn ich schon mal einkaufen gehe«, sagte meine Mutter verbittert. »Ich habe einen Bekannten getroffen«, war denn auch die häufigste Entschuldigung meiner Eltern. Sie verwies darauf, daß es nicht an ihnen lag, sondern an den andern. Die verkörperten Institutionen, unser guter Ruf hing von ihnen ab. Für einfache Personen hätte die Ausrede nicht gegolten, und so war sie auch für uns Kinder tabu, nichts anderes hieß sie, als daß wir getrödelt hatten. Wir waren den Verlockungen der Straße erlegen, hatten uns mit weiß Gott wem eingelassen, es fehlte nicht mehr viel, und wir gingen mit jedem mit. Wenn die Eltern sich dagegen verspäteten, hatten sie den gesellschaftlichen Verpflichtungen das heilige Bedürfnis nach Ruhe geopfert und die Interessen der Familie über die eigenen gestellt. Wenn ich einen von ihnen begleitete, durfte ich mich ungestraft verspäten. »Ich habe einen Bekannten getroffen«, jammerten sie hinterher und wurden gehörig bemitleidet. Mit der Schuhspitze im Dreck bohrend, hatte ich danebengestanden und gehört, wie sie lachten und lustig replizierten. Hätte ich es nicht besser gewußt, ich hätte geschworen, sie amüsierten sich. Das eine oder andere Mal, wo ich sie lautstark vor »Frau Soundso« gewarnt oder wegen einer unvermeidlichen Begrüßung bedauert hatte, wurde ich ausgezankt; ich konnte mich nicht benehmen, was sollten die Leute denken, meine Eltern schämten sich für mich.

Ich lernte, daß es in unserer Familie stets zwei Versionen gab, eine heilige und eine profane, in andern Familien dagegen nur eine einzige. So sehen sie auch aus, hätte meine Großmutter trocken gesagt, und in gewisser Weise mußte ich ihr sogar Recht geben. Wenn sie mit ihren Kindern zankten, war es den Eltern der Freundinnen egal, ob es Zeugen gab. Es war ihnen auch gleichgültig, ob ich hörte, wie sie über andere redeten. Nur mit Äußerungen über meine Familie hielten sie sich im letzten Moment zurück, aber aus den Anfängen erschloß sich der Rest. Wenn ich meine Freundin in Tränen zurückließ, weil wir wieder einmal nicht »Bescheid gesagt« hatten, so wußte ich wenigstens, daß die Sache erledigt war. »War’s noch schlimm?« hatte ich das erste Mal morgens in der Schule gefragt. Sie hatte lachend den Kopf geschüttelt. Ihre Eltern schrien leicht, hatten aber kein langes Gedächtnis. Wenn dagegen ich nicht »Bescheid gesagt« hatte, wurde der Besuch in aller Form, ja Herzlichkeit zu Ende gebracht. Das Donnerwetter kam hinterher, wenn wir wieder »unter uns« waren; in schwerwiegenden Fällen wurde das Strafgericht auf die Rückkehr meines Vaters verschoben. Sehnsüchtig sah ich meiner Freundin nach.

Wenn ich zu andern Leuten ging, dann nie ohne das Gefühl des Verrats, verübt an meiner Familie. Wenn ich irgendwo etwas Nettes zu hören bekam, ich als Person, nicht als Abgesandter meiner Familie, dann, schien es mir, nur in dem Maß, wie ich Abfälliges über meine Familie äußerte oder überhaupt irgend etwas von zu Hause erzählte und damit gegen das Grundgesetz verstieß: Du sollst nicht über die Familie sprechen!

»Aber ich habe doch gar nichts erzählt!«

Alles was die Familie betraf, war Geheimnis, und das Grundgesetz lautete: Du sollst nicht aus dem Geheimnis berichten.

Kinderbesuch ging in Ordnung. Aber selbst wenn unsere Freunde bei uns aßen oder schliefen, durfte das Geheimnis der Familie nicht entschleiert werden. Dieser Imperativ war so geheimnisvoll, daß Vernunft nicht ausgereicht hätte, um ihn zu befolgen. Wir mußten selbst ein Interesse an der Aufrechterhaltung des imaginären Geheimnisses haben und uns intuitiv richtig verhalten. Wo es zu Verstößen kam, da waren wir nicht von Grund auf böse, sondern hatten bloß für einen Moment die Orientierung verloren und tappten im Dunkeln. Freilich passierte das nicht von ungefähr, sondern in einem Moment der Ermüdung; sich abgrenzen strengt an. Warum sollten wir nicht etwas tun, was in anderen Familien gang und gäbe war, warum eigentlich nicht? Beiläufig stellte sich bei solchen Gelegenheiten der mysteriöse Imperativ als die einfache Spielregel heraus, als die er gemeint war, bevor ich ihn zum Mysterium stilisierte. Das Geheimnis der Familie wahren bedeutete eben, nicht über die Familie zu reden; es gehörte sich nicht.

Wenn das nicht göttlich war: Du sollst kein Bild liefern, das als Abzug, klischiert, zirkuliert! Du sollst nicht herziehen über das, woraus du sprichst! Später, wenn du älter bist und das Fell dich juckt und du mit Fachworten jonglierst, heißt die Regel: Du sollst die Familie nicht psychologisieren! Die Quelle alles Psychischen psychologisierte man nicht.

So konnten sich Kinder tagelang bei uns aufhalten, ohne daß sich ihnen das Geheimnis unserer Familie entschleiert hätte. Sie waren wohl auch nicht detektivisch genug, obwohl sie zu Hause von neugierigen Müttern erwartet wurden. Im Gegenteil, da bei uns der Ausdruck eines gesunden Familienlebens, Rivalität, Neid und gegenseitiges Ressentiment, fehlte, fingen sie, je öfter oder regelmäßiger sie sich bei uns aufhielten, desto unvermeidlicher an, für unsere Familie zu schwärmen.

Meine Eltern hielten es so: Sie konnten zu uns kommen, wir gingen möglichst selten zu ihnen.

Bei meinen Freundinnen waren Bekannte nichts, wovor man sich fürchten, wogegen man Maßnahmen ergreifen mußte, wonach man sich nur heimlich sehnen durfte, nichts zwischen Tugend und Laster, überhaupt nichts ethisch Moralisches: einfach eine feste Größe.

Undenkbar, daß es ihren Eltern Streß bereitet hätte, mit ihren Freunden nach Mallorca zu fliegen oder am Strand von Katwijk Bekannte zu treffen.

2 Die Eltern

Wenn meine Eltern wegfuhren, dann »um allem zu entgehen«, eine pauschale Bezeichnung für den Komplex sozialer Freuden, aufgefaßt als Sollen, Modus der Pflicht. Der Ausdruck bezog sich ursprünglich auf die Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen, die man sich durch seine eigene Existenz eingebrockt hatte, denen man daher nicht »entgehen« konnte. Er hatte aber, der ihm innewohnenden Allgemeinheit gemäß, eine Tendenz sich auszuweiten, bei der sich abzeichnete, daß meine Eltern, wenn wir aus dem Haus waren und die Großeltern nicht mehr lebten, die Tanten, der ganze Clan, schließlich in der Fremde ihren Wohnsitz aufschlagen würden. So weit gingen sie nicht, aber sie brachen, kaum heimgekehrt, zu neuen Ufern auf und wirkten so wie beständig auf der Flucht, man wußte nicht, vor dem Tod oder dem Leben.

Wollten sie auch uns Kindern entgehen, wenn sie in den ersten Jahren nach dem Krieg allein in die Ferien fuhren und uns in der Obhut der unverzichtbaren Hausgenossen zurückließen? So hätten sie es nie ausgedrückt; alles Wesentliche, wozu sie sich durchrangen, wurde auf den Krieg bezogen und was sie durch ihn versäumt hatten. Ich wunderte mich über ihre freiwillige Trennung von uns und darüber, daß sie für ein ungewisses Vergnügen zu zweit das Glück ihrer Kinder in Frage stellten. Tatsächlich machten wir in der Obhut unserer Verwandten, die für uns sorgen mußten, uns aber nicht erziehen durften, gewaltige Rückschritte, und wenn uns unsere braungebrannten, himmlisch verjüngten Eltern bei ihrer Rückkehr in die Arme schlossen, meinten wir, wir hätten die Zeit nicht anders als mit Warten verbracht.

Im Alter schloß »entgehen« den Tapetenwechsel ein, die schiere Entbindung von der Pflicht, sich zu versorgen. Wofür lebten sie noch? Probeweise redete ich von ihnen so, wie meine Freunde über ihre Altvorderen redeten: »Stellt euch vor, was sie schon wieder angestellt haben!« Ich hatte aber ein schlechtes Gefühl dabei, so als hätte ich meinen Eltern die töchterliche Liebe aufgekündigt, während es bei meinen Freunden nur so dahingesagt war; vielleicht liebten sie ihre Eltern zärtlicher als ich und konnten stundenlang über sie herziehen, ohne daß das Verhältnis in Frage gestellt wurde. Ihre Erziehung war weniger hehr, weniger erhaben gewesen als meine und hatte sie ihren Eltern vielleicht weniger nahegebracht, sie von ihnen aber auch weniger getrennt. Zwischen mir und meinen Eltern hatte das Erziehungswerk dagegen Barrieren aufgerichtet, die jede Verständigung zunichte machten; Gott sei Dank, sonst hätten sie ja glauben müssen, Mühe und Aufwand wären vergeblich gewesen.

Ein Zufall, übrigens, wenn man tatsächlich einiges verpaßte: eine örtliche Feier, den Geburtstag des Bürgermeisters, die Einweihung des Schützenhauses. Mein Vater trauerte diesen Gelegenheiten nach, aber nicht ernstlich. Auf Grund einer seltsamen Begabung, die mir nicht begreiflich werden wollte, war er ungeheuer beliebt. Dank einer geradezu wundersamen Fähigkeit, alle familiären Bindungen abzustreifen, sobald er das Haus verließ, ohne daß er jemals seine Frau verleugnete oder ihre Ehre im geringsten beschädigte, war er regelrecht Hahn im Korb, nicht billiges Maskottchen, nein, umschwärmter Junggeselle. Meine Mutter fand, es läge an seiner rhetorischen Begabung; eine gewagte Behauptung, da sie höchst selten mit ihm ausging, und wenn, dann in alles andere als aufnahmebereiter Verfassung war. Tatsächlich wurde er regelmäßig aufgefordert, die Festrede zu halten, bereitete sich auch gewissenhaft vor. Improvisieren war nicht seine Art, wohl aber liebte er den Schein der Improvisation und sah seine eigentliche Aufgabe darin, ihn zu erzeugen. Meine Mutter teilte seine Aufregung, litt auch mit ihm, wenn er sich im letzten Moment aufs Örtchen zurückzog, um die Rede noch einmal durchzugehen, und war leicht davon zu überzeugen, daß es ohne Zettel nicht ging, half suchen, wenn er ihn verlegt hatte. Dabei verstand sie unter seiner Begabung eigentlich etwas anderes als bloß die förmliche Rede, nämlich die Kunst, lebendig zu sein und einen Mittelpunkt zu bilden. Für sich hatte sie die Rednerkunst zu etwas Besonderem, ihr Unerreichbarem erklärt, es war eine Talentfrage, so sah sie das, und sie hatte eben kein Talent. Ich fand an ihrer Erklärung etwas faul, obwohl ich ihre Überzeugung, das Talent betreffend, teilte. Unausgesprochen bezog sie Vaters Rednergabe auf sein Geschlecht. Nach dem Titel eines meiner Lieblingsromane war sie »eine unbegabte Frau«. Zwar stammte sie aus der Stadt, aber ihre Familie war vom Dorf. Wahrscheinlich hielt sie reden deshalb für eine Häuptlingskunst. Hätte ihr jemand gesagt, daß sie ebenfalls eine rhetorische Begabung, nämlich Schlagfertigkeit und Witz besaß, dann hätte sie gesagt, ach, das meint ihr damit, wäre aber enttäuscht gewesen. Zu Hause redete sie übrigens viel mehr als mein Vater. Wahrscheinlich brauchte sie die Gewißheit, daß es sich bei ihrer Rede um etwas qualitativ anderes handelte als bei der ihres Mannes, um ungeniert loslegen zu können. Als sie in vorgerücktem Alter eine Rede hielt, war diese getragen und hohl, unerträglich gestelzt. Auf ihre Weise behielt sie also recht.

Um in den Ferien »allem zu entgehen«, scheuten meine Eltern keine Mühe. Dank seiner zahlreichen Kontakte hatte mein Vater einen exakten Überblick über die Ziele der andern und wußte, welche Orte zu vermeiden waren. Die Rädelsführerschaft schob er galant seiner Frau zu. »Alle Welt fährt in diesem Jahr nach Mallorca«, sagte er etwa spitzbübisch, »aber eure Mutter will ja nicht.« Das war ein abgekartetes Spiel, ich haßte meine Eltern dafür und war voller Neid auf meine Freunde, die nach Mallorca fliegen durften, während wir im überfüllten Auto nach Frankreich, an die Côte d’Azur oder den Atlantik, fuhren. Über den Krieg hatten meine Eltern Reiseträume aus der Jugendzeit gerettet, deren Extravaganz begrenzt war. Ihre Enge trieb sie ins Weite. Sie hätten ja auch, Gipfel der Individualität, Rucksackferien ab der Haustür, eine Talsperrenwanderung »in unserer engeren Heimat« unternehmen können. Aber das kam nicht in Frage. Wir taten im Grunde das, was alle taten, nur nicht aus Herdentrieb.

Später, als meine psychologischen Kenntnisse und analytischen Fähigkeiten sich zu einer mörderischen Familienkritik verbanden, wurde der Wunsch übermächtig, ein einfaches, allein von trivialen Umständen bestimmtes Leben zu führen. Als meine Schwester mit siebzehn ihre Freundin und deren Eltern an den Gardasee begleitete, mit ihr in einem Hotel mit Terrasse, Blumenkübeln und Swimmingpool logierte und spießigen Beschäftigungen wie Einkaufen nachging, stundenlang herumschlenderte, Eis schleckte, Limonade und den einen oder anderen Campari trank, war dies für mich das formelle Zeichen für die Auflösung unserer Familie: sie hatte kein Geheimnis mehr.

3 Ortssinn – Mein Vater

Wenn es in die Ferien ging, richteten wir Kinder uns auf dem Rücksitz ein, als wäre es für immer. Mein Vater chauffierte. Ich fand ihn unvergleichlich hinter dem Steuerrad. Technisch trotz seiner beruflichen Fähigkeiten ein Versager – wenn er neben einen Handwerker zu stehen kam, den er bei Gelegenheiten rief, wo andere fraglos selbst Hand angelegt hätten, eine weibische, passive Figur –, war er am Steuer seines Wagens unschlagbar, mit ihm förmlich verschmolzen. Ich hätte auf der Kühlerhaube getanzt, so sehr vertraute ich ihm, und glaubte ihm nicht, wenn er sich gelegentlich für müde erklärte, sogar das Dreieckfensterchen schräg stellte, damit ihm der Wind ins Gesicht blies; er wollte, daß es zu etwas nutze war. Seine Frau war neben ihm so tief in den Sitz gerutscht, daß wir sie von hinten nicht sehen konnten. Gegen den grünen Abendhimmel hob Vaters Schädel mit den grotesk gespreizten Ohren sich groß und beruhigend ab. Mutter Kopf daneben fehlte. Vielleicht schlief sie. Dabei schlief sie nie im Auto, wir auch nicht.

Während wir noch lange nicht damit fertig waren, es uns auf dem Rücksitz bequem zu machen, hatte mein Vater bereits die nähere Umgebung durchfahren, uns darauf hinweisend, wo überall er Kinder zur Welt gebracht und am Küchentisch auf den Ankömmling angestoßen hatte. Mit lebhafter Gestik zeigte er nach rechts und links, wies auf das Dahinter von Böschungen und Baumgruppen, auf Villen und Reihenhäuschen und immer wieder ins Unendliche, da hinauf, dort hinüber, wohin er der großen Reise wegen jetzt nicht abbiegen konnte, obwohl er gern noch einmal nach einer Wöchnerin geschaut, den Angehörigen einer Krebspatientin die Hand gedrückt hätte. Auf Vertrauen kam es ihm vorrangig an. Meine Mutter fand den Einsatz bewundernswert, aber auch genierlich. An seiner Stelle hätte sie sich mehr für die betriebliche Seite interessiert. Er tut ja so, als wollte er in die Familie aufgenommen werden, sagte sie gelegentlich, nicht ohne Kritik. Ihr war das ganz und gar fremd. Eine Familie reichte.

Obwohl wir meinem Vater in der Regel zuhörten, achteten wir auf seine Ortsbestimmungen wenig. Nicht daß es verächtlich gewesen wäre, von Rebbelroth zu reden, wenn wir unterwegs nach Bordeaux waren, aber es war überflüssig und würde sich im Verlauf der Fahrt geben. Neue Eindrücke würden an die Stelle von Vaters beruflichen Erinnerungen treten; nicht umsonst fuhren wir in die Ferne. Außerdem war in den Jahren, in denen mein Vater seine Praxis aufbaute, mit der Geographie unserer näheren Umgebung etwas Seltsames passiert. Sie war mit seinen Hausbesuchen vollständig verschmolzen und stand für einen neutralen Gebrauch nicht mehr zur Verfügung. Ich mußte zu meinem Vater ins Auto steigen, damit mir alles klar wurde. Wir wohnten an der Bundesstraße, die an unserem Abschnitt bezeichnenderweise Kölner Straße hieß und wie an einer Perlenkette aufgereiht Ortschaften verband, deren Namen und Reihenfolge ich im Schlaf hersagen konnte und deren Existenzberechtigung darin bestand, auf der Strecke nach Köln zu liegen. Zu den Dörfern, die recht eigentlich die Umgebung bildeten und meist ein sehenswertes Kirchlein ihr eigen nannten, gelangte man, indem man von der Bundesstraße an der richtigen Stelle abbog; mein Vater nahm diese Abzweigungen sehr ernst und pflegte sie genauestens zu erklären, indem er sie aus allen vorhergehenden oder nachfolgenden heraushob, die es zu vermeiden galt und die ich daher aus meinem Gedächtnis ausradierte: sie führten ins Nichts. Wenn ich einmal die falsche Abbiegung nahm und auf eine dieser sorgfältig aussortierten Straßen geriet, begann ein Abenteuer ohnegleichen, ein Traum, und niemand macht sich eine Vorstellung von der Fremdheit selbst vertrauter Kurven und Kreuzungen, die ich nicht wiedererkannte, weil sie zu einem anderen Ort führten als gedacht, gar in ein anderes System, unsere Wochenendausflüge an den Rhein oder die regelmäßigen Kontrollen beim Kieferorthopäden, oder den klassischen Weg »hintenherum« kennzeichneten, wo immer er hinführen und aus welchem Grund er gewählt werden mochte, zur Vermeidung von Baustellen vermutlich. In meiner Verwirrung fand ich nicht einmal mehr die Stelle, wo ich drehen konnte, bremste abrupt an einem Feldweg, daß die hinter mir Fahrenden hupend an mir vorbeizogen, und setzte in einem riskanten Manöver zurück. Kleinlaut wie nach gescheitertem Fluchtversuch kehrte ich heim.

Du bist falsch abgebogen, sagte mein Vater, wenn ich von meinem Abenteuer berichtete, und versorgte mich sogleich mit einer Fülle von Details; ihm war die eine Strecke so vertraut wie die andere. Du brauchtest doch bloß, sagte er und machte in rascher Folge ein paar Vorschläge, wie ich meinen Irrtum hätte korrigieren können, ohne umzudrehen, es gab da eine elegante Verbindung quer über die Dörfer. Er bezeichnete mir auch das eine oder andere Haus, an dem ich hätte fragen können; ich war ja nicht allein auf der Welt, er hatte das Feld schon beackert. Nichts hätte ich tun müssen, als bloß meinen Namen sagen.

Vater war Adam, der erste und der letzte Mensch im Paradies. Aus der Gegend, die er sich keineswegs ersehnt, in die er per Zufall gelangt war, hatte er seine Heimat gemacht, sofern Heimat weniger aus Erinnern als vielmehr aus Wiedererkennen bestand. Fahren und Erkennen waren ein Fluß; auf jedem Meter, den er fuhr – er ging wenig –, begegnete er sich selbst. Woran es bei mir haperte, verstand er nicht genau. Aber richtig unglücklich war er nicht, wenn ich mich wieder einmal verfahren hatte; eigentlich seltsam, wo er sonst leicht ungeduldig wurde, wenn ich seinen Erwartungen nicht entsprach, auch ironisch. In diesem Fall lächelte er stets nachsichtig und so, als wäre er sich seines Anteils an meinem Irrtum bewußt. Meine Mutter, von deren Ortssinn nie jemand sprach, die ich deshalb auch in unbedingter Abhängigkeit von meinem Vater wähnte, den sie oft genug um Rat fragte, verfuhr sich zum Beispiel nie oder machte kein Aufhebens davon. Sie kannte sich übrigens wunderbar aus, hielt ihr Wissen für nichts Besonderes und behielt es daher für sich. Sie verstand auch nicht, wovon ich mich hatte ins Bockshorn jagen lassen, während mein Vater verständnisinnig nickte.

Ich sagte mir, Papa versteht mich. Er war aber weit davon entfernt, mich zu verstehen. Als Vater war er für die Struktur des Ganzen verantwortlich. Er mußte uns nicht nur Übersicht und Orientierung beibringen, sondern die Liebe zum abstrakten System der Zeichen in uns wecken. Er hatte auch tüchtig was erreicht, denn wir warfen mit Bezeichnungen wie »B 256«, »Zubringer«, »Ortsumfahrung«, »Anschlußstelle« nur so um uns, verstanden aber nicht eine technische, sondern eine wesentliche Bestimmung darunter, die sich mit keiner anderen Bestimmung vertrug. Hagen und Siegburg, zum Beispiel, waren Autobahnauffahrten, unser Anschluß an die Welt; nie hätte ich gedacht, daß man dort wohnen konnte. Köln oder Wuppertal waren zum Einkaufen da, speziell für Leute aus dem Hinterland wie wir, von denen wir uns denn doch wohltuend abhoben. Hier konnte meine Mutter in Ruhe etwas aussuchen und mußte sich nicht gedrängt fühlen, nur weil die Geschäftsführerin des Textilhauses, eine Privatpatientin, die Beratung der seltenen Kundschaft selbst übernommen hatte. Mutter ließ das Portemonnaie übrigens stecken und sagte ihren Zaubersatz, der wie sich bei einer Ansteckung über die nächste Umgebung verbreitete und noch im verkaufstüchtigsten Gegenüber ein Gefühl der Ohnmacht, eine unbezwingliche Mattigkeit erzeugte: »Ich kann mich nicht entschließen.« Aber das konnte sie natürlich nicht beliebig wiederholen, sonst verlor Vater noch eine Patientin aus dem gehobenen Segment, und wer weiß, wer ihr alles folgen mochte. Lieber fuhren wir das nächste Mal nach Köln und fühlten uns, als wären wir inkognito dort, grüßten sogar mit übermütigem Lächeln Bekannte aus der Kreisstadt, die wie wir zum Einkaufen gekommen waren; wir würden einander nicht verraten. Gewissenhaft wurde die Einkaufsliste abgearbeitet, so schnell kamen wir nicht wieder nach Köln. Später staunte ich über die Mehrfachexistenz der Ortschaften, wenn zum Beispiel Wuppertal, wohin wir uns auf kurvenreicher Bundesstraße ins Bergische hineinquälten, auf einem Autobahnschild auftauchte, noch dazu in einer Richtung mit Köln am Rhein, seinem verläßlichsten Antagonisten, wodurch die Welt ihre Ausdehnung und ich jegliche Orientierung verlor, oder wenn eine meiner Freundinnen – aus dem Restbestand meiner katholischen Volksschulzeit und bei aller Schusseligkeit ein seltsames Genie in Mathematik – Verwandte in Remscheid offenbarte, einem unbestimmten Ort bei Wuppertal, den man tunlichst vermied, wohin sie aber gewohnheitsmäßig fuhr. Ich führte ihre Bindung an Remscheid auf ihre Schusseligkeit zurück, sie hatte Wuppertal verpaßt, und ihre persönlichen Umstände, ein extremer Katholizismus, der sie von den andern Kindern isolierte, eine Frühreife, die sie zum Kinderhüten prädestinierte und vorzeitig mit einem festen Freund ausstattete, eine an keinen Zweck gebundene Mathebegabung, trieben sie Remscheid in die Arme.

In Wuppertal kannte ich den Zoo, die Bundesgartenschau und die Schwebebahn; wenn sie auch für uns zu gefährlich war, berühmt war sie doch. Später, als Köln die Oberhand bekam und die Warenhäuser um die Hohestraße, die Glockenstraße, Dyckerhoff, Kaufhof, Hertie und C&A, einen erfolgreichen Einkauf von Winter- oder Sommersachen, die neueröffneten China-Restaurants einen glücklichen Abschluß versprachen, rutschte Wuppertal ins Bergische zurück; ich vergaß den Weg dorthin. Als der NS-Prozeß unter der Ägide eines einheimischen Staatsanwalts mit unverkennbarem Dialekt ins Fernsehen kam, wußte ich nicht, worüber ich mehr staunen sollte, über die Allgegenwart der Verbrechen oder über die Kraft des Bürgertums, das sich seiner regionalen Verwurzelung nicht schämte und auch mit dem Ungeheuerlichen fertig werden, nach dem Buchstaben des Gesetzes mit ihm verfahren würde. Noch etliche Jahre später, als meine Mutter sich in Wuppertal operieren ließ, weil der Chefarzt des städtischen Krankenhauses aus einer berühmten Klinik hervorgegangen war, deren Schüler weit über Deutschland verstreut waren, so daß unter diesem Gesichtspunkt Wuppertal nicht nur neben Köln, sondern zum Beispiel auch neben Erlangen zu stehen kam, wurde die Strecke nach Wuppertal wieder aktiviert, aber die geographische Lage der Stadt dadurch nicht deutlicher. Lange Jahre empfand ich die politische Entscheidung, die Bundesgartenschau an wechselnden Orten stattfinden zu lassen, als eine Attacke auf meine Orientierung, gewissermaßen als ein staatliches Instrument der Verstörung. Wenn ich später zu meinen Eltern fuhr und auf der Autobahn den mittlerweile vertrauten Richtungsanzeiger sah, gab es mir regelmäßig einen Stich. Die große Alternative meiner Kinderzeit – »Nach Köln oder nach Wuppertal?« – fiel mir wieder ein. Ich nahm mir vor, dem Abzweig beim nächsten Mal zu folgen, nur um zu sehen, wo sie sich die beiden Städte wieder trennten. Aber ich hatte um die Zeit immer dieselbe weite Fahrt hinter mir, es dunkelte, meine Eltern erwarteten mich, ich wollte nach Hause.

4 Ortssinn, Fortsetzung

Auch wenn es in der Natur der Sache lag, daß die ältere Schwester bei der Geburt des Geschwisters sich in eine kleine Mutter verwandelte und kraft ungeahnter Fürsorglichkeit in das letztere den Keim der ewigen Jugend pflanzte, dabei selbst vorzeitig graue Haare bekam, verirrten sich an Weihnachten einige Geschenke auf ihren Gabentisch, die wie eine Investition in die Zukunft waren, die hinter ihr lag. Das eine oder andere Mal hielt ich es schlicht für einen Irrtum – Eltern waren manchmal so zerstreut –, ein andermal erklärte ich es mir mit der Notwendigkeit der Camouflage; Neutralität war schließlich das oberste elterliche Gebot. Daß es Kostbarkeiten sein mußten, war unter diesem Gesichtspunkt verständlich und trotzdem beunruhigend, so als gäbe es noch immer etwas zu klären. Eins davon war ein elektrisches Fragespiel, das Wissen und Magie verband: ein aufglühendes Birnchen bestätigte die korrekte Bezeichnung einer abgebildeten Sache, einer Merkwürdigkeit aus Kultur oder Natur. Wenn die Batterien zu Ende gingen, erzeugten sie bloß noch ein schwaches Glimmen, und die Bestätigung blieb ungewiß. Bei einer falschen Antwort fragte ich mich ernstlich, ob das elektrische System seinen Geist aufgegeben hatte, und ließ mich durch das Aufleuchten des Birnchens nur mühsam von der richtigen überzeugen. Ich mußte die Kontaktstellen eine nach der andern abklappern. Hatte die Intuition versagt, verschloß die Welt ihre Türen. Hätte der Kölner Dom sich als das gesuchte Tadsch Mahal herausgestellt, ich hätte mich nicht so darüber gewundert wie über die ausbleibende Bestätigung meiner ersten Antwort, die alles andere als durch Raten zustande gekommen war, sich lediglich auf innere Gegebenheiten berief. Die intuitive Antwort einmal ausgeschlossen, konnte jede andere richtig sein; aber ebensogut war sie falsch. Der Kontakt zur Wahrheit war abgerissen, diese gefühlsmäßige Übereinstimmung zwischen dem, was ist, und dem Apparat aus Erfahrung, Erinnerung, Urteil, in dessen Zuständigkeit sie fällt. Die Tatsachen kamen zwar ans Licht, auch der Unterschied zwischen Kölner Dom und Tadsch Mahal wurde wiederhergestellt, aber das Bekanntschaftsgefühl fehlte. Die Dinge organisierten sich, aber ich war, wie es bei riskanten Spielchen heißt, draußen. Zusätzlich war ich, wenn das Lämpchen an unerwarteter, häufig letzter Stelle schließlich aufleuchtete, zwar über den technischen Zustand des Spiels beruhigt, durch die mechanische Suche aber verstört.

Tiere, Städte, Monumente, die glänzenden Bögen konnte man wechselweise übereinander legen. Am meisten liebte ich Städte; sie waren mit ihren Sehenswürdigkeiten verschmolzen, das Teil stand fürs Ganze. Wenn das Colosseum aufblinkte, träumte ich vom alten mehr als vom neuen Rom. Paris schien mir lieblos behandelt. Ich hätte Notre-Dame oder die Seine mit ihren Brücken gewählt, aber doch nicht den Triumphbogen, diese grobschlächtige Nachahmung Roms. Der Stern, auf dem er stand, illustrierte den französischen Geist. Ich kannte mich in Mathe nicht aus und fand nichts Besonderes dabei, mit Zirkel und Lineal zu arbeiten. Der Glaube an die Macht exakter Instrumente war primitiv; Instrumente waren exakt, es ergab keinen Sinn, daraus eine Weltanschauung zu machen. Durch den Winkel, in dem das Gebilde aus der Luft aufgenommen worden war, war gewissermaßen ein proliferierender Zug in den Bogen gekommen, so als kauerte er in einer Senke und brütete die Strahlen aus, die, kaum geboren, in erheblichem Tempo von ihm wegstrebten. Ein optischer Trick war es offenbar, der das Unvorstellbare zuwege brachte, Genauigkeit in Kraft umzuwandeln, so daß in die Linien ein Zug kam. Wo die Avenuen in entschlossener Auswärtsbewegung hinführten, weg von ihrer Quelle, dem Ort, an dem sie ausgebrütet wurden, da mußte das Ziel sein. Im Überschwang der Gefühle versuchte ich frühzeitig, nicht nur Descartes, sondern auch Pascal zu lesen, und scheiterte bei beiden an ihrer vermeintlichen Unvoreingenommenheit, die mit meiner Bereitwilligkeit offensichtlich nicht identisch war. Nicht nur der mathematische Unverstand, den man mir nachsagte und der mich in die Philosophie trieb – daß ich die Dinge nicht exakt erfassen konnte –, war schuld daran, es kam noch etwas hinzu, das hatte mit der Welt, ihrer Anordnung oder Aufteilung zu tun, damit, wie sie sich zwischen mir und ihr aufteilte.

Noch heute bin ich unsicher, in welchem Land das Tadsch Mahal liegt. Asien blieb finster. So weit führte mich meine Lektüre nicht, und wenn, dann trugen die Regionen Namen, die ich auf den Schulkarten nicht wiederfand. Obwohl ich sie aus den Büchern hatte, bezeichneten sie meine private Welt, über die ich im Unterricht besser schwieg, auch wenn das meine Existenz in Frage stellte, denn etwas anderes anzubieten hatte ich nicht. Beiträge stellten sich als Geständnisse heraus, so als redete ich über mich, während andere über Ereignisse redeten.

Unter den märchenhaften Schauplätzen der Alten Welt bekam nur der Nahe Osten eine moderne Kontur. Das hatte mit der Suez-Krise zu tun. Abends im Bett betete ich, daß wir vom Dritten Weltkrieg verschont blieben, und tröstete mich mit dem Gedanken, daß zumindest Deutschland nicht schuld wäre; mein Vater hatte gesagt, das wäre das wichtigste.

Übrigens hatten meine Eltern das Elektrospiel vielleicht doch nicht ohne Grund meiner Schwester geschenkt. Mit flinken Fingern ordnete sie die Dinge nach ihren Namen. Sie waren wie Wachs in ihren Händen.

5 Ortssinn, Fortsetzung. Symbole und Abkürzungen

Wenn mein Vater auf die Autobahn hinauffuhr, hielten wir schon Papier und Bleistift bereit, um die Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos zu notieren. Noch lieber strichen wir sie auf der offiziellen Liste im Notizbuch aus. Langweilig war es in der Nähe der großen Städte, wenn alle Autos ein E oder K trugen, lustig, wenn die Nachbarstädte sich dazwischen drängten. Besonders das Ruhrgebiet trug einen Wettbewerb aus: Wer war der Größte? Elmshorn, schrie meine Schwester unvermittelt und zückte den Bleistift; der Ferienverkehr wälzte sich nach Süden.

Demütigend war es, daß man uns die provinzielle Herkunft am Nummernschild ansah. Schon hinter Karlsruhe mußten die Leute sich hinunterbeugen; die sinnlose Buchstabenfolge half ihnen nicht. Karlsruhe war Ka, das war zweistellig, aber perfekt; von einem nicht ganz leicht auszumachenden Standpunkt war es mehr als K. Dagegen Hg oder Gm? Ka informierte, Gm verwirrte. Ka konnte ergänzt, Gm mußte repariert werden. Das war nicht so einfach, es hätte hergestellt werden müssen, um wiederhergestellt werden zu können.

Mit andern Worten, Ka existierte. Gm war vom Weg abgekommen; nicht einmal seine Abkürzung störte es.

Kurz vor Karlsruhe fiel der deutsche Mief von der plötzlich lieblich gewordenen Landschaft ab. Meine Eltern erklärten uns, daß wir in Süddeutschland waren. Auf den ersten Blick sah man, hier paßte nicht alles unter einen Begriff. Lieblich hieß, nicht unter einen Begriff passen. Spaghetti waren erlaubt, obwohl sie unter den italienischen Begriff fielen. Unter den deutschen Begriff fielen sie nicht, aber sie waren erlaubt.

Wer zur Karlsruher Therapiewoche von der Autobahn abfuhr und sich ins Kongreßzentrum begab, konnte die kostenlose Arzneimittelausstellung besuchen und in der Cafeteria Spaghetti Bolognese essen. Mühelos fügte er der Abkürzung die fehlenden Buchstaben, dem Namen die Wirklichkeit hinzu. Karlsruhe, trug ich als Erinnerung davon, war weltoffen!

Bei allem Triumph über die Alleinstellung haftete K etwas Vergebliches an. K war Köln, nichts anderes kam in Frage. Mehr war aber auch nicht zu erwarten. Die Kraft zum Symbol hatte Köln schon mit dem Dom unter Beweis gestellt. Für mich ließ sich diese Kraft mit keiner anderen vergleichen. Wie man an E sehen konnte, hielten manche Städte ihrer Repräsentation durch die einstellige Abkürzung gar nicht stand; sie waren eindeutig zu hoch gestuft. Wie sollte Essen den Vergleich mit Köln und Berlin aushalten; mit stacheligen Armen, wie ein aus der Dose gezogener Stecker, ragte es in eine Welt, aus der es ausgeschlossen blieb, eine Beute für Einfälle. Wer hatte Essen überhaupt den einen Buchstaben verpaßt, so daß man es nicht mehr in einem Atemzug mit Gelsenkirchen, Oberhausen, Recklinghausen und Dortmund nennen durfte. Es war aus der Solidargemeinschaft des Ruhrpotts herausgefallen, oder aber der Ruhrpott hatte mit dem Zeichensystem nichts zu tun. Er brauchte keine Zeichen; Essen war überflüssig.

Man mußte selbst aus der räumlichen Verankerung herausgefallen sein, um die Gewalt zu spüren, die hinter den Abkürzungen steckte. Ich ging davon aus, daß man an Essen nicht denken konnte, ohne daß es einen schmerzte. Das E kam vom Schrottplatz der Buchstaben, die Villa Hügel vom Schrottplatz der Geschichte. Auch wenn der Vergleich hinkte: alle Welt fühlte mit E.

Wenn sich die Buchstaben auf ein Verwaltungssystem statt auf eine Stadt bezogen, erschien uns die Auflösung so willkürlich wie die Abkürzung, sie trug zu unserer Orientierung nicht bei. Hochtaunus-, Ostalbkreis, wo oder vielmehr was mochte das sein? Unser Vater dagegen geriet ins Schwärmen und warf mit den Himmelsrichtungen nur so um sich. Willkürliche Verbindungen wie SHA oder SHG, die sich ohne Rücksicht auf die Unantastbarkeit von Namen aus dem Fundus ihrer Buchstaben wie aus einem Steinbruch bedienten, machten die Identifizierung dagegen zu einer Knobelaufgabe. Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd: Anstrengung und Erstaunen saugten die Erkenntnis sogleich wieder auf, und in den nächsten Ferien konnten wir uns nicht mehr erinnern, äußerten dagegen immer neu unsern Abscheu. Unvorstellbar, daß sich hinter den Blockbuchstaben nicht das Sicherheitshauptquartier, sondern ein liebliches Fachwerkstädtchen verbarg. Nichts würde uns dazu bringen, den Fuß über seine Schwelle zu setzen. Dem guten Geschmack zum Hohn ließ sich eine Mietautofirma in einem der beiden Städte nieder und schüttete, nun weiß ich nicht mehr, SHG oder SHA über die Autobahn aus. Das Aufkommen entsprach dem einer mittleren Großstadt, aber unser Glaube an die Repräsentation Deutschlands in seinen Autokennzeichen geriet ins Wanken und ebenso unsere detektivische Freude; unbekannt und unsinnig lagen zu nah beieinander.

Mit Hilfe eines Werbegeschenks, dessen simpler Mechanismus sich meinem Verständnis entzog, konnten wir auf Anhieb die Entfernungen zwischen den größeren Städten der Bundesrepublik, auch Europas angeben. Innerhalb Deutschlands mußte man sich schon an die Nord-Süd-Achse halten, wenn man auf tausend Kilometer kommen wollte, nach Osten zu ergab sich ein Widerspruch zwischen Nähe und Erreichbarkeit. Nach Königsberg, wie ein merkwürdiges Richtungsschild angab, das ich weiß nicht mehr in welcher Gegend aufgepflanzt war, war es näher als ans Mittelmeer, aber man konnte nicht hin; die Kilometerangabe, die im Bereich der Dreistelligkeit gleich doppelt mit der metaphysischen 7 operierte, mußte folglich etwas anderes bedeuten als bloß die Entfernung. Dank Kant war Königsberg eine poetische Umschreibung des Verstands, so wie Köln – K brachte es an den Tag – weniger ein Machtzentrum des Katholizismus war, wie mein Vater gelegentlich durchblicken ließ, als eine Stadt am Rhein, eine zierliche Silhouette wie auf den Plaketten von 4711, die sich gegen den Himmel abbildete und im Wasser spiegelte. Abstrakta hatten ihre eigene Wirklichkeit. Der Eiserne Vorhang hatte hier Schätzenswertes geleistet. Wenn er einmal fiel, würde nicht die Politik, die wandelbare, sondern die Raumaufteilung mußte erneuert werden. Wie die Chinesen sagen: Wer über sich Himmel haben will, muß ihn aufspannen. Halten war die Kunst.

Frankreich war erreichbar, wenn auch weit. Zwischenübernachtungen waren erforderlich an Orten, die wir mit Nostalgie umkleideten und an denen wir gern geblieben wären, for good, bekamen sie doch keine Gelegenheit, sich von einer schlechten Seite zu zeigen. Im Dunkeln waren wir angekommen, im Licht der Morgensonne hatten sie sich uns in ihrer miniaturhaft reizenden Vollkommenheit präsentiert. Wenn die ersten Wolken aufzogen, waren wir schon wieder unterwegs. Bei Spanien kam zur äußeren zusätzlich die innere Entfernung ins Spiel. Die blasse portugiesische Grenze gliederte die entmutigende Landmasse nicht einmal auf der Landkarte. Auch die Spiritualität nahm ich dem Land nicht ab. Frankreich konnte man sich dagegen fahrend aneignen, indem man die Meere anpeilte und die Flüsse begleitete. Warum sollte man die Gliederungsvorschläge ablehnen, die die Natur selbst machte; geistig war doch nicht hirnrissig, oder?

Nach den Sommerferien waren wir regelmäßig gut drauf und schmissen mit Wissensbrocken nur so um uns. Reims hatte eine bedeutende Kathedrale, hier waren Könige gekrönt worden. In Reims war mir die Analogie von weltlicher und kirchlicher Macht aufgegangen. Die gedrungenen Türme ahmten den König, der Kronleuchter seine Krone nach. Schön war das nicht, aber von so kraftvoller Ausstrahlung, daß es schon wieder schön war. Paris lag nicht auf unserer Route; wir taten es als ordinär ab. Auch Chartres hatte einen Touch von Mallorca, sein Blau, nun ja, kam in jedem Tuschkasten vor. Reims war ein Geheimtip. Bereits sein Name war unaussprechlich, die deutsche Aussprache chauvinistisch. Es ließ sich daher schwer davon erzählen; grundlos war das sicher nicht.

Die Gotik, lernte ich später, als wir in den Süden fuhren, war für den Schein, die Romanik für die Substanz. Prompt wechselte ich zur Romanik.

6 Ortssinn, Schluß. Erste Lieben

Unterwegs freuten wir Kinder uns über den lebhaften Verkehr. Sobald mein Vater einen Wagen überholte, feuerten wir ihn an, winkten den Leuten zu und jubelten, wenn sie zurückwinkten. Unser schwer beladener VW konnte am Berg nicht mithalten, und der andere zog an uns vorbei. Wenn der Verkehr zum Erliegen kam, goß meine Mutter Kaffee ein und wandte sich seufzend dem Fortsetzungsroman in der Bildzeitung zu, Les merveilleux nuages von Françoise Sagan. Wir musterten die Insassen der anderen Autos und verliebten uns auf Teufel komm raus, selten in ein Kind, meist in einen Erwachsenen, in ein Profil, eine zarte oder kräftige Nackenlinie, von der ihr Besitzer nichts ahnte und die sich nicht selten als zu einem grobschlächtigen Kerl gehörig entpuppte. Von den meisten bekam ich nicht mehr zu Gesicht, als worein ich mich eben verguckt hatte. Auf die Überprüfung meiner Wahl legte ich keinen Wert, fühlte ich mich doch zu unbedingter Loyalität gegenüber dem Gegenstand meiner Zuneigung verpflichtet. Ich liebte ihn um der Empfindung willen, zu der er mir verholfen hatte, nicht wegen irgendwelcher Vorzüge. Qualität war ein Akzidens, Liebe Substanz. Außerdem hatte ich einen Hang zur Häßlichkeit. Meiner Ansicht nach deutete sie auf Seelentiefe; zu irgend etwas mußte sie ja gut sein. Sie versprach etwas Unbekanntes, und sie verlangte, daß ich mich entwickelte.

»Nicht weiterfahren!« schrien wir, wenn unsere Seite sich plötzlich in Gang setzte, »fahr doch, los!«, sobald die andere in Bewegung kam. Wir wüteten, wenn ein Spurwechsler sich zwischen uns und den Angehimmelten schob, und verfielen in Trauer, wenn er auf Nimmerwiedersehen davongezogen war. Eine Zeitlang war es still. Mein Vater pfiff. Meine Schwester und ich träumten. Wir sprachen nie über unsere Erlebnisse, und wenn, dann glaubte ich meiner Schwester das in tönenden Worten behauptete Innenleben nicht; da ich nichts für sie empfand, konnte sie auch keine Empfindungen haben. Später, als ich die Existenz von Gefühlen auch bei ihr nicht länger leugnen konnte, überschätzte ich prompt ihre Leidenschaft und erwartete noch ganz anderes, als daß sie abends wegblieb, die Eltern belog oder die Schuldirektorin anschrie, daß sie tagelang weinte, weil sie nicht auf eine Freizeit fahren durfte, bei der sie ihr Idol wiedergesehen hätte. Warum riß sie nicht aus? Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie sich aus ihrem mit Zorn untermischten Kummer umgebracht hätte; da sie in den kleineren Dingen effektiver war als ich, warum nicht in den großen. Meiner Ansicht nach war meine Schwester ihrer rigorosen Natur entsprechend über den Unterschied zwischen Praxis und Phantasie erhaben. Wenn sie jemanden erwählte, dann für immer. Ich machte mir ernstlich Sorgen, oder sagen wir, ich war gespannt auf den Ausgang. Da sie unerbittlich schwieg, nur gelegentlich, auch über Wochen und Monate, kundtat, daß sich »nichts geändert« hatte, glaubte ich bei ihr das seltene Beispiel einer Vereinigung von Vernunft und Leidenschaft vor mir zu haben, im Dienste der Leidenschaft natürlich, und erstarrte vor Schrecken, Furcht und Ehrfurcht.

Gelegentlich war ein und derselbe Junge der Grund, warum wir uns morgens vor der Schule die Haare wuschen, den Anorak auf- und das Unterhemd wegließen; nicht aus Unschamhaftigkeit, sondern damit wir uns besser spürten und weil es natürlich Mode war. Bei klirrender Kälte rannten wir mit feuchten Haaren aus dem Haus und erreichten in letzter Sekunde, die Frostbeulen in den hochhackigen Schuhen einziehend, den Bus, in dem sich die Fahrschüler knubbelten. Aufatmend stiegen wir ein, wissend, daß wir in dem Moment hübsch aussahen. Dabei waren wir beileibe nicht immer hübsch, meine Schwester eher knochig, ich dicklich, aus unterschiedlichem Grund kein Spiegel unserer tieferen Empfindungen. Aber vom raschen Lauf erhitzt, mit geröteten Wangen und blitzenden Augen, die feuchten Haare schimmernd, boten wir sicher einen bezaubernden Anblick. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß irgend jemand, wenn es um Liebe ging, sich gegen mich entscheiden würde, kam zum Äußeren doch das Innere hinzu, eine Welt für sich, die zu entdecken lohnte, während meine Schwester bloß eine zielstrebige Frau war und alles andere als ein Universum, eine terra incognita. Ich hatte mich später als sie in den betreffenden Jungen verliebt, gewissermaßen auf ihr Anraten. In einem besonders leidenschaftlichen Moment hatte sie ihn mir gezeigt und damit aus der Menge langweiliger Fahrschüler herausgehoben, denen er glich wie ein Ei dem andern. Sie kannte seinen Namen nicht und hatte ihn »Er« getauft. Einem solchen souveränen Akt konnte ich mich nicht entziehen, selbst wenn er sich gegen mich richtete. »Guck nicht hin!« hatte sie gezischt, und davon war mir eine Unsicherheit zurückgeblieben, um wen es sich handelte, zumal ich kurzsichtig war und meine Brille aus Eitelkeit in der Tasche ließ. So sah ich nur, daß er in der Tat unbegreiflich schön war, von jener jungenhaften Schönheit, die wenig Anhaltspunkte bot, aber den Weg wies. Wenn ich allein fuhr, kannte ich ihn aus der Menge der Schüler nicht heraus, spürte ihn aber in meiner Nähe und sah absichtlich nicht in die Richtung, in der ich aus dem Augenwinkel die Neigung eines Kopfes, einen auf der Rücklehne ruhenden Arm, eine sorglose Handbewegung bemerkt hatte. Manchmal, wenn wir zu verschiedener Zeit nach Hause kamen, erzählte meine Schwester, »Er« habe in ihrem Bus gesessen. Sie sah glücklich aus. Bis zu dem Moment, wo sie mich aufklärte, war ich der gleichen Überzeugung wie sie und ebenfalls glücklich gewesen. Stumm beerdigte ich die Erfahrung der letzten halben Stunde. Das Gefühl seiner unverbrüchlichen Nähe hatte mich getäuscht. Meine Schwester hatte Adleraugen und täuschte sich nie. Aber ich bezweifelte, daß sie lieben konnte.

Auf dem riesigen Zeltplatz am Atlantik verguckte ich mich in einen Indonesier, der mit seinen Freunden regelmäßig an der Tischtennisplatte anzutreffen war. Ich wußte bereits, daß Frankreich sich verwandtschaftlicher Beziehungen zu fernen Ländern rühmen konnte und zu ihnen engere Kontakte unterhielt als zu seinen europäischen Nachbarn, während der Erste Weltkrieg Deutschland, nach der mit gewollter Härte vorgetragenen Aussage meines Vaters, von seinen Kolonien befreit hatte. Da unterdrückte Völker ihre Herren haßten, wir aber niemanden unterdrückten, kam uns wenigstens von dort kein Groll entgegen. In gewisser Weise stand das im Gegensatz zur Anwesenheit der Indonesier auf unserem Campingplatz.

Ich nannte ihn den Malaien und träumte, daß er mich mitnehmen, mich wie im letzten Band eines Mädchenromans beschützen und für mich sorgen würde. Ich stellte mir das wie die Szene am Tischtennisplatz vor, als Schritt nach vorn, vom Dunkel ins Scheinwerferlicht, auch wie Tod, wie eine Trennung von allem Vertrauten, von allen Lieben, ein Abschied für immer; denn soviel war klar, von da, wo ich hinging, käme ich nicht einmal zurück, um mich zu präsentieren: Seht! Oder zu meiner Schwester: Siehste. Sowenig das jetzige Leben Anhaltspunkte lieferte für das künftige, sowenig würde das künftige Anhaltspunkte für das jetzige liefern. Das eine war Heimat, das andere Fremde. Es gab nichts zu beweisen.

Auch im neuen Leben würde es Barrieren geben, Schiffswände, Küsten, einen Nachthimmel, der mich unter sich begrub, ich war ja nicht an idealer, sondern realer Unendlichkeit interessiert. Aber wo schweifte der Blick freier als am Ufer, und wie gelangte man entschiedener ins Weite als wenn man ins Meer hinausglitt, in einer Nußschale von einem Boot! Ich war mir auch bewußt, daß das meinen Eltern Kummer machen würde, wie wenn ich starb. Meiner Schwester aber würde das Unnötige, Sinnlose, das alles andere als Schicksalhafte der familiären Verantwortung aufgehen, an der sie so schwer trug, und warum trug sie sie dann? Soviel Schuld rückwärts, soviel Freiheit vorwärts. Das Verbrechen mußte Früchte tragen, der Kummer durfte nicht umsonst zugefügt sein. Der Beweis, daß ich für ein anderes Leben bestimmt war, mußte angetreten werden, würde er meine Schwester auch mit Bitterkeit erfüllen. Zufällige Bindungen durch schicksalhafte ersetzen hieß frei sein. Die Eltern verlassen war Freiheit, an der Freiheit scheitern wäre Sünde gewesen.

7 Erste Lieben, Fortsetzung

Um zu dokumentieren, daß ich bereit war, den Sprung ins Außerirdische zu wagen, fing ich an, mich auffallend zu kleiden, und bezog neben der Tischtennisplatte Posten. Manchmal waren nur seine Freunde da; ich nannte sie so, weil sie so aussahen wie er, wenn sie meiner Ansicht nach auch weniger flink waren. Solange sie sich beim Tischtennis vergnügten, konnte ich noch auf ihn hoffen. Er würde sie nicht im Stich lassen. Wie hätte er ohne sie existieren sollen; sie waren ein Teil von ihm. Was er nicht wußte: er war ein Teil von mir. Manchmal kam es mir vor, als blickte er in meine Richtung. Ich spürte Irritation. Fand er mich scheußlich mit den entblößten Schultern, die mich unwiderstehlich dünkten? Merkte er, daß ich in ihn verliebt war und fühlte sich bedrängt? Der Gedanke war in süßer Weise demütigend, so wie die Erinnerung an einen Mitschüler, der neu in unsere Grundschule gekommen war und in den ich mich verliebt hatte. Er hieß Peter. Das war ein einfacher, wohlklingender Name für jemanden, der ein Mensch sein wollte, nicht mehr und nicht weniger. Ich dagegen wollte sowohl mehr als auch weniger als ein Mensch sein. Beim Hinuntergehen in die Pause hatte ich ihm, der die Treppe hinaufstieg, eine Ohrfeige verpaßt; er sollte mich wahrnehmen. Mit dem mageren, braungebrannten Jungenarm, in den ich mich verliebt hatte, holte er aus und schlug zurück, aber es kam dennoch zu keiner Bekanntschaft.

Mehrfach spielte ich mit dem Gedanken, den Malaien zu ohrfeigen. Aber ich war zu schüchtern. Außerdem führte uns kein Treppenhaus zusammen. Dafür wog ein irritierter Blick beim Seitenwechsel zehn Ohrfeigen auf. Die Entfernungen waren größer geworden, der Verstand hatte zugenommen, die Erwartung war reifer geworden. Noch immer konnte mich ein magerer Arm bezaubern. Aber jetzt ging es ums Ganze.

Ich sah seinen Kumpels zu und mußte zugeben, daß sie etliches von dem hatten, was ich bei ihm fand. Nicht nur sie waren ein Teil von ihm, sondern auch er war ein Teil von ihnen; womöglich war er zum Verlieben gar nicht konturiert genug, oder aber ich zu einer individuellen, einer wirklichen Liebe nicht imstande. Ich wäre gern wie er gewesen, ein brüderlicher Teil von andern; dank einer natürlichen Zuneigung, nicht aus Nächsten-, eher aus Menschenliebe. Ein solcher Teil wäre ich gern gewesen, nicht ein hochproblematisches Ganzes mit peinlichen Anhangsgebilden, einem ausufernd schlechten Geschmack und einer geradezu körperlichen Gier, genommen zu werden, ohne das Geringste geben zu können, dazu einem häßlichen Namen. Mehr als schlecht gekittete Bruchstücke beiderlei oder vielmehr keinerlei Geschlechts hatten meine Eltern bei meiner Zeugung nicht zustande gebracht. Wie sie in einer unbeschwerten Stunde zugaben, hatten sie beim Liebesakt an Verschiedenes, er an ein Mädchen, sie an einen Jungen und überhaupt der eine an ein Kind, der andere an Probleme, der eine an den Frieden, der andere an den Krieg gedacht, wie es bei Eheleuten vorkommt.

Mein Vater predigte über die Liebe, daß sie auf Achtung, Respekt und Würde gebaut sei. Ich verband mit ihr eine eingeborene Gleichgültigkeit gegenüber Werten, sonst hätte sie ja keine unabhängige Existenz gehabt. Liebe, das war etwas anderes als das bürgerliche Wohlverhalten, mit dem man sich die Menschen vom Leib hielt; prompt verlor man das Gefühl für sich selbst. Was die Wirklichkeit anging, nicht das Beziehungsgeflecht, sondern die einsame, eigene Wirklichkeit, da leistete Liebe unendlich mehr als Respekt. Wahrscheinlich hatte es mein Vater, der Gesellschaftslöwe, aber in der Familie Verlorene, nie bis zur Gewißheit seiner eigenen Wirklichkeit gebracht und meine Mutter, in kleinstädtischem Geist gedrillt, war auf der Stufenleiter der Liebe nicht über die unteren Stufen hinausgelangt. Mein Vater liebte zwar seine Frau über alles, wurde aber regelmäßig von ihr abgewiesen und hielt aus diesem eigentlich demütigenden Grund Respekt für Liebe.

Wenn ich vor dem Schlafengehen noch einmal zu den Toiletten lief, machte ich einen Umweg über die Spielanlagen, Bocciabahn, Minigolfplatz, das umzäunte Fußballfeld. Im Licht der Scheinwerfer glänzten die Tischtennistische, und die Spieler tanzten wie Nachtfalter, spielten wie im Rausch Doppel und »Ringelpiez«, gelegentlich auch ein endloses Einzel, das niemand als rücksichtslos zu bezeichnen und zu stören sich getraut hätte. Manchmal war mein Malaie dabei. Dann harrte ich aus, bis die Lampen verloschen und das Match abgebrochen wurde. Wäre er in dem Moment auf mich zugekommen und hätte mich gefragt, ob ich mit ihm gehen würde, ich wäre mit ihm gegangen, nach Indonesien oder nach Disneyland, und ohne meinen Eltern Bescheid zu sagen. Nicht weit vom Zeltplatz schimmerten schon die farbigen Lämpchen einer Diskothek, hämmernde Musik dröhnte herauf, und ich wußte, dorthin zog es ihn mit seinen Kumpels, sich zu amüsieren, wobei nichts passierte, was das Geschehen am Tischtennisplatz ernsthaft beeinträchtigen konnte; lediglich dies, daß am nächsten Morgen der eine oder andere unüblich spät auftauchte, und das war schlimm genug.

Während ich im Dunkeln heimtappte, machte ich mich auf allerlei Vorwürfe gefaßt. Aber egoistisch, wie sie waren, hatten meine Eltern das Alleinsein genossen und mich kaum vermißt. Der Gedanke kam ihnen nicht in den Sinn, daß die Ferien am Atlantik mir womöglich Erfahrungen zudachten, wie sie in keinem ADAC-Katalog standen, daß ich im Begriff war, den Schritt meines Lebens zu wagen. Die untergründige Angst, die sie sonst beherrschte, trübte ihre Ferienlaune nicht im mindesten. Sie wußten, daß ich »bei den Pingpong-Tischen« war. Den Gedanken an Ernsthaftigkeit ließen sie gar nicht erst aufkommen. Ernst wäre es geworden, wenn ich mich ohne Aufsicht herumgetrieben hätte oder in die Disko gegangen wäre. Zwar war ich bereit dazu, aber die Malaien nahmen mich ja nicht mit! Das mit dem Exhibitionismus war auf der Kippe. Aber der Gott des Ferienfriedens hatte die Bezeichnung Strandkleidung erfunden, worunter sich alles einordnen ließ, was den natürlichen Rahmen sprengte. Ich verübelte meiner Mutter die leichtfertige Gutgläubigkeit, mit der sie Kleider als Kleider behandelte, Pingpong als Pingpong nahm, während mein Vater in seinem maßlosen Vertrauen alle Verantwortung auf mich abwälzte, freilich nicht ohne mir gelegentlich Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Wahrhaftig, keine Lebensphase ist schwieriger als die des Kindes, wenn es noch gegängelt wird, während es bereits die einsamsten Entscheidungen fällen muß.

Auf meinem Platz unter der Lampe, deren Schein geradewegs auf meinen hellen Kopf fiel, so daß er ebenfalls als Lampe hätte durchgehen können, fürchtete ich weder die Vorwürfe noch die Nachsicht meiner Eltern und nicht einmal die philosophische Mixtur von beidem, mit der sie mich gelegentlich traktierten, hoffend, auf diese Weise das Samenkorn der Ehrbarkeit, des Standesstolzes in mein unreifes Herz zu senken, dergestalt, daß es aufging, wenn ich erwachsen war, so daß ich freiwillig so lebte wie sie: im Kleinen alles realisiert, im Großen alles verspielt. Ich sah den Spielern zu, in deren konzentrierter Ekstase ich die Gewißheit meiner Entführung und Erlösung, zugleich die Form meiner künftigen Existenz gewahrte: ein für allemal befreit, würde ich jede Sekunde meines Lebens bewußt erleben. In die Stille fielen die Pingpong-Schläge wie Tropfen, und im primitiven Generator, der die Lichtanlage des Zeltplatzes speiste, dröhnte der Weltraum. Ich spürte, daß auch ich ein Raum war, ein Resonanzkörper, ein Antwortgeber. Sowenig wie der chemische Körper bloß aus festen Bestandteilen zusammengesetzt war, sowenig bestand ich aus den festen Teilen meiner Eltern, meiner Schwester. Ich spürte die große Leere in mir, die mit anderer Leere kommunizieren wollte, und da mein Vater, mit welcher Zielrichtung auch immer, als einzige Maxime den Grundsatz in mein Herz gesenkt hatte, daß man für seine Vermögen verantwortlich war, und mir damit einen förmlichen Auftrag erteilt hatte, zweifelte ich nicht eine Sekunde an der Marschrichtung: wenn die Malaien mich mitnahmen, würde ich gehen.

8 Liebe, Schluß

An dem einen oder andern Abend wurde mein Vater nach mir ausgeschickt. Er liebte die vertrauten Wege auf dem Gelände, das ihn an das Kriegsgefangenenlager erinnerte, in dem seine Desertion und Flucht geendet hatte, das Kreischen der Zikaden, den hellen Mond. Ohne ein Wort zu sagen, trat er zu mir, stellte sich neben mich und sah dem Spiel zu. Er spielte selbst nicht schlecht, freilich zu ehrgeizig und sparte nicht mit Anerkennung und Selbstkritik. Jetzt schwieg er. Mein Malaie tanzte an der Tischtennisplatte; er war so schön, daß es auch mein Vater sehen mußte. Unmöglich zu sagen, wann ein Ballwechsel geendet, ein neuer angefangen hatte. Für einen Augenblick gab ich die Verantwortung an ihn ab. Da er bei den Gelegenheiten, wo meine Mutter sich ereiferte, schwieg, allenfalls, wenn er mit mir allein war, eine Bemerkung machte, die das Alltägliche beiseite wischte und die unverbrüchliche Solidarität des geistigen Ziehvaters bezeugte, mit mir nicht als Kind, sondern als Intelligenz und Potenz, fühlte ich mich mit meinen Problemen bei ihm aufgehoben und phantasierte mich bereits in ein Drama hinein, in dem der Vater seine Tochter nicht dem Nächstbesten, sondern zum Schrecken seiner einfältigen Gemahlin und zur Empörung aller Böswilligen in seiner Weisheit und Güte dem Richtigen übergab.

Jetzt gleich, nach dem Spiel, würde er mich übergeben. Wehmut befiel mich, zugleich Mitgefühl mit meinem Vater, der die Bürde der Entzweiung tragen mußte; denn diesen Schritt würde ihm seine Frau nicht vergeben, bewies er damit doch, daß er mehr auf meiner Seite war als auf ihrer; offenbar war ihm, Protestant und Großstädter, nicht klar, auf welche Seite die Töchter gehörten und wer über sie zu bestimmen hatte. Da er ohnehin häufig schwieg, sei's aus finsterer Schwermut, sei’s aus philosophischem Gleichmut, traute ich ihm zu, wovon er bislang nur sehr selten eine Probe abgelegt hatte: wenn es darauf ankam, vorbehaltlos für mich einzutreten.

Obwohl ich überzeugt war, daß mein Vater mich im Grunde verstand, und dies gelegentlich dadurch zum Ausdruck brachte, daß ich ihm allerhand an unzensierter Wahrheit zumutete, bevor ich regelmäßig in Tränen ausbrach, so muß ich ihn an jenen Abenden doch nicht ganz mit seinen Augen gesehen haben und ihm wenig gerecht geworden sein. Er hatte das Jahr über hart gearbeitet, für die Ferien hatte er stapelweise Zeitschriften, Bücher und Pläne gehortet. Die blieben zwar zum größten Teil unangetastet unter dem Autositz liegen, dafür ließ er Betrachtungen und Empfindungen Raum und schwelgte in Erinnerungen. Kurz, und auch wenn es mir nicht paßte: Wenn er dem Tischtennisspiel zusah, dann war er zwar glücklich und zufrieden, daß ich bei ihm war, so wie man es eben genießt, wenn man die Lieben um sich hat; aber er dachte nicht an mich, und schon gar nicht in bezug auf die Malaien.

Vom Gewicht meiner Probleme machte er sich eine ehrfürchtigere Vorstellung als meine sonstige Umgebung, die die verkrampfte Körperhaltung, den mißmutigen Gesichtsausdruck, die Tränenausbrüche als, je nachdem, Zeichen der Unreife, schlechter Erziehung oder hemmungsloser Egozentrik interpretierte, und ich hätte nie guten Gewissens behaupten können, daß er mich nicht ernst nahm, wurde von meinen Freunden und Freundinnen auch deswegen beneidet; einen solchen Vater hätten sie alle gern gehabt. Probleme hielt er mit Vorliebe für psychische, aber auch für philosophische; die einen quälten die Seele, die andern den unruhigen Geist, und man mußte sich mit ihnen auseinandersetzen. Aber nicht ein einziges hatte für ihn eine praktische Dimension, verkörperte eine Perspektive, forderte einen Entschluß, stand gar zur Entscheidung an: Soll ich mit ihm gehen, oder soll ich nicht? Untrügliches Zeichen für Sensibilität und Intelligenz, wohlgemerkt nicht für eine mächtige Realität, wollten sie als Auszeichnung betrachtet und mit Würde getragen werden. Er wäre aus allen Wolken gefallen, gestand er mir später, wenn ich ihm damals mitgeteilt hätte, daß ich in jenem Malaien, den er beim besten Willen nicht von den andern unterscheiden konnte, meine Zukunft beschlossen sah; während ich gemeint hatte, er wüßte schon alles und hieße es auch noch gut. Noch nachträglich befremdete es ihn, daß ich in meiner Phantasie mein Schicksal mit dem eines vollkommen Fremden verbunden, Erwartungen gehegt und konkrete Pläne geschmiedet hatte, während er Eindrücke in sich aufnahm, eine Empfindlichkeit, die im Alltag keinen Platz hatte, für das Zusammenspiel von Atmosphären und Erlebnissen pflegte, wozu dann meinet- oder vielmehr seinetwegen auch die Malaien gehörten. Dabei hatte in der erhebenden Stimmung auch er den einen oder andern Vorsatz gefaßt, dabei aber wie bei Erwachsenen üblich an den aus der Feriendistanz trügerisch überschaubaren Alltag und nicht an eine märchenhaft unbekannte Zukunft gedacht.

Später, als ich zwar mehr Erfahrung, aber noch immer keinerlei Kontrolle über meine Gefühle hatte, erzählte ich meinem Vater einmal von einem Kummer. Das kam nur noch selten vor, da sich zwischen ihm und mir eine Barriere aufgetürmt hatte. Ich, den Entscheidungen immer näher als den Worten, er, den Gedanken näher als den Taten, waren wir restlos verstummt. Er hatte mich von einem Fest abgeholt, auf dem ich, wie regelmäßig zu der Zeit, getrunken hatte; aus mir unerfindlichen Gründen schaffte ich es nicht, mit dem Alkohol umzugehen, und es war bereits zu dem einen oder andern Einbruch gekommen. Als wir zu Hause angekommen waren, blieb mein Vater wie stets, wenn er in eine Unterhaltung vertieft war, im Auto sitzen; immer schon war es für ihn Mönchszelle und Katheder in einem gewesen. Diesmal freilich redete ich, und er hörte aus Respekt zu. Ich beneidete ihn nicht um seine Vaterrolle, als ich von meiner besinnungslosen Liebe zu einem Handwerker aus meinem Sportverein berichtete, der, frisch verheiratet, soeben Vater geworden war, von Zwillingen. Da ich angenommen hatte, daß mein Vater sich auf den Ehestandpunkt, den Treue- und Verbrechensstandpunkt stellen und die rechtsetzende Kraft einer grenzenlosen Leidenschaft und unbedingten Zuwendung nicht anerkennen würde, staunte ich nicht wenig, daß sein Kommentar sich auf die lahme Warnung beschränkte: Eine heikle Sache wäre es, sich in eine intakte Ehe zu drängen. Zum ersten Mal, so kam es mir in meinem Rausch vor, faßte er meine Schilderung so auf, wie ich sie gemeint hatte. Offenbar traute er mir zu – woran ich selbst zweifelte –, eine erwachsene Beziehung einzugehen, ein Scheidungsgrund zu sein, wie ich geschmeichelt feststellte, eine richtige Frau!

Das paßte alles nicht zusammen. Vielleicht ahnte mein Vater, wieviel ich getrunken hatte, und verbuchte den Löwenanteil meines Problems auf dem Konto der Phantasie. Jedenfalls hörte er mich an und verfluchte mich nicht, wie meine Mutter es getan hätte, wegen dem Handwerker noch mehr als wegen den Zwillingen. Als wären meine Probleme sei’s für ihn, sei’s für sein Auto zu groß, öffnete er zwischendurch bloß immer wieder die Tür, frische Luft hereinlassend, und schloß sie halb, um sie gleich darauf wieder zu öffnen, während ich redete und redete.

Dabei spürte ich bereits, wie das Geständnis den Zauber meiner Verliebtheit zerstörte und mich dem Gegenstand meiner Zuneigung entfremdete; ein wenig graute mir bereits vor der Leere des kommenden Tages, der Langeweile des Sporttrainings, dem perspektivlosen Einerlei des Vereinslebens. Einträchtig gingen wir den steilen Weg zum Haus hinauf. Mein Vater hatte es eilig, ins Bett zu kommen, ich, nach der Strapaze des Geständnisses, angeekelt von der Ernüchterung, die bereits Platz griff, auch.

Ich weiß nicht mehr, wann mir mein Vater gestand, daß ihn an dem Abend, als ich ihm im Rausch von meiner unglücklichen Verliebtheit erzählte, ein Verdauungsproblem mit wehenartigen Konvulsionen heimgesucht hatte, die in rhythmischem Abstand gleichsam die Wagentür sprengten. So gräßlich hatte ihn das Bedürfnis unterjocht, das alles, was ich ihm an Abscheulichem, auch zutiefst Verabscheuungswürdigem präsentierte, an ihm abprallte; selbst die nicht zu übersehende Tatsache, daß ich alkoholisiert war.

Ein wenig war bereits vorgefallen zwischen mir und dem Arbeiter. Im Vereinsbus hatte er den Arm um mich gelegt; die andern hatten es gesehen. Aber bevor die Entfremdung, die ich selbst durch das nächtliche Gespräch mit meinem Vater in das keimende Verhältnis hineingetragen hatte, sich auswirken konnte, war die Sache bereits erledigt: die Kumpels hatten ihm den Kopf zurechtgerückt. Nicht zum ersten Mal passierte es, daß ich in dem Moment, wo ich zum Handeln oder zum Nachgeben entschlossen war, vor mir selbst geschützt wurde. Ich war zutraulich, unerfahren und idealistisch. Gesellschaftliche Unterschiede akzeptierte ich nicht; eine seltsam wortwörtliche Auffassung meiner Religion hatte mich das gelehrt, erste Ansätze in marxistischer Lektüre hatten mich darin bestätigt. Die andern mußten im Auge behalten, worüber ich treuherzig hinwegging, schon aus Selbstschutz. Mit mir konnte man kein x-beliebiges Verhältnis anzetteln. Wer wollte in dem Städtchen, in dem keine Tatsache verborgen blieb und keine Erinnerung unterging, sich mit meiner geachteten Familie anlegen, meinen beliebten Vater enttäuschen? Und wer sich mich aufladen? Es mit meiner Triebhaftigkeit aufnehmen, die sich dank meiner unüberwindbaren Schüchternheit durch keine triviale Bemerkung, dank meinem unbesiegbaren Ernst durch kein harmloses Späßchen beschwichtigen ließ? In der Kunst der Verführung machte ich beträchtliche Fortschritte. Aber wenn es darauf ankam, biß ich auf Granit.

Ich bekam den Eindruck, daß die ganze Welt sich gegen mich verschworen hatte.

9 Volksschule

Ich will nicht lügen: Die gesellschaftlichen Unterschiede kannte ich so gut wie jeder andere, hielt ich mich seit eh und je doch für etwas Besseres. Was noch dazugehörte, ergab sich von selbst.

Wenn ich daran denke, daß ich die katholische Volkschule einmal für den Mittelpunkt der Welt, das Nadelöhr zum Paradies gehalten hatte – und ich mitten darin und eine nicht zu leugnende Mehrheit, die ich qualitativ freilich für eine Minderheit hielt, draußen!

Meine Klassenlehrerin aus der Volksschule war die erste, die auf mich hereingefallen war. Sie war aus dem Osten wie wir, natürlich katholisch, und hieß so ähnlich wie »Päpstchen«. Meine Schwester dagegen hatte einen Lehrer, mit einem Namen, sanft wie der Wind, aufrecht wie ein Mensch. Sie selbst leistete noch wenig, da sie durch die Nachkriegswirren, die vielen Umzüge ein wenig verstört wirkte, aber diesen Lehrer konnte sie sich zur Ehre anrechnen. Ich verfügte über ein beglaubigtes Talent, hatte aber einen unsicheren Geschmack; das sollte mir anhängen. Einmal saß ich zu Hause über einem Aufsatz, und die Einfälle wollten und wollten sich nicht einstellen. Der Junge von unter uns, mit dem ich zum Spielen verabredet war, half mir, damit ich fertig wurde. Er diktierte mir ein gestelztes Elaborat, das ich verwundert aufschrieb. Am nächsten Tag sollte ich wie gewohnt die Sache herausreißen, die schlechte Themenstellung der Lehrerin durch eine lebendige Schilderung wiedergutmachen und den Glanz des Talents über die dröge Kinderschar ausgießen. Ich verlas den fremden Text. Meiner Lehrerin klappte, in der groben Sprache meines Vaters, die er für einen Ausweis der Authentizität hielt und die zu meiner Geschmacksunsicherheit nicht wenig beitrug, der Unterkiefer herunter. Sie holte Atem und erklärte vor der ganzen Klasse, daß sie enttäuscht sei, sie habe sich von mir etwas Besseres erhofft. Ich konnte mir gleich mehreres auf einmal nicht erklären: warum sie nicht gemerkt hatte, daß der Text nicht von mir war, und worin nun eigentlich der Unterschied zwischen einem guten und einem weniger guten Text bestand. Warum hatte die Lehrerin mich überhaupt aufgerufen, wo ich bereits das letzte Mal zum Vorlesen drangekommen war? Weil sie auf mich angewiesen war. Merkwürdig, daß die andern das nicht merkten. Die Bevorzugung fiel freilich auf, ich wurde bereits von den Mitschülern gehänselt. Tröstlich immerhin, daß man Talent unterscheiden konnte. Auch ich hatte mich beim Vorlesen geschämt, weil der Aufsatz nicht von mir war oder weil ich ihn nicht vertreten konnte, aber nicht, weil er schlecht war. Er war anders als meine Aufsätze, aber wer hätte sagen können, schlechter? Dann hätte man ja wissen müssen, warum.

Alle konnten es sagen, nur ich nicht. Ich hatte eine Unterscheidungsschwäche, eine Urteilsschwäche, und das war ernst. Später sollte sich noch eine Vorstellungsschwäche, sowie, last but not least, eine Konstruktionsschwäche bemerkbar machen. Nur analysieren und interpretieren konnte ich, besser, als in der Schule verlangt wurde. Losgelöst von den genannten Fähigkeiten, war das schon eine fast unheimliche Begabung.

Offenbar hatte ich keinen Geschmack, kein ästhetisches Empfinden. Für die andern sah es aus wie ein Zuviel an Phantasie. Aber ich wußte, daß es ein Zuwenig an allem andern war, ich spürte ja, daß mir etwas fehlte, vor allem die Fähigkeit, die Dinge im Lot zu lassen, in ihrer natürlichen Konstellation mit andern, kurz so, wie Gott sie geschaffen hatte. Darum würde ich auch nie sicher sein können, ob ich simulierte oder wirklich Talent besaß, wie »Päpstchen« bis zu meiner enttäuschenden Darbietung meinte, vielleicht auch danach noch, aber da kam es nicht mehr darauf an. Ich vertraute ihr nicht mehr, und beim Erinnern gruselte es mich, als wäre ich damals in schlechte Gesellschaft geraten und müßte mich mein Leben lang dafür schämen. Ja, wenn von meiner sogenannten Begabung der Funke auf mich übergesprungen wäre! Was ich mir unter einem erheblichen Gefühlsdruck zusammenfaselte, ergab vielleicht einen gewissen Gesamteindruck, zerfiel unter dem forschenden Blick aber in lauter Künstlichkeiten. Ich glaubte zu wissen, warum ich auf die Phantasie angewiesen war: ich war eben ein armseliges Ding. Eigentlich über mein Alter verständig, durch das Joch der Gewissenserforschung in der Entlarvung von Ausreden ebenso geübt wie im Erdenken von Sünden, kam mir zugleich nichts verächtlicher vor als Extravaganz. Ich liebte die Tatsachen, hätte auch gern in der dritten Person erzählt. Leider hatte ich gerade in der Beschreibung unübersehbare Schwächen. Hatte mein Freund mir nicht diktiert: »In meinem Garten stehen schöne Blumen: Tulpen, Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht«? Die Lehrerin war trotzdem enttäuscht gewesen. Von mir war sie anderes gewohnt, Stimmungsvolles, Dringliches, Explosives: »Wenn ich es in meinem Zimmer nicht mehr aushalte« oder »Wenn die Sonne ihre erbarmungslosen Strahlen aussendet.« Meine Aufsätze wurden um so höher bewertet, je mehr sie in Erstaunen versetzten, auch die Frage nach den Quellen meiner Inspiration aufwarfen. Ich war versucht, die nächtlichen Ängste auszuplaudern, mit denen ich meine Familie in Atem hielt, den materiellen Beweis meiner Begabung. Meine Eltern hatten mir aber zu verstehen gegeben, daß man das so und so sehen konnte. Dabei machten sie nicht deutlich, auf welcher Seite sie standen und ob sie sich auch ihnen gegenüber mehr Zurückhaltung gewünscht hätten. Für mich behielt dieser Rat etwas Äußerliches, fast Zweifelhaftes, so als hätten mir meine Eltern den Ruhm nicht gegönnt.

Da wir alle katholisch waren, konnte ich in der Volksschule ohne Scham Heiligenbildchen sammeln und den Katechismus auswendig lernen, aber ich durfte es mit der Frömmigkeit nicht übertreiben. Daß ich noch vor der Schule in die Messe ging, mochte allenfalls hingehen. Mehr – keine Ahnung, was das sein sollte, wenn nicht die vollständige innere Hingabe, die mich jetzt schon antrieb, die man nur nicht sehen konnte – war nicht erlaubt beziehungsweise hieß das, daß ich meinen Eltern Kummer machen wollte; sie hatten wahrhaftig genug Sorgen, und es wäre ungehörig gewesen – in den Augen meiner Großmutter geradezu ungezogen –, sie mit Problemen der religiösen Hingabe zu belästigen, die man sich überflüssiger nicht denken konnte. Obwohl wir alle mit dem Beichtspiegel aufgezogen und an besonderen Tagen gemeinsam in die Kindermesse geführt wurden, auch dem Herrn Pastor kleine Dienste erwiesen, ihm etwas brachten oder ausrichteten, was seinem Stand geschuldet war und ihm zugleich als Mensch galt, kurz für ihn schwärmten, gab es niemanden, mit dem ich meine religiösen Bedrängnisse hätte teilen können. Ich weiß nicht, was mehr ins Gewicht fiel, meine krankhafte Angst vor der Verdammnis oder mein Hang zur Sünde. Über Erlebtes hätte ich noch sprechen können, bildete ich mir ein, aber ich hatte noch nie etwas erlebt. Ausgedachtes war uneingeschränkt peinlich, davon zu berichten abartig; bei dem puren Gedanken wand ich mich wie ein Aal. Die Mädchen waren ja cool, im Überschwang des Gefühls hatten wir uns schon manches zusammen ausgemalt und uns nicht die Bohne dabei geschämt. Unsere Phantasien waren ein Beweis unserer Freundschaft, nicht einer kranken Vorstellung. Hätte ich ihnen von meinen Gewissensqualen erzählt, dann hätten sie sofort gemerkt, daß ich mich abgrenzte, und behauptet, ich wollte mich wichtig machen. Sich hervortun war schlechthin die Sünde gegen die Gemeinschaft. Mit den Jungen durfte man balgen, aber nicht mit ihnen reden; das hätte die Intimität zu weit getrieben. Meine Familie hielt auch gegenüber dem Pastor Distanz; ein Pfarrer war schließlich nicht der liebe Gott, zumal wenn er den einheimischen Dialekt sprach und höchstens vom Rhein oder aus dem Siegerland war, von weiter weg auf keinen Fall. Sich ihm allzu gefällig zu erweisen wäre ein Zeichen mangelnder Bildung gewesen oder, wie meine Großmutter es formuliert hätte: man wußte nicht, was sich gehörte. Die Möglichkeit bestand durchaus, daß der Pfarrer es ebenfalls nicht wußte, zumal wenn er ein Hiesiger war und die sublimierende Erziehung durch Flucht und Vertreibung nicht genossen hatte. Ungerührt ließ er sich mit »Herr Pastor« anreden, so als wäre er evangelisch. Speziell meiner Großmutter war meine Frömmigkeit wie gesagt unheimlich. Für sie war sie das Resultat einer allzu großzügigen Erziehung; großzügig bedeutete inkonsequent in dem einfachen Sinn, daß man die Folgen nicht absehen konnte. Ich gab ihr innerlich recht, wenigstens merkte sie, daß etwas nicht in Ordnung war, wenn sie auch nie zugegeben hätte, daß ich litt; im Gegenteil, sie machten sich Sorgen, oder vielmehr ich machte ihnen Kummer.

Wahrhaft religiös für mich war, was aus der Religion kam, für meine Großmutter, was aus der Gesellschaft kam, alles andere war in ihren Augen sektiererisch, überhaupt war jede Übertreibung verdächtig. Die Kirche als gesellschaftlichen Ordnungshüter achten, das war für sie wahre Religion, ihre Regeln befolgen, fromm. Für mich war es die reinste Blasphemie, eine Todsünde im Grunde, vom Protestantismus, dem Antagonisten, dem Urfeind auch meiner Großmutter, kaum zu unterscheiden. Gegenseitig hätten wir uns den Vorwurf machen können, daß wir die Religion zu etwas anderem benutzten, als wozu sie gedacht war, ich, um mich ihrer Kontrolle zu entziehen, sie eben, um mich zu kontrollieren. Meine Mutter hatte mir freimütig erzählt, daß ihre eigene Kinderfrömmigkeit danach beurteilt worden war, ob sie es schaffte, während der Messe nicht an ihren Kniestrümpfen zu zerren, die so eng waren, daß sie sie einschnürten. Ich dachte, normal ist man; fromm wird man. Die andern hatten schon recht, ich wollte mich bloß unterscheiden.

In meinem Kopf war ein Sammelsurium von Informationen, Weisheiten und Wünschen, die aus den Dorfgeschichten meiner Großtante stammten, den Pfadfinder- und Ministrantenromanen, die ich in der katholischen Jugendbücherei auslieh und in denen die Jungen sich um einen Kaplan scharten, der kaum älter war als sie – ich mitten unter ihnen –, aus den einsamen Reden meines Vaters auf abendlicher Besuchsfahrt mit Historienmalereien an der Windschutzscheibe, nicht zuletzt aus den Lesemappen, die meine Eltern in die Wohnung brachten und von denen ich mir erhoffte, daß sie das Geheimnis des Erlkönigs lüfteten: Jede Andeutung war Anspielung und jede Verführung Gewalt, Sex also nichts anderes als einverständlich betriebene Gewalt, wobei der Widerspruch mich in Anspruch nahm, als hinge seine Lösung von mir und von seiner Lösung meine Zukunft ab. Auch die Jugendromane waren bereits voller Andeutungen gewesen, sublimer Ankündigungen, in denen meine Unerfahrenheit ebenso wie der Mangel meines Geschlechts metaphysisch aufgehoben war und die ich mir so auslegte: Andere mochten sich von den Tatsachen ins Bockshorn jagen lassen, im Hier und Jetzt verzetteln, ich würde teilhaben an der großen Verschmelzung. Bis dahin war ich gar nichts, und ich hätte, auf die Folterbank gestreckt, nicht angeben können, was ich vom Leben wollte, es sei denn: alles. Meine Großmutter konnte sich noch so sehr die Haare raufen, weil ich ihre Anweisungen als kleinkariert und oberflächlich abtat. In ihrer Vorstellung war sie immer noch die angesehene Geschäftsfrau von einst, wohnhaft am Ring, deren gesellschaftlicher Erfolg sich in der Haushaltsführung spiegeln mußte, sprich in der Erziehung. Wie sollte sie vor ihren Nachbarinnen bestehen, wenn ich bereits in der Jugend Launen zeigte, und was war die Ablehnung der gottgegebenen Unterschiede anderes als eine Laune und eine Laune anderes als Beweis für eine fehlgeschlagene Erziehung! Wer sollte mich heiraten?

10 Mädchengymnasium

Das Gymnasium führte zwar die Konfessionen zusammen, trennte dafür aber die Geschlechter. Ich vermißte die Jungen. In der Volksschule hatte ich mich mit ihnen auf dem Boden gewälzt, während ich die Mädchen unterärmelte, auf beiden Seiten gleichzeitig, und wenn wir zu zweit waren, mit der einen über die jeweils andere gelästert.

Ich hatte schon am Begrüßungstag damit zu tun gehabt, daß meine engelsgleiche Mutter nicht zu den jüngeren Frauen gehörte, sondern von merkwürdig unreifen Wesen an den Rand gedrängt wurde, mit goldblonden Locken wie aus der Illustrierte. Es waren Ehemalige, die sich als Mütter in ihrer alten Schule wieder einfanden und ihren alten Lehrerinnen um den Hals fielen. Ins Mädchengymnasium gingen aber nicht nur die Töchter der protestantischen Hautevolee und brachten den scharfen Wind der sozialen Hierarchie ins Haus. Es kamen auch die Lehrerstöchter, Handwerkerstöchter, Bauernmädchen aus den umliegenden Gemeinden. Sie dachten gar nicht daran, sich auf den untersten Plätzen der städtischen Skala einzurichten. Ein Blick auf die neue Umgebung, die neue Klasse, und sie hatten sich ihre Chancen ausgerechnet und einen Entschluß gefaßt. Sie waren die Blüte ihrer Gemeinde, als deren Ehrenabordnung sie gleichsam in die Stadt geschickt wurden, gelegentlich mit Verzögerung, erst dann nämlich, wenn die Realschule ihnen ausdrücklich Chancen aufs Abitur bescheinigte und sie sich bereits zu Persönlichkeiten formten. Keine Sekunde dachten sie daran, ihr Dorf aufzugeben für die undurchsichtige Stadt, in der sie bloß Fahrschülerinnen waren. Ich bestaunte sie, weil sie es klipp und klar ablehnten, sich zu integrieren. Dabei waren sie sehr wohl hübsch, wenn sie sich auch weigerten, sich zu bilden. Ihre späteren Freunde versteckten sie, mehr aus Furcht, sie könnten in den Sog der städtischen Sitten geraten, denn aus Scham. Wer an der Angel war, wurde festgehalten, ganz gegen den Usus der Stadt, in der der Wechsel geübt wurde. Ich wiederum verstand nicht, warum man einen Freund hatte, wenn man ihn nicht zeigen durfte, hatte selbst aber noch keinen und konnte gar nicht mitreden. Nur durch Getuschel erschloß sich mir die Möglichkeit, daß diese Freundschaften bereits weiter gingen, als ich mir das in meinen extravagantesten Träumen vorstellte. Mein Vater vertrat die Ansicht, daß ein Mädchen mit seiner Jungfräulichkeit auch seinen Glanz verlor, und behauptete steif und fest, er erkenne es an den Augen. Ich bedauerte, daß ich mir meine Klassenkameradinnen nicht rechtzeitig angesehen hatte, um etwaige Veränderungen zu bemerken, erinnerte mich aber an etwas Verhangenes in ihrem Blick. Danach schien mir die Erklärung meines Vaters nicht mehr abwegig. Ich begann zu begreifen, was man unter Schlafzimmeraugen verstand: Augen, die das Schlafzimmer gesehen hatten!

Ich bekam rasch einen kritischen Blick auf die andern, einen vernichtenden auf mich selbst. Dabei litt ich zwar nicht bewußt unter dem Fehlen der alten Freunde aus der Volkschule, wohl aber unter der Diktatur der evangelischen Mädchen, die keinen Respekt vor mir hatten, auch nicht neugierig auf mich waren und nicht den Grund sahen, warum sie mich nett finden oder mir ihre Zuneigung schenken sollten. Ich war schüchtern und wurde unfreundlich. Innerlich brodelte es vom Bedürfnis, Tatsachen zu schaffen, der Zukunft durch kräftiges Zerstören der Gegenwart den Weg zu bahnen. Wer heute das Sagen hatte, war morgen Philister, saß immer noch mit den Kindergartenfreunden zusammen, hatte sein Haus neben dem der Eltern gebaut, sagte Du und Tante zur besten Freundin der Mutter. Ich hingegen war berühmt.

Da ich mich aber nicht erinnern konnte, wie ich in der Volksschule zu Ruhm und Ehren gelangt war, wenn ich nicht zugeben wollte, daß ich die Lehrerin mit meiner Phantasie eingeschüchtert, in meinen Augen geradezu erpreßt hatte, wußte ich nicht, wie ich das künftig bewerkstelligen sollte. Der simpelste Lehrerwechsel tauchte mich zurück in die Masse der Unbegabten, und da es mir am entscheidenden Talent mangelte, so nämlich zu sein wie die andern, durchlitt ich ängstliche Tage und Augenblicke, bis ein Lächeln des Lehrers mir verkündete, daß die Nachricht bei ihm angekommen war: ich war anders als die andern.

Eigentlich still war ich nicht, galt aber als tief, bei den feinen Mädchen auch als hölzern und ungeschickt; nicht zu unrecht, war mir doch beim ersten Kaffeeklatsch, zu dem mich eine Klassenkameradin auf Geheiß ihrer Mutter einlud, das Törtchen in die Kaffeetasse gesprungen, und den Mund aufgekriegt hatte ich auch nicht. Außerdem gönnten sie mir zum intellektuellen den gesellschaftlichen Erfolg nicht. Sie hatten keine Vorstellung davon, daß ich einen ungesicherten Kontakt zu meinem Verstand hatte, mochte er auch noch so vielversprechend sein, und sie um ihr selbstverständliches Verhältnis zu ihrem beneidete, und ich hätte auch sofort mit ihnen getauscht, hätte ich doch nichts lieber gewollt als ein einziges Mal in meinem Leben etwas halb können statt ganz oder gar nicht. Sie machten es mir tagtäglich vor, wenn sie die drei Vokabeln, die in ihrem Kopf gespeichert waren, an den Mann brachten, die zur Hälfte verstandene Formel benutzten. Sie mochten es bewundern, daß ich sechzig Vokabeln heruntersagen, dazu von jeder ihren exakten Platz auf den hinteren Seiten des Unterrichtswerks angeben konnte, oder daß ich ihnen eine Regel, sofern ich sie verstanden hatte, geradeso erklärte, wie wenn ich sie selbst aufgestellt hätte, also gleichsam von innen, aus der Tiefe eines Konstruktionsbüros, von dessen Existenz sie keine Ahnung hatten, dachten sie doch, Regeln würden so aufgestellt wie gelernt, indem man sie hersagte. Ich dagegen verstand nicht, wie man etwas wissen konnte, was keinen Halt hatte, und woran sollte es Halt haben, wenn nicht am Gerüst und Geländer. Aber noch die Dümmste in der Klasse hätte keinen Augenblick daran gezweifelt, daß sie zum wie auch immer gewichtigen Teil das Ganze war, und war mir dadurch hoffnungslos überlegen. In der Schulzeit konnte ich mir noch mit der Möglichkeit schmeicheln, ein krankes Genie zu sein, wie es mir tagtäglich im Literaturunterricht begegnete. Aber die Tendenz wies nach unten, auf den tiefsten Grund der Degeneration, wo sich das Erhabene vom Trivialen, das Echte vom Gemachten, das Geformte vom Gestelzten nicht mehr unterscheidet. Meine Mutter deutete die Krise als Selbstekel und zog daraus den Schluß, daß es im allgemeinsten Sinn Zeit wurde. Ursachenforschung betrieb sie selten, aber wenn, dann mit der legeren Haltung dessen, der in der Natur botanisiert; ihre Aussagen waren unwiderleglich. Meine Lehrer, die den Kontakt zu mir verloren hatten, unterstützten sie in dieser Ansicht. Ich schrieb noch einen mäßigen Abituraufsatz über die Erzählung eines vom NS nicht frei gebliebenen Schriftstellers und stellte das Schreiben ein. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich fortan die anspruchsvollen Briefe meiner neuen Freunde, die ich in den letzten Jahren fern von Stadt und Schule kennengelernt hatte und die ihre frisch entdeckte philosophische Begabung im Dialog erproben wollten. Ich, sonst immer korrekt, ängstlich, mir nichts zuschulden kommen zu lassen, ließ ihre Mitteilungen unbeantwortet und ertrug mit stoischer Gelassenheit die Vorwürfe, die weinerlichen, auch die sarkastischen, die mich früher um den Schlaf gebracht hätten: »Du läßt nichts mehr von Dir hören, aber in Erinnerung an unsere … will ich Dir …« Ich selbst schrieb nichts mehr, was mir den Ruf einer früh verdorbenen Begabung hätte eintragen können. Ein bißchen sündigte ich noch im Bereich der Interpretation, was meine Universitätslehrer aufhorchen und mich gelegentlich an den alten Taumel zurückdenken ließ. Ansonsten wartete ich darauf, daß ich älter wurde: die verlorene Unschuld wiedergewann, den Jugendschock verwand und vergaß, was ich erlebt und was ich bereits alles verbrochen hatte.

11 Das Jungengymnasium

Von unserer neuen Wohnung, zugleich aus der Stadtperspektive betrachtet, lag das Mädchengymnasium am Ende jener großen Straße, die am Jungengymnasium, an der Badeanstalt mit der Jugendstilfassade, am Hexenbusch vorbei hinab in die Senke der Sportplätze führte. Gegenüber hatten in früheren Zeiten zuerst die Belgier, dann die Flüchtlinge im Barackenlager gehaust, und später wurde dort, als Zeichen des Fortschritts, die Ingenieurschule gebaut. Auf der anderen Seite der Sportplätze, unserem Häuschen am Berghang vis-à-vis, in unmittelbarer Nachbarschaft der katholischen Volksschule, lag das Mädchengymnasium.

Wir waren längst umgezogen, als ich auf die Oberschule kam, und so führte mich mein täglicher Weg am Jungengymnasium vorbei. Morgens stellten sich hinter dem Schulzaun die Schüler auf und musterten die vorbeiziehenden Mädchen. Ich hatte seit kurzem eine Brille, aber ich hätte sie um alles in der Welt nicht aufgesetzt, und so sah ich die Verhältnisse hinter dem Zaun nur verschwommen und wußte daher nie, ob ich verhöhnt oder angeschwärmt wurde; wahrscheinlich wurde ich übersehen. Von ungewissen Blicken verfolgt, kämpfte ich mich im Pulk der Mädchen voran und wünschte mir nichts sehnlicher, als daß hinter dem Zaun ein liebendes Herz nach mir ausschaute, so daß ich mich unbekümmert meinen Freundinnen zuwenden konnte. Ich wußte nicht, wie das zustande kommen sollte, aber ich glaubte zu wissen, was das hieß: liebend. Nicht nur Sehnsucht bedeutete es und Schwärmerei, sondern Erfüllung. Letztere bezog sich weniger auf meine Vorzüge, die auf dem Bürgersteig zerkrümelten und über die die Mädchenbeine hinwegschritten, sondern auf meine Bestimmung. Auch die Erblast, die ich mit mir herumschleppte und die mich als ein vielversprechendes Mitglied meiner Familie auswies, konnte diese Bestimmung nicht beeinträchtigen. Akzidentien waren sie, die roten Backen, der runde Rücken, die breiten Hüften, die bleiernen Füße. Selbst meine Familie war bloß Akzidens, Substanz dagegen, was sich zwischen dem liebenden Herz und mir ereignen würde, meine Substanz also Teil einer anderen Substanz. Die würde sich als Bollwerk gegen alle Ansinnen bewähren, die mich vom rechten Weg, vom Pfad der Selbstbestimmung abzubringen suchten. Nicht nur ein respektables Familienmitglied sollte ich werden, eine Belohnung vielmehr für die Entbehrungen, die die Familie, die Heimat, die Religion jenen abverlangten, die in ihnen ihre Erfüllung suchten.

Wenn wir die Senke erreichten, ordneten sich meine Eingeweide, und ich fing an, mich zu schämen. Ganz im Gegensatz zu meiner persönlichen Auffassung von Liebe mußte man vor dem Jungengymnasium eine gewisse Ausgelassenheit beweisen, sonst sahen einen die Jungen nicht. Schönheit allein half wenig, und ich war ja nicht schön. Unter Extrovertiertheit konnte ich mir nichts anderes vorstellen, als daß man kreischte und die Beine hinter sich warf. Ich versuchte es auf meine Weise – indem ich als einzige laut oder still wurde –, aber es war wie in den Urwald hineinrufen. Für meine Klassenkameradinnen lohnte sich der Spießrutenlauf. Meine besten Freundinnen, die mir soeben noch erklärt hatten, daß sie Jungen blöd fanden und über Mädchen herzogen, die den Jungen nachliefen, ließen mich von einem Tag auf den andern im Stich und gaben zu, daß sie mit jemandem »gingen«. Wer nicht zu Partys eingeladen wurde, dem konnte diesbezüglich nichts passieren. Ich wäre gern eingeladen worden – so wie man etwas wollen muß, zu dem man keinen inneren Bezug hat –, tat aber nichts, um das große Ereignis herbeizuführen, und wurde prompt nicht eingeladen. Gemeinsam mit den andern meldete ich mich zur Tanzstunde an und erlitt auch hier Schiffbruch. Schließlich gab meine eigene Freundin eine Geburtstagsparty, für die sie mir einen Jungen besorgte, einen Freund ihres eigenen Freundes. Das Verhältnis blieb eine Weile in der Schwebe. Bei aller Anpassungswut hatte ich doch einen harten Kern, ich wollte nicht gekränkt werden. Hätte in der keimenden Beziehung nicht etwas Aussichtsreiches gelegen, bei allem Traumhaften auch etwas Erreichbares, bei allem Abenteuerlichen etwas Solides, ich hätte mich über gewisse Zwangsläufigkeiten gegrämt und vielleicht sogar dem Schicksal des Mauerblümchens nachgetrauert. Ich bestand nur aus Bedenklichkeiten, aber ich erlag dem Zauber der Wirklichkeit. An der Hand meines ersten Freundes trat ich aus der Beschränktheit meiner Tagträume heraus. Ich vergaß die Entführungen und Vergewaltigungen, an denen ich jahrzehntelang herumphantasiert hatte. Er hatte mich geküßt, und ich wußte, er würde mich wieder küssen. Dagegen kam kein Tagtraum an.

Nichts erschien uns natürlicher, als daß das Jungengymnasium einen schlechten Ruf hatte. Es war bekannt, daß die Schüler schlecht behandelt wurden. Demütigungen waren an der Tagesordnung. Mit Lernen hatte das nichts zu tun. Die Assoziation, daß Gefangene hinter dem schmiedeeisernen Zaun standen, ergab sich von selbst. Mit sehnsüchtigem Blick folgten sie uns, die wir in Freiheit wandelten. Schule schien ein Vorrecht der Mädchen zu sein. Was das Jungengymnasium in Mißkredit brachte, war der Mangel an Einfühlung. Wenn ein Lehrer von dort an die Mädchenschule versetzt wurde, redete er uns mit Vatersnamen an. Er forderte uns mit »Platz!« zum Hinsetzen auf, was zu Lachstürmen führte. Oder er schmolz vor Rührung, weil er in unseren Gesichter die lautere Unschuld zu entdecken meinte. Wir fanden ihn lächerlich. Unsere Lehrerinnen waren Pädagoginnen von Geburt, energische Emanzen mit dem vagen Makel der Jungfräulichkeit, einer reizenden Aura von Frauenliebe, von einer unbestechlichen Wissenschaftlichkeit, aber höchst bestechlichen Zuneigung, einer schon kriminellen Willkür, wenn es darum ging, Lieblinge heranzubilden, jemanden vorzuziehen. Ich wurde in der Regel vorgezogen, wußte aber nicht, warum, und war davon so verwirrt, daß ich tatsächlich geschont werden mußte, sollte nicht das zarte Netz aus Willkür und Verdienst zerreißen; denn vom Stoff hatte ich keine Ahnung. Andere erfreuten sich des Wohlwollens unserer Lehrerinnen so wenig, daß dafür nur noch das Schülerwort paßte: Die hatten sie auf dem Pik. Dafür lernten sie um so mehr, konnten im Gegensatz zu mir die genetischen Formeln auswendig hersagen und sich auf der Tafel mit dem Periodensystem mühelos orientieren. Wäre eine Schülerin in der Abiturprüfung durchgefallen, nicht der wissenschaftliche Ruf der Schule wäre gestiegen, sondern ihr psychologisches Ansehen wäre beschädigt worden. Bei den Jungen war es umgekehrt, sie mußten durchfallen, sonst hätte der Ruf der Schule gelitten. Selbstmordversuche kamen vor; als Halbtote spukten die Durchgefallenen in unseren Köpfen herum. Wer unbedingt Abitur machen mußte, wurde von seinen Eltern aufs Internat geschickt und brachte von dort schlechte Gewohnheiten, um nicht zu sagen Perversionen mit nach Hause, die den calvinistischen Geist des Städtchens zugleich bestätigten und untergruben. Andere ließen ihre Kinder weite Strecken fahren, damit sie an einem traditionslosen Gymnasium unbeschädigt heranwachsen konnten. Für uns waren sie verloren.

Einer von ihnen war Ingo, der am düsteren Gymnasium die Segel strich, um die zwar stockkatholische, aber ungleich freiere Luft des angrenzenden Rheinlands zu atmen. Ich hörte nichts mehr von ihm und bin mir nicht mal sicher, ob ich mich nicht erst nach seinem Weggang unsterblich in ihn verliebt hatte. Ingo, der Name war weder calvinistisch noch schlesisch. Hätte ich gewußt, was das ist, hätte ich gesagt, ein republikanischer, ein atheistischer, kurz ein freier Name. An ihm klebte kein Heiliger und kein Märtyrer, und auch an der Person klebte nicht die Vergangenheit, aus der Ingo förmlich entlassen war. Andere dachten an mich, das hatte ich mittlerweile begriffen, aber sie hatten keine Zukunft. Er konnte mich mitnehmen. Ich träumte, daß er zurückkäme und mich holte, vermutlich an den Rhein. Dabei war ich mir keineswegs sicher, daß er mich kannte. Er würde mich entdecken müssen. Entdecken und holen war eins. Zurückkommen war das Problem; was, wenn er mich nicht kannte, sollte ihn dazu bewegen. Je mehr Ingo verblaßte, desto heller leuchtete sein runder Name. Mir fiel ein, daß meine Schwester erzählt hatte, er wäre blond. Sie hatte ihn zuerst geliebt, und im Gegensatz zu mir hatte sie eine hervorragende Orientierung, was mit den schwarzen Augenbrauen im hellen Gesicht zu tun haben mochte. Jedenfalls war sie nie ohne Grund deprimiert, während ich den Reflexen meines Sonnengeflechts ausgeliefert war, das im beim Anblick einer x-beliebigen Silhouette kollabierte.

Von meinen Freunden, mit denen ich später, Gipfel einer glücklichen Jugend, eine Clique gründete und mich täglich traf, hatten etliche die ersten zwei, drei Jahre am Jungengymnasium verbracht, bevor sie ‚abgegangen’ waren. Sie mußten also ebenfalls am Zaun gestanden haben; eine absurde Vorstellung, denn als ich sie kennenlernte, waren sie gestandene Handwerker, Sachbearbeiter in fester Anstellung mit Aufstiegsaussichten, von sicherem Urteil und respektvollem Umgangston, und es wäre mir lieber gewesen, wenn sie nicht zu den Verlierern des Jungengymnasiums gehört hätten.

Noch als ich mit allem gebrochen hatte, hätte ich mir nicht vorstellen können, daß jemand über das Jungengymnasium anders als mit Herablassung oder Haß sprach, konnte es doch nur Gebrochene hervorbringen. Um so mehr erstaunte es mich, wenn ich es in einem Zusammenhang erwähnt fand, der eher mit meinen neuen als mit meinen alten Verhältnissen zu tun hatte. Im Gegensatz zum Mädchengymnasium hatte es nämlich mehr als nur eine akademische Berühmtheit hervorgebracht, und die Jubiläumsreden wurden in dankbarer Erinnerung von ‚bekannten Köpfen’ gehalten, die selbst ich, stolze Studentin mit einem Stipendium für Auserwählte, nur aus der Ferne bewunderte.

12 Adel und Reichtum. Meine Schwester

Kurze Zeit, nachdem ich am Jungengymnasium vorbeigetaumelt war, betrat ich es als Schülerin. Dank einer Kooperation, die der Verbreiterung des Lehrangebots diente, durfte ich am Wahlpflichtfach Philosophie teilnehmen, das naturgemäß bei den Jungen erteilt wurde. Die neue Regelung fiel in die letzten Amtsjahre des gefürchteten Direktors. Er erschien zu einem Unterrichtsbesuch, der mehr der Kontrolle des neuen Fachs als der Prüfung von Lehrer oder Schülern diente und zu einer Kontroverse ausgerechnet zwischen ihm und mir als dem einzigen Gast führte, noch dazu einem Mädchen. Der Streit ging um die Vorsilben »hyper« und »hypo«. Der Direktor behauptete, ersteres bezeichne das Zuwenig, und der Philosophielehrer widersprach nicht. Er lächelte aber fein, als ich mich meldete und den Fehler korrigierte. Da meine Mutter an Hypotonie litt und auch meine Schwester und ich manche Sonntagsmesse auf den Stufen des Kirchenportals verbrachten, weil wir nüchtern waren und uns schlecht wurde, konnte ich mich gar nicht irren. Der Direktor entschied die Sache mit aller Nachsicht zu seinen Gunsten, und erst in der folgenden Stunde wurde ich in seiner Abwesenheit rehabilitiert. Von da an verfügte ich über einen soliden Ruf in Philosophie, bekam eine Zwei – im Jungengymnasium wurde für nichts auf dieser Welt eine Eins gegeben – und behauptete, Philosoph werden zu wollen beziehungsweise, als das Abitur näherrückte, Privatgelehrter.

Ich weiß nicht, wer mir den Begriff schmackhaft gemacht hatte. Männlicher noch als Philosoph, war er zugleich abgekehrt von jeder Konkurrenz. Ich wollte Geisteswissenschaften studieren und Privatgelehrter werden und glaubte mich auf diese Weise doppelt geschützt gegen die Versuchungen des Brotberufs, wußte ich in beiden Fällen doch nicht genau, worauf die Sache hinauslief. Verglichen mit den Geisteswissenschaften hatte noch die abstrakteste Philosophie etwas unabweisbar Konkretes: was, wenn andere schlauer waren als ich! Zudem konnte ich zwar prima Latein, aber kein Griechisch. Jeder andere hätte es nachgeholt; so war das, wenn man Philosoph werden wollte. Aber ich war von Natur nicht fleißig, für braves Studieren auch nicht introvertiert genug. Ich konnte mich einsetzen, aber nur wenn es dabei auch um mich ging, wenn immer noch ein Spielraum blieb, eine Unschärfe, Quellpunkt für Subjektivität.

Während ich mich im Jungengymnasium tummelte, blieben meine Freundinnen nicht tatenlos, meine Feindinnen ebensowenig. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand wurde darüber geredet, daß ich meine Zensuren nicht verdiente. Andere waren so blasiert, daß sie nicht einmal Wert auf meine Bekanntschaft legten. Von den Fabrikantentöchtern in meiner Klasse war bereits die Rede. Meine Schwester hatte eine Klassenkameradin, die mit ihrer Mutter nach München zum Einkaufen flog. Ihr Vater stellte ihnen zu diesem Zweck das Firmenflugzeug zur Verfügung. Ein einziges Mal hatte sie das erwähnt und konnte es nun nicht mehr zurücknehmen. Nach Aussage meiner Schwester, die den Prominenten zeitweise recht nahe kam, war es übrigens ein nettes Mädchen, in jeder Hinsicht unauffällig, dem Klassenziel der Reichen also schon recht nahe, wäre da nicht das Geständnis bezüglich des Flugzeugs gewesen. In endlosen Träumereien stellte ich mir vor, wie sie meine Schwester zum Einkaufsbummel nach München einlud und die letztere wegen der schreienden Ungerechtigkeit, nach der mit uns Schwestern verfahren wurde, auf ewig ein schlechtes Gewissen haben und mich umsorgen und verwöhnen würde, während ich ihr die kalte Schulter zeigte. Ich versäumte es übrigens, mir das Mädchen auf dem Schulhof zeigen zu lassen, ich hätte mir das fremde Gesicht doch nicht gemerkt, zumal das Flugzeug ihres Vaters nicht auf dem Schulhof landen konnte, auch ihre Anziehsachen, soviel erfuhr ich, »nichts Besonderes« waren. Da meine Schwester um diese Zeit, wie ich mit einer Mischung aus Neid und Stolz feststellte, hübsch, zierlich, spontan und lustig war – wahrscheinlich auf Grund der höheren Einflüsse, die sich in ihrem Umkreis häuften, aber auch sportlicher Erfolge, die in der Familie unbeachtet blieben –, traute ich ihr eine solche Einladung übrigens zu, auch daß sie sie angenommen hätte. War sie nicht mit ihrer Freundin und deren Eltern an den Gardasee gereist? Meine Schwester, die Verantwortungsbewußte, hatte ihre Familienskrupel beiseite getan und war mitgefahren. Wenn sie so weitermachte, würde sie noch werden wie die andern.

Ein anderes Mädchen aus der Klasse meiner Schwester war aus einem Adelsgeschlecht, das weitläufig mit dem englischen Königshaus verwandt war. Sie war überirdisch schön und freundlich ohne Ranküne. Ihre goldenen Locken umrahmten ein liebliches Gesicht, so wie ich es nur aus Romanen kannte. Ich verstand etwas von der Materie, hatte ich doch die hellsten Haare der ganzen Gegend, dazu blaue Augen wie sie. Aber im Gegensatz zu mir belästigte ihr Aussehen niemanden, es beglückte. Je mehr man sich in ihr Gesicht vertiefte, desto mehr wurde es zum Porträt. Falls sie wirklich in einer Baracke lebte – es hieß, daß die Familie ihren Besitz in Ostpreußen verloren hatte, und von der Haltestelle her, an der sie ausstieg, war zu ahnen, was das hieß –, konnte ihr das nichts anhaben. Sie war der lebendige Beweis dafür, daß das Essentielle für die Augen unsichtbar war, sofern man darunter verstand, daß es einem nicht genommen werden konnte.

»Alles verloren zu haben« war in Flüchtlingsfamilien wie der unsrigen ein Adelsprädikat, eine Quelle von Aura. Ich konnte mir noch so oft sagen, daß man kein Held sein mußte, um etwas zu verlieren. In meinen Augen war die Tatkraft daran stärker beteiligt, als allgemein geglaubt wurde. Hieß es nicht: Er hat seine pommerschen, ostpreußischen, seine überseeischen Besitztümer verloren, und war das nicht dieselbe Form wie in »Er hat gelächelt, gehustet, gewonnen«? Wenn lieblose Zeitgenossen dagegen meinten, daß ein ostelbischer Junker sich sein Leben lang als ein solcher aufführe, bezogen sie sich auf das, was jener besessen, nicht darauf, daß er es möglicherweise verloren hatte. Meine logischen Fähigkeiten reichten noch bei weitem nicht aus, die schwierige Materie zu meinen Gunsten darzulegen. Ich wußte aber, daß ich recht hatte, die unbegreifliche Schönheit des Mädchens stand mir dafür. Da ich ebenfalls aus einer Flüchtlingsfamilie war, stand ich ihr näher als die Kinder aus den einheimischen Familien, durfte sie sogar einmal besuchen, oder war das meine Schwester?

Nach dem Abitur verschwand sie aus unserem Leben. Vielleicht wurde sie Stewardeß – ein ehrbarer Beruf für ein adliges Mädchen, Äquivalent zur diplomatischen und militärischen Karriere der Söhne. Jedenfalls entschwand sie in Sphären, in denen wir sie nicht aufsuchen konnten, aus denen sie auch nicht zurückkehrte. Noch in der Rückschau kommt es mir so vor, als wenn die Adligen, die Reichen und die Calvinisten – Überschneidungen nicht ausgeschlossen – eine eigene Erde und einen eigenen Himmel gehabt hätten; sonst hätten wir uns, nachdem wir das gleichmacherische Gymnasium hinter uns gelassen hatten, unmöglich so gründlich aus den Augen verloren.

Meine Schwester hatte unverschämtes Glück. Blaß und beweglich, wie sie war, konnte sie mit ihrer Altersklasse mithalten, bekam zur rechten Zeit einen hübschen Busen und legte sich nicht nur eine anmutige Welle in ihre genau an der richtigen Stelle abgeschnittenen Haare, sondern legte sich ungeachtet des Tanzes, den es zu Hause setzte, auch noch ein existentialistisches Pony zu, während ich immer noch nach der Devise des häßlichen jungen Entleins verfuhr, wahre Schönheit müsse von innen kommen, sie müsse sich herausstellen, und der Überzeugung anhing, die einem Embryo Ehre gemacht hätte, jede Linie wäre eine nicht wiedergutzumachende Entfremdung.

Eine Weile hatten meine Schwester und ich um die Rolle des Entleins konkurriert, ich halbherzig, war ich bei aller Abneigung gegen meine derbe Erscheinung doch in meine hellen Haare verliebt, und die Leute machten mir zweifelhafte, auf meine blauen Augen und meinen sonnigen Charakter bezogene Komplimente, während meiner Schwester nichts anderes übrigblieb, als auf die Zukunft zu hoffen. Im Gegensatz zu mir hatte sie aber die Fähigkeit, sich diese zu erschließen. Sie empfing sie anmutig und bewegte sich in ihr, als wäre sie ihre, während ich angesichts der ungeheuerlicher Glücksmöglichkeiten, die sie barg, die Fasson verlor, in der Obersekunda ernstlich Vieren schrieb und rauchend an Straßenecken herumlungerte, mit gekrümmtem Rücken die Weite genießend. Meine Schwester hatte nicht nur den richtigen Kampfgeist für die Korbballausscheidungen – während ich alle Gegnerinnen überrannte, aber vor dem Korb versagte –, sie holte in ihrer ganzen Entscheidung nach, was dem mageren Kind gefehlt hatte. Wie eine Verkörperung des »fremden Mädchens« war sie dank der hastigen Umzüge unserer Eltern von Schule zu Schule geirrt und hatte sich nicht eingelebt. Jetzt gewann sie nicht nur an Deutlichkeit und Kontur, auch an innerer Rundlichkeit und Ausgeglichenheit, ja an innerer Heiterkeit. Was ich für den finstersten Unsinn der Erwachsenen hielt und durch eigene Erfahrung auch nicht bestätigen konnte, daß sich mit dem Älterwerden manches von selbst klärte, um nicht zu sagen das meiste, das galt für sie. Sie heimste die Reife wie eine Frucht ein, die ihr verdientermaßen in den Schoß fiel; hatte sie doch tapfer genug die Mühseligkeiten ihrer Kindheit getragen. Beim Wechsel von der Frühjahrs- zur Herbsteinschulung nie zurückgestuft, sondern weiter nach oben geschoben, war sie immer jünger geworden, um den Preis, daß sie bald für ein wenig zurückgeblieben galt. Als sie intellektuell und mädchenhaft erblühte, wurde sie ein Wunder an Zierlichkeit, ja munterer Kindlichkeit. Den bekannten Persönlichkeiten aus der Oberstufe kam sie ganz von allein näher; sie stemmte sich einfach nicht gegen den Trend. Aus ihrer Klasse, allenfalls einer über ihr, rekrutierte sich die Szene. Sie beheimatete die Freundinnen der angesehensten jungen Männer unserer Stadt, die auch den »Club« gründeten, der einen Hauch von New Orleans oder Reeperbahn in das ausgestorbene Zentrum trug; freilich mußte man wissen, wo er sich verbarg. Aus der Umgebung meiner Schwester drangen wichtige Informationen wie die, daß man, wenn man in Oberprima auf Klassenfahrt nach Berlin fuhr, abends in die Eierschale oder ins Riverboat gehen und auf dem Nachhauseweg Currywurst und Schaschlik essen mußte. Als sie von dieser Fahrt zurückkehrte, war sie ein neuer Mensch. Mit einem Blick sah ich: Sie hatte eine Menge ohne mich erlebt.

13 Kleidersorgen

Meine Eltern führten den starken Eindruck, den sie machte, allein auf die Nachtfahrt zurück. Sie stank nach Interzonenzug und hatte fiebrige Augen. Sie verteilte Geschenke mit Berliner Aufdrucken, und ich schloß die Stadt ins Herz. Sie war aus Dörfern entstanden, erfuhr ich, und dank einer unermeßlichen Grundfläche, die in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Geschichtsträchtigkeit stand, anders angelegt als andere Städte, nicht vertikal, sondern horizontal; also nicht wie Rom. Meine Schwester, um deren klaren Verstand wir sie alle beneideten, hatte sich prima in Berlin zurechtgefunden, und wer weiß, vielleicht würde sogar ich mich dort zurechtfinden; zumal die Stadt geteilt war. Vorerst fuhr ich mit meiner Klasse nach Paris. Auf Montmartre lieferte ich mich den Porträtmalern aus und war von der Vollkommenheit meines Porträts – auch der Tatsache, daß es erschwinglich war – so fasziniert, daß ich mich von einem weiteren Maler zeichnen lassen wollte. Ich hatte freilich nicht genügend Geld dabei und mußte die Lehrerin bitten, es mir für diesen Abend zu leihen. Als sie hörte, was ich damit anfangen wollte, erinnerte sie mich in eindringlichen Worten an meine Vernunft, bis ich beschämt klein beigab und auf das Porträt verzichtete. Am Ende der Reise hatte ich noch soviel Geld, daß ich mir auf der rive gauche, der Seite meiner künftigen Existenz, eine Bluse kaufte, wie ich sie noch nie im Leben besessen hatte. Sie war schwarz und hatte einen weichen Kragen und an den langen, schmalen Bündchen drei, wenn nicht gar vier Knöpfe. Ich trug sie unter dem Pullover, ohne Unterhemd, so daß ich fröstelte. Später kam noch eine weiße Bluse aus durchsichtigem Musselin dazu, die nur über tadellosen Dessous, wie ich sie nicht besaß, getragen werden konnte und mit einem Clownskragen aus mehreren übereinandergelegten Schichten starrer Spitzen versehen war, der mich an die Figuren Watteaus erinnerte und den ich, da ich sowohl schüchtern als auch exhibitionistisch veranlagt war, über alle Maßen liebte. Diese beiden Blusen, von denen die eine für meine Kleinstadt zu schön, die andere aber zu seltsam war, bildeten gewissermaßen den Brautschatz, als ich zum Studieren nach Berlin aufbrach. Kam noch ein Flanellrock aus einem schwer zu kombinierenden Stahlblau oder Scharfblau hinzu, dessen Tücken man erst erkannte, wenn man versuchte, den passenden Pullover dazu zu finden. Ich trug ihn zusammen mit einem nagelneuen blauen Angorapullover, dessen Flusen den Rock und alles, was ich sonst noch anhatte, mich selbst und wem ich nahe gekommen war, verunzierte, auch in der Farbe nicht zum Rock paßte; letzterer war eben ein Unikat. Oft genug genügte es mir, ihn – den Vorläufer unzähliger Röcke, die in meinem Leben eine mehr als nur praktische Rolle gespielt haben – zu betrachten und seinen Flanell zu befühlen, um mich wiederherzustellen, Wesen und Wirklichkeit im Sinne der Zukunft neu zu verbinden. Meine Eltern hatten ihn in einer Boutique für mich erstanden, er atmete den Duft der Wohlhabenheit, zu der sie ziemlich exakt zu der Zeit gediehen, als ich flügge wurde. Auf ihren Reisen wurden sie von Kauflust gepackt, und betraten Geschäfte, an denen sie früher vorbeigegangen waren. Da ich C&A, Hertie und Kaufhof gewöhnt war, auch als Inbegriff großstädtischer Kultur schätzte, gewahrte ich in dem Röckchen ein wunderbares Eingehen auf mich, eine tiefe Kenntnis meiner noch unentwickelten Persönlichkeit, und sah in ihm eine gleichsam prophetische Kraft am Werk. Ich begrüßte es förmlich als mein Doppelbild, das mich großzügigerweise aufgesucht, auf seine Bequemlichkeiten im Himmel der Ideen verzichtet hatte, damit ich meine zerrissene Existenz überwand und ebenfalls vollständig wurde. Da meine Eltern auf Anprobieren verzichten mußten, waren die Kleidungsstücke meist haarscharf zu eng, und dieses Dilemma verstärkte noch ihre Idealität. Wenn es mir gelänge, meine Freßsucht zu zügeln, dann würde ich nicht nur so schön wie das utopische Röckchen auf seinem Bügel, auch so geistig sein. Beweis, es würde passen. Ich würde hineinschlüpfen, und es wäre noch Luft dazwischen wie bei allem Geistigen. Es würde mich umhüllen, mich umschmeicheln, mich begleiten. Wenn aber ein Stück paßte, dann trug ich es wie eine zweite Haut, und wenn es der Dauerstrapaze nicht standhielt und schließlich zerfiel, dann fühlte ich mich schutzlos der Welt ausgesetzt, nackt und unbehaust, »sans feu ni lieu«, »sans toit ni loi«, und fror.

Ein Rock wurde mir vom Bodensee mitgebracht, aus hellgrauem Flanell, mit zarten Biesen, so daß er wie ein aufgeblätterter Faltenrock erschien. Diesmal hatte meine Schwester ihn ausgesucht, und er war besonders hübsch und definitiv zu eng. Er paßte nur einmal, als ich ihn überreicht bekam, nämlich als Trost für eine überstandene Mandeloperation, bei der ich tagelang gefastet hatte. Aber er begleitete mich durch meine Studienjahre mit ihren zahllosen Umzügen, ein Denkmal des Versäumens, aber auch ein denkwürdiges Versprechen, der Rock gewordene Traum vom richtigen Leben. Er war für mich ausgesucht worden, der Bezug zwischen ihm und mir war nicht zufällig, auch wenn er nicht paßte. Ausgerechnet meine Familie, die sich vom Widerstreit meiner inneren und äußeren Person keine Vorstellung machte, hatte ihn für mich von der Stange genommen. Der ist was für …, hatten sie gesagt. Auf einer sprachlosen Ebene verstanden sie mich doch. Sie ahnten, daß ich mehr war als die Summe meiner Teile.

Ein Beweis für meine mangelhafte Verankerung im Leben, mein beschädigtes Verhältnis zur Welt war meine fehlende Sammelleidenschaft. Andere sammelten Briefmarken, Kunstpostkarten, Fußkettchen, ausländische Münzen, Gürtel, Schuhe, ich sammelte nichts. Ihr Leben hatte einen albernen, beschränkten Sinn, meins keinen. Als wunderbaren Fortschritt, aktive Heilung empfand ich es, wenn es mir gelang, mein Herz auch einmal an etwas zu hängen, woran ich denken, was ich in verschiedenen Exemplaren besitzen, was ich womöglich tragen, in jedem Fall aber betrachten konnte. Ich fand Gefallen an einer Bluse, die in so reizenden Variationen existierte, daß ich beim ersten Kauf Mühe hatte, mich für eine einzige zu entscheiden. Sie war teuer genug, um die Sammelwut in Grenzen zu halten, aber nicht so teuer, daß sie nicht immer wieder angestachelt wurde. Die Blusen, die ich liebte, waren aus einem zarten Liberty-Stoff mit kleingemusterten Blümchen gefertigt, und ich lernte ihretwegen sogar bügeln. Meine erste Bluse war im Ton dunkelgrün, eine Farbe, zu der ich, auf Blau oder existentialistisches Schwarz abonniert, keinen Bezug hatte. Überhaupt paßten alle Blusen auf irgendeine Weise nicht zu mir, zum Beispiel die in beige, die mich blaß machte und meine Haare fahl, oder die dunkelgrüne, die die Farbe förmlich aus mir, die hellblaue, deren Farbe ich förmlich aus ihr heraussog, so daß sie vom ersten Tag wie ausgewaschen wirkte. Offensichtlich hatten sie nicht mich zum Modell gehabt, vielleicht niemanden, aber alle waren sie an sich herrlich. Ich liebte sie wegen ihrer Unabhängigkeit und trug sie meist unsichtbar unter meinen Pullovern, so daß nur der Kragen hervorlugte. Als die erste nach Jahren an den Nähten einzureißen begann, ein sicheres Zeichen für Verschleiß, fühlte ich mich verlassen, wie gestorben. Als sie eine nach der andern zerrissen, verlor sich meine Leidenschaft. Die letzte, die man noch hätte tragen können, von einem nächtlichen Blau mit getupften Röschen oder Wölkchen, verschenkte ich. Als ich Jahre später von neuem nach ihnen Ausschau hielt, hatte der französische Hersteller das Design geändert und bevorzugte Spitzenvolants und Rüschen.

Manchmal passierte es, daß ich etwas wegwarf, das noch nicht zerschlissen war. Ich hatte es schon so lange, es wollte nicht kaputtgehen, und es steckte soviel von meinem Leben darin, daß ich es nicht mehr anziehen konnte. Ich warf es weg, in der vagen Hoffnung, ein Gott würde mich erhören und mir an Zukunft erstatten, was ich an Vergangenem beseitigte. In der Regel ging die Sache übel aus; ich erkannte, daß ich das Lebendige weggeworfen und das Tote behalten hatte. Da ich wegen einer sich entwickelnden Kaufhemmung immer nahe am Mangel lebte, mußte ich einkaufen gehen, meines wichtigsten Beweismittels, des einzigen Kleidungsstücks, das mich zum Anspruchsberechtigten für nette Anziehsachen machte, beraubt. Während ich die fremden Sachen durchmusterte, die keinerlei Zeichen gaben, daß sie jemals meine werden könnten, spürte ich, wie die Reste meiner Lebendigkeit in mir erstarben. Ich ging eilends nach Hause, um etwas Unsterbliches zu leisten, wenigstens ein paar Pfund Weintrauben zu essen.

14 Kleidersorgen, Fortsetzung

Grundsätzlich paßten die Sachen, die ich liebte, nicht zusammen, behoben in ihrer beiläufigen Existenz auch keine Kleidernot und standen in krassem Widerspruch zu meinem Leben, in dem für solche Kinkerlitzchen kein Platz war. Was sollte ein Liberty-Blüschen mit flatternden Enden in einer Hose, die nicht bis über den Nabel reichte? Ich war da anders als die zierlichen Französinnen, die ihr Bäuchlein gürteten, so daß es hervorquoll, war es doch das Zentrum ihrer Vitalität. Ich liebte meine Sachen um so mehr, je weniger Ansprüche sie auf unmittelbare Lebenshilfe machten, sich vielmehr selbst als Problem entpuppten. Sie waren ein Teil von mir, nicht meiner Bekleidung, Träger meines Wesens und meiner Möglichkeit, kurz meiner Bestimmung.

Manchmal trug ich über Jahre Häßliches, das auf den Namen »strapazierfähig« hörte und schon deshalb ewig getragen werden mußte. Oder ich kaufte Knall auf Fall, was »man derzeit trägt«, suchte ein »Bekleidungshaus« auf und ließ mir zum Beispiel einen Mantel verkaufen, aus groben Karos. Er war auf der letzten Modemesse geordert worden, wie mir die Verkäuferin versicherte, und ich zog ihn zur Beerdigung meiner Großmutter an; denn eins war mir so fremd wie das andere, und ich hoffte, er würde mich passend machen. Er war so häßlich, für die Augen zugleich so verwirrend, daß sich die Leute in den Kirchenbänken hinter mir nicht auf die Trauerfeier konzentrieren konnten und eine Bekannte sich später bei meiner Mutter beschwerte.

Eine kurze Zeitspanne trug ich Sachen meiner Mutter auf; wenn sie sich von meinem Vater zu einer kostspieligen Anschaffung hatte bewegen lassen, die allein schon durch ihren Preis unvergänglich war und, wie ich gegen allen Augenschein entschied, einfach schön sein mußte. Ich war schon nicht mehr jung und sah darin noch zehn Jahre älter aus, keineswegs wohlhabend, vielmehr verhärmt.

Aber auch bei mir gab es eine Zeit, wie ich sie bei meiner Schwester so bewundert hatte: wo alles paßte, die Haare sich übermütig kringelten und mir ein reizendes Lächeln attestiert wurde, ein freier Blick, der anderen Mut machte. Ich kaufte mir einen finnischen Regenmantel aus schonungslosem Plastik, in himmlischem Rosa, und in der Boutique neben der esoterischen Buchhandlung gleich zwei Kleider auf einmal, das eine gefiel mir, das andere paßte zu mir; es war ein Mantelkleid aus braunem, stabilem Stoff, schlicht, wie meine Mutter zu sagen pflegte, mit einer gewollt kitschigen goldenen Borte als Verzierung. Ich mochte Braun nicht, Gold ebensowenig, aber das Kleid stand mir. Vielleicht wird es mir ja noch gefallen, dachte ich und zog es noch am selben Abend zu einer Party an, und ein Kommilitone, den ich bislang eher von weitem bewundert hatte, küßte mir die Fingerspitzen und nannte mich eine schöne Frau.

In einer Seitenstraße vom Kurfürstendamm probierte ich schließlich einen schwarzen Trägerrock an, ein Modell von Courrèges, der den weiblichen Formen mit geometrischer Strenge begegnete und das Automatenhafte des Roboters, der Marionette betonte. Obwohl der Rock für mich viel zu teuer war, verließ ich den Laden beschwingt. Er hatte mir nicht nur gestanden, er hatte zu mir gepaßt, die Verkäuferin fand das auch. Ich hätte stundenlang vor meinem Spiegelbild verharren und die Träger betrachten können, die vorn an keinen Latz anknüpften, sondern direkt am Rockbund befestigt waren, auch hinten nicht kreuzweise, sondern senkrecht über den Rücken führten, was sicherlich riskant war, aber die Linienführung unterstrich. Bestimmt würden sie über die Schultern hinabgleiten und müßten aufgefangen und wieder hochgestreift werden, so wie man sich die Haare aus der Stirn strich. Ich sah kein halbfertiges Mädchen, sondern die Idee einer jungen Frau. Auf der geistigen Ebene, um die es freilich zu kämpfen galt, paßte auch physisch alles zusammen. Ich war nicht allein in diesem Kampf, Courrèges hatte mitgedacht

Es war schon dunkel, als ich aus der Boutique trat. Vorweihnachtszeit. Der Rock war aus einem weichen und kräftigen Stoff gewesen, er hätte mich gewärmt. Ich hätte ihn kaufen können, auch wenn es Wahnsinn gewesen wäre und ich nichts hatte, was ich zu ihm tragen konnte. Ich hatte genug Geld gespart. Ich hätte ihn angezahlt und den Rest am nächsten Morgen von der Bank geholt. Ich kaufte ihn trotzdem nicht, wohl weil er nicht hätte halten können, was die Anprobe versprach; zuviel war dabei, was nicht in sein Ressort fiel. Daß wir zusammenpaßten, nahm ich als ein Zeichen der Vollkommenheit, die in mir angelegt war. Nicht einfach Schönheit – obwohl mir Verehrer von Blond und Blauäugig, auch von einer hohen Stirn, die ihrer Ansicht nach auf Verstand oder Rasse deutete, das gelegentlich zu vermitteln suchten –, auch nicht Geist, sondern eine Vollkommenheit, auf die die albernen Kleider in ihrer beiläufigen Existenz genauer hinwiesen als mein unbeseelter Körper; denn so sehr war ich durch die katholische Erziehung geprägt, daß ich mir den Geist nicht ohne Materie denken konnte. Er war es, der alles durchdrang und ins Licht rückte; aber ohne Materie war er nichts. So, übrigens, stellte ich mir auch die Liebe vor.

15 Kleidersorgen, Schluß

Zwischen den blauen und den grauen Flanellrock, den nicht gekauften Trägerrock, den schilfgrünen Häkelrock, den italienischen Rock aus gestreiftem Markisenstoff, den mausgrauen Strick-, den englischen Wickelrock schob sich ein knöchellanger Rock aus unverwüstlichem Tweed, den meine Schwiegermutter für mich als junge Frau genäht hatte, froh, für ihn eine angemessene Verwendung gefunden zu haben; denn er war wertvoll wie alle Stoffe, die sich in ihrem Schrank stapelten, und sie brauchte ihn so wenig wie die andern. Obwohl ich kein Verhältnis zu ihm gewann, beeilte ich mich mit dem Auftragen. Aber das war ein Kampf, den ich nur verlieren konnte; denn er war haltbarer als ich. Er hielt mich warm, vor allem in dem Winter, in dem ich mit meinem Verlobten eine Wohnung suchte, durch kalte Treppenhäuser treppauf, treppab stieg, und wer weiß, vielleicht verdankten wir es seinem soliden Aussehen, daß wir eine bekamen. Mein Mann hatte gegen den Rock von seiner Mutter nichts einzuwenden. Ich liebte zwar den Stoff, der an einen Teppich erinnerte und nach einem ausgestellten Rock schrie, der so kurz wie dick war und von selbst stand. Wenn ich ehrlich war, hatte ich noch nie einen so kostbaren Stoff besessen. Aber was hatte sie aus ihm gemacht? Ein Futteral, das über den hohlen Schienbeinen seltsam abstand, gerade so, als wollte es beben, aber es bebte nicht. Ich erschrak, wenn ich mich in einer Schaufensterscheibe sah. Dieses mißproportionierte Wesen sollte ich sein, dieser wandelnde Schlauch? Für meinen Abiturball hatte ich mir seinerzeit auf Empfehlung der Friseuse Schleifen ins Haar machen lassen, die mich ähnlich entstellten wie jetzt der Rock. Im Verein mit meiner harten Brille verliehen sie mir das Aussehen einer alterslosen Postbeamtin. Auf dem Ball hatte ich festgestellt, daß die Verkleidung unangemessen und überflüssig war. Nicht nur paßte sie nicht zum festlichen Anlaß, wie mir die Friseuse versprochen hatte, weniger als von jedem anderen hätte man von mir eine festliche Frisur erwartet. Ich galt als unabhängiger Geist und füllte im Klassenspektrum die entsprechende Lücke aus. Daß ich den Platz räumte, um mich den andern zuzugesellen, den Mädchen aus Vollmerhausen und Ruppichteroth, wurde gerade von diesen befremdet aufgenommen. Nicht nur, daß sie nicht halb so mißglückt aussahen wie ich, bei einem so wichtigen Ereignis wie dem Abiturball, das die neunjährige Schulerfahrung bündeln sollte, hatte ich versagt.

Den Rock meiner Schwiegermutter trug ich noch nach Jahren, in eiskalten Wintern, in denen ich den einen, dann den andern Kinderwagen schob. Als ich ihn schließlich in die Kleidersammlung gab, war er immer noch ansehnlich, wenn auch im ganzen nachgedunkelt, und ich hoffte, eine Obdachlose würde mit ihm glücklich werden, plagte mich aber mit Gewissensbissen, weil ich in den natürlichen Rhythmus eingegriffen und seinen Verschleiß nicht abgewartet hatte. Kaum war er weg, stellte ich mich als der Schwächere von beiden heraus. Ich trauerte ihm nach. Er war mir eine Hilfe in den Zeiten gewesen, in denen das Geschlecht in mir verschüttet war. Das kam immer wieder vor. Ich konnte kein Mädchen sein und probierte es deshalb mit der Frau, oder aber ich war keine Frau und mußte mich deshalb mit dem Mädchen behelfen; in meinem Schrank verwahre ich stets mindestens ein häßliches Stück, das trage ich zur Schonung der andern Kleider, aber auch meiner Mädchennatur.

Als Schülerin zog ich mich um, kaum daß ich nach Hause gekommen war. Ich fiel buchstäblich aus meinen Kleidern. Mit dem Zehentrick entledigte ich mich meiner Schuhe und schlüpfte in die alten Sandalen. Meine Füße begrüßten sie wie langentbehrte Verwandte. Auf der Treppe nach oben öffnete ich den Reißverschluß meiner Hose wie ein Mann, der nur sein Bedürfnis im Auge hat, und ich hatte mein Zimmer kaum betreten, schlüpfte ich in die alte Hose; ursprünglich chic und modern, aus einem jeansartigen, glänzenden Stoff, mit Beinen im neuerfundenen Siebenachtellook, war sie zur Haushose herabgesunken. Ich trug sie schon so lange, daß sie Persönlichkeitsmerkmale von mir angenommen oder ich Eigenschaften an sie abgegeben hatte. Zwischen sie und mich paßte das berühmte Haar nicht. Nach Jahren unermüdlichen Gebrauchs hatte sie entschieden gelitten. Ich strapazierte sie zusätzlich dadurch, daß ich mit Kugelschreibern auf ihrem metallischen Blaurot herummalte, wie jemand, der sich tätowiert. Die Putzfrau, die seit vielen Jahren zu uns kam und für die wir eigens aufräumen mußten, warf das Gelumpe, wie sie zu meiner Mutter sagte, in den Mülleimer. Aus Angst vor mir, wie sie mir später erzählte, eilte meine Mutter zur Garage und holte die Hose aus der Mülltonne und legte sie wieder in mein Zimmer.

Auch das braune Kleid war haltbar, und ich trug es jahrelang. Es war nicht häßlich, so wie jener Rock, der ja ebenfalls nicht häßlich, aber wie für eine andere Frau gemacht war, und es paßte zu mir. Es war vielleicht ein bißchen häßlich, schon weil es im Verhältnis zu seinem genialen Schnitt, halb Mogelpackung, halb heiliger Schrein, enorm preisgünstig war. Andere nahmen es wohl nicht so genau, jedenfalls habe ich nie jemanden getroffen, der mich auf den falschen Glanz dieses Kleides hin des schlechten Geschmacks geziehen hätte. In anderen Fällen ja, zum Beispiel wenn ich mir die Lippen schminkte und die Augen nicht; umgekehrt wäre ein Schuh draus geworden. Mein älterer Freund, in dessen Abwesenheit ich die beiden Kleider erstanden hatte, freute sich über ihre klare, wie er fand weibliche Aussage und warf mir gleichzeitig einen verschmitzten Blick zu, der andeuten sollte, daß er den Zusammenhang zwischen ihrem Kauf und seiner Abwesenheit erriet: ich wollte mich emanzipieren. Er selbst hatte so erfrischende Weiblichkeit, wie sie sich in einer Goldborte ausdrückte, nie bei mir hervorgelockt, auch schon lange nicht mehr bei mir gesucht. Vielleicht stand etwas bevor, er hoffte, daß es mit ihm zu tun hatte; wenn es um Weibliches ging, würde er davon profitieren. Ob es an dieser Gewißheit lag, daß ich mich auf eine Art von ihm trennte, die selbst in diesen leichtfertigen Zeiten als verantwortungslos kritisiert wurde? Ich hätte den ganzen Tag vor mich hingepfiffen, warf mir eine Freundin vor. Von nun an hatte ich einen Charakter, galt als roh, trotz meiner zarten Statur, und wer sich mit mir einlassen wollte, mußte für meine Roheit Sinn haben.

Nach meiner Trennung von ihm kaufte ich mir ein dunkelblaues Strickkleid, das meine Handgelenke betonte; meine Mutter hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß sie mir mit ihnen etwas Kostbares vererbt hatte. Ich ließ es kürzen, weil ich mit der neuen Länge nicht zurechtkam, und als ich dem ehemaligen Freund auf der Straße begegnete, lächelte er anerkennend, was um so erstaunlicher war, als er meinen Schritt krummgenommen hatte; aber sein Lächeln galt nicht mir, sondern meinen Beinen. Es war ein ganz normales Kleid für eine zierliche junge Frau, und es stand mir. Die Verkäuferin hatte sich über das Kleid gewundert, daß es so gut zu mir paßte, nicht über mich; sie war eben professionell. Nicht ohne schwere Kümmernisse trennte ich mich Jahre später, als es schon lappig herunterhing, von ihm wie von meinem besseren Teil.

Manchmal kaufte ich mir nach der Geburt eines Kindes etwas Neues. Die Freude, unter dem »Normalen« auswählen zu können, überwand die Hemmung. Paradoxerweise arbeitete jede Geburt, anstatt mich der Reife entgegenzutragen, desto entschiedener das junge Mädchen heraus. Je mehr ich mein Kind liebte, desto mehr glich ich ihm, hätte mir am liebsten Spielhöschen und Schlupfhemdchen gekauft. Indem ich mich von der Geburt erholte, besann ich mich auf das junge Mädchen, das ich vor der Schwangerschaft gewesen war, aber so, wie es im Ausweis stand: Geschlecht weiblich, als Merkmal, nicht als Verhängnis. Die Frage der Identität kam mir nicht mehr so dringlich vor. Wer weiß, ob ich jemals eine Frau wurde. Ich war ein leidenschaftlicher Mensch, soviel hatte ich herausgefunden. Vielleicht war es wichtiger, einen Trieb als ein Geschlecht zu haben. Trotz aller Verstörung war ich nicht bar jedes Verstands. Ich hatte Kinder. Das bewies, ich setzte nicht alles auf eine Karte.


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