Ilse Bindseil

Späte Erzählungen

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Doppelte Begegnung

A LA FIN DE JUIN 1428<br />ENTRE LA CAMPAGNE DE LA LOIRE ET LA MARCHE SUR REIMS<br />SAINTE-JEANNE D’ARC VINT A SAINT-BENOIT-SUR-LOIRE<br /> EN COMPAGNIE DE CHARLES VII<br />« Là, le Roi eut pitié d’elle pour les fatigues qu’elle endurait et lui recommanda de se reposer. Alors Jeanne répondit au Roi <em>en pleurant</em> qu’il ne fallait pas qu’il doutât car il recouvrerait tout son royaume et serait couronné sous peu. » (Déposition de Simon Charles au procès de réhabilitation.)

Ende Juni 1428, zwischen dem Loire-Feldzug und dem Marsch auf Reims, kam die Heilige Johanna mit Karl VII. nach Saint-Benoît-sur-Loire, einer, wenn die Mücken nicht stachen, paradiesisch gelegenen und überaus heiligen Abtei mit dem mädchenhaften Namen Fleury, die die Reliquien des Hl. Benedikt barg, dieses Großen der Christenheit. Im kühlen Schatten des Heiligtums, das aus soliden romanischen Steinen erbaut war, kam es zu einem Zwischenfall, einer unverhofften Begegnung, die diese Bezeichnung verdient, auch wenn die Beteiligten seit Wochen ununterbrochen beieinander gewesen waren. Denn was sich bei diesem Zwischenfall offenbarte, war nicht nur nichts weniger als militärischer Natur, es war auch, in diesem Zeitalter, über das der Pesthauch der Psychologie noch nicht hinweggeglitten war, von feinsinnigster psychologischer Natur, ein rechtes Psychodrama, mehr noch: ein Augenblick des Miteinander oder, wie wir heute sagen würden, der Empathie.

Sie merken schon, ich verberge meine Rührung hinter glatten Worten, auch dafür taugt die Psychologie.

Erfrischt von der Kühle, die die Kirche spendete, beruhigt, ja besänftigt durch die strenge Ordnung des romanischen Baus, dem weder an künstlichem Dunkel noch an gezierter Selbstliebe etwas lag, liebkost von dem glatten Stein, an dem die Hand hinauf- und hinunterwandern, die erschöpfte Stirn sich kühlen konnte, spürte der König ungeahnte Kräfte. Dabei fühlte er sich keineswegs besonders stark, vielmehr bekam er, wie wir heute sagen würden, den Kopf frei für anderes. Kam hinzu, dass seine Kampfgenossin im blassen Licht, das durch die schmucklosen Scheiben fiel, zarter als gewöhnlich aussah. Sie war ja ein Kind der frischen Luft, und das Gedämpfte des sakralen Baus, der den Glanz der äußeren Welt brach, um ihn im Innern neu erstehen zu lassen, nahm ihrem Teint die Farbe und vertiefte die Schatten unter ihren Augen, die wie von unbedachter Tusche hingemalte Höhlung ihrer Wangen. Kurz, zum ersten Mal auf dieser langen Reise kamen dem König die Strapazen des Feldzuges zu Bewusstsein, der hinter ihnen lag, und ihm fiel auf, dass seine Gefährtin müde aussah.

Ruh dich aus, sagte er und ergriff unwillkürlich ihre Hand und ließ sie die kühle Glätte der Säule fühlen, an der sie lehnten. Indem er seinen Blick wie suchend durch das Kirchenschiff schweifen ließ, dessen Strenge durch das ins freundliche Grau changierende Weiß der Steine gemildert wurde, lenkte er auch ihren bis ganz hinauf zu den zart gewölbten Verstrebungen, die, für den Verstand ein rechtes Wunder, das Offene des Himmels in den geschlossenen Raum hineinholten, auf dass er ein Dach habe.

Wie gesagt, das konnte eigentlich gar nicht sein, aber es war so, und auch die junge Hirtin, die an Innenräume wenig gewöhnt war, die einen Unterstand für ein Haus hielt und »la chapelle« für den heiligsten Ort der Welt, auch sie spürte es. Sie traute es sich kaum zu denken, geschweige denn zu sagen, aber indem sie ihren Blick zum Gewölbe empor richtete, da kam es ihr vor, als wäre sie in eine neue Dimension geraten. Sie war ja ein einfaches Mädchen, dessen Urteil, wenn wir es mit Wohlwollen analysieren, dem schlichten Prinzip des Entweder-oder folgte. »Ich bin aufs Fahrrad gestiegen und auf dem Mond gelandet«, so ungefähr hätte sie sich ausgedrückt oder, näher an den Tatsachen: »Ich kam von draußen herein und war wieder – draußen!« Wie hatte der Pfarrer Sonntag für Sonntag von der Kanzel gepredigt? »Himmel oder Hölle – tertium non datur!«

Dieses Draußen war von anderer Art als das andere. Um es wenigstens mit einem Wort anzudeuten: Soviel Drinnen hatte Johanna noch nie erlebt. Nur ungläubig hatte sie von Kathedralen gehört, die so groß waren, dass sie Läden und Behausungen beherbergten, die größte gar nicht so weit von ihr. Wie alle Kleingläubigen hatte sie das Ungeheuerliche ins Gegenteil gewendet: Wenn es denn so war, dann war es auch egal, ob draußen oder drinnen, es kam aufs Gleiche hinaus.

Das hier aber war etwas anderes: als hätte man aus dem Souk die Händler, aus dem Palast den König vertrieben, damit, nun ja, sie eintreten konnte.

Johanna überlief ein Schauer, denn natürlich hätte es heißen müssen: damit Gott eintreten konnte. Aber da war kein Gott, und trotzdem war er da. Weil er nicht da war, war er da, und das brachte sie unversehens auf das Wunder zurück. Denn Mirakulöses war geschehen, seit sie sich aufgemacht hatte, dem König zu helfen und Frankreich zu einen, und wenn es ihre Aufgabe gewesen war, das Wunder in eine handfeste Strategie umzuarbeiten und den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren, so war es eben die umgekehrte Aufgabe des Baumeisters gewesen, aus Steinen und Streben ein Wunder zu zaubern, und natürlich aus Glas.

Johanna, Baumeisterin Frankreichs? Sie hätte gelacht, wenn man sie so genannt hätte. Schwert, ja, durch das Schwert sprach Gott. Baumeister – wie mit Absicht ließ sie die Endung weg – nein. Um eine Kathedrale zu erbauen, musste man sich bis zu Gott vorgearbeitet haben. Das Schwert war scharf, aber Gott fuhr wie ein Blitz hindurch, man musste nicht nachdenken.

Johanna, das Schwert. Es ging nicht an, dass der König ihr Ruhe empfahl. Wenn man die unnütze Psychologie beiseiteließ, dann konnte seine Rücksichtnahme nur bedeuten, dass er zweifelte. Nicht an ihr, du lieber Gott, auch nicht an sich, sondern am Unternehmen selbst, für dessen glücklichen Ausgang sie nur indirekt oder äußerlich verantwortlich waren. Sie waren ja nur Symbole, er der Kopf, auf den die Krone gesetzt wurde, sie das Schwert. Beides war nicht ohne Risiko. Hieß es nicht: »Dass er dürfe keiner Krone, machten sie ihn Köpfes ohne?« Welches Sprüchlein würde bei ihr zur Anwendung kommen?

Symbol, das sie war, durfte sie nicht müde sein, und sie durfte – o Schreck! – auch nicht weinen. Ich sage »o Schreck!«, denn der König, der noch immer ihre Hand hielt, spürte die seine feucht werden, was sage ich, nass, und da Johanna, um seinen Zweifel zu bannen, den Blick auf ihn gerichtet hielt, ihm mitten ins Gesicht, erkannte er auch den Ursprung der plötzlichen Nässe bei strahlendem Himmel. Aus ihren Augen quoll es auf Deutsch, es regnete, en pleurant, auf Französisch, und er fühlte sich seltsam unbehaust, merkwürdig kalt, so als wäre die Nässe durch seinen derben Anzug schon bis nach innen gedrungen. Aber vielleicht lag das auch daran, dass er aus ihrem Gestammel das Wort »Krone« heraushörte; Metall ist kalt. Dass alle Tränen der Welt, selbst solche, die ein junges Mädchen zur Verfügung hatte, nicht ausreichen würden, um das Feuer zu löschen, in dem sie als Hexe verbrannt wurde, das konnte er ja nicht wissen; sagen wir es so, daran konnte er noch nicht denken. Und es war auch egal.

Hier könnte die Geschichte enden, bliebe nicht die Frage, die nicht erst den modernen Zeitgenossen quält, warum Johanna weinte. Weil sie erschöpft war, sagt der König, voller Stolz darauf, dass er es als erster gemerkt hatte und noch bevor die Tropfen fielen. Laut seiner Darstellung hätte sie zuerst geweint und er ihr sodann Erholung angeraten. Nimm eine Auszeit, Johanna, hätte er gesagt und die Hand des Mädchens gedrückt, du siehst ja, es wird dir alles zu viel. Er hätte mit seinem Arm eine die ganze Kirchenwelt umfassende Bewegung gemacht, um ihr zu bedeuten, dass auch der Ort nicht besser gewählt sein konnte.

Aber in je rosigeren Farben der König ihr die Annehmlichkeiten der Auszeit schilderte, desto heftiger hätte Johanna geweint. Sie hätte sich gar nicht beruhigen können, Sie wissen ja, einmal die Schleusen geöffnet und so weiter. Sie selbst hätte wohl eher gemeint, sie habe gespürt, dass die Fürsorge des Königs Krone und Königreich gefährdete. Denen hätte sie zugewandt bleiben sollen, wenn auch in anderer, militärischer Form. Denn nur eine Fürsorge gibt es, unter dieses Motto war Johannas Leben gestellt, und man kann sie nur einmal verwenden.

Auch mir liegt ein »weil« auf der Zunge, die ich mir schon blutig gebissen habe, denn nie ist es der rechte Ort oder die rechte Stunde, aber heraus und die hohe Stimmung verderben muss es doch. Bereits Johanna bekam zu spüren, was es mit der Sicherheit auf sich hatte, die der Kirchenschoß gewährte: auf dem Scheiterhaufen brannte sie lichterloh. Jahrhunderte später griffen sich die Nazischergen mit dem Dichter Max Jacob ausgerechnet den glühendsten Verehrer der Abtei heraus, der in Fleury Zuflucht vor seinen inneren Teufeln gesucht und auf die wirklichen Teufel nicht achtgehabt hatte. Man kann eben nicht an zwei Fronten zugleich sein, siehe Johanna.

Wer noch nicht genug geweint hat, kann den idyllisch gelegenen Friedhof am Rande des Ortes aufsuchen, auf dem er begraben und mit einer Gedenktafel an der Friedhofsmauer geehrt wurde, auch er ein Chevalier, »mort pour la France«. Kann sich an der vertrockneten Rose zu Füßen der weißen Marmorplatte erfreuen, die ein weltliches, um nicht zu sagen politisches Element in das mystische Gedenken hineinträgt und den Dichter in den Kreis derer zurückstellt, zu denen er gehört. »N’oubliez pas la date de ma mort«, bittet er in goldgeprägten Buchstaben, vergesst nie diese finstere Zeit. In Gedanken kehre ich nach Fleury, zu jener denkwürdigen Unterhaltung zwischen Johanna und ihrem König zurück, in der nichts mit rechten Dingen zuging und doch alles geklärt wurde. Nach Saint-Benoît, da möchte ich wieder hin, am Ufer der Loire möchte ich mein Zelt aufschlagen.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt30_01.html.

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