Ilse Bindseil

Späte Erzählungen

Zum Inhaltsverzeichnis


Stille Tage in Arcis

Da wo die Aube – wie darf ich das verstehen: Da oder wo? Weiß ich schon, wo, und darf da sagen, oder kann ich nur wo fragen und muss hoffen, dass jemand anders mit da antwortet? Bei meinem schwierigen Unternehmen zu erzählen, was an den Ufern der Aube geschah, wäre er mir in jedem Fall eine Hilfe.

Nur die knappe Hälfte dessen, was ich erzählen will, hat sich an den Ufern der Aube ereignet. An der Aube schon, aber nicht an ihrem Ufer. Um zu verdeutlichen, wo im genauen Sinn, muss ich noch einmal und mit einem anderen Fluss beginnen. Nicht so schlimm, sage ich mir. Denn selten ist mir ein Anfang so missglückt. Warum es also nicht noch einmal probieren? Wie sagt Peter Hacks, der Dichterkönig? »Das ist der reinste Unsinn, Mann, ich fang noch mal von vorne an.« Dass ich kein Mann bin, könnte man als den Grund all dessen betrachten, worum es geht. Ich kann nur sagen: ein vielschichtiger Grund. Aber mit dem Anfang hat er wenig zu tun.

Da wo, also. Wo nämlich in Paris die Seine die Ile St Louis und die Ile de la Cité umschlingt, da teilt sich in Arcis die Aube, um ihrerseits eine baumbestandene und von den tosenden Wassern gleich zweier Wehre umgebene Insel in ihre Arme zu nehmen. Eine Oase bildet diese Insel mitten in der Wüste und nennt sich Cherlieu, was soviel bedeutet wie mein teurer, mein lieber, lieber Ort. Die Wüste, das ist die eine Hälfte der Champagne, die la Champagne pousilleuse geschimpft wird, die lausige Champagne. Nicht treffender könnte sie heißen. Mit ihren unabsehbaren Äckern, den in den Himmel gezeichneten Silos, diesen Kathedralen der Landwirtschaft, ist sie lausig in einer wahrhaft religiösen Dimension, denn man sieht das Ende nicht, also, folgert man unwillkürlich, muss man tot sein. Wenn zur Erntezeit wirbelnde Staub- oder Brandwolken dem Autofahrer lebensgefährlich die Sicht nehmen und die Feuerwehr zum Löschen des Brandes gerufen wird, der von niemand anderem als von ihm, der die Kippe achtlos aus dem Auto geworfen hat, fahrlässig verursacht worden ist, dann kann man sogar den Eingang zur Hölle erkennen, und der fromme Kreis schließt sich.

Wie ich schon sagte, einen schöneren Platz als Cherlieu gibt es nicht, auch keinen kostbareren, sofern Wert sich nach Seltenheit bemisst. Weit und breit ist er der einzige grüne Fleck auf einer steingrauen Landkarte und steht nicht König und nicht Kloster, sondern ausgerechnet einem Campingplatz zur Verfügung, der sich genauso nennt, und warum auch nicht, könnte er doch schöner nicht heißen als die Insel.

Exakt da, also, wo in Paris Notre Dame ihre Arme in den Himmel reckt oder, nach meinem ganz persönlichen Blickwinkel, beide Vorderbeine in den Boden stemmt, duckt sich in Arcis manch altmodisches Zelt unter den Bäumen, und wenn der Sturm ungehindert über die Champagne fegt, da heißt es ebenfalls die Beine in den Boden stemmen, das Zelt gut anpflocken oder aber, wenn die Gefahr zu groß wird, in einem der leerstehenden Wohnwagen Schutz suchen.

2

Arcis sur Aube: daher der Name Bratkartoffel. Aber es ist nicht einfach, eine angemessene Vorstellung von dem kleinen Ort zu vermitteln, noch schwieriger von der komplizierten Übereinstimmung zwischen ihm und Paris. Sie verstehen schon: zu viele Bekannte ergeben auch ein Unbekanntes. Aber nicht weil Arcis achtlos in die Landschaft getupft wäre, tut man sich schwer, sondern wegen seiner inneren Form, der reinen Geometrie, nach der es erbaut ist und die mit seinem wüsten Äußeren nichts weniger als zusammenstimmt. Nehmen Sie zum Beispiel ein Kreuz oder, da wir in der Zeit des Verkehrs leben, lieber gleich eine Kreuzung. Zeichnen Sie das Koordinatensystem. Verschieben Sie die obere, ich könnte sagen die überirdische Hälfte der y-Achse nach links und Sie haben Arcis. An dieser Stelle nämlich erreichen Sie, von Troyes, der großen Stadt der Kreuzzüge, kommend, den Mittelpunkt des Städtchens, das ein Zentrum der Agrarindustrie und ein Kreuzungspunkt des Agrarverkehrs ist. Eine gefährliche Kreuzung findet sich in der Tat, wo die Route nationale auf die Départementale trifft, auch die ein bedeutender Verkehrsweg, der den Anschluss an die Autobahn sichert, die nur wenige Kilometer entfernt an der Stadt vorbeiführt und hinter Troyes in nördlicher Richtung als erste Ausfahrt Arcis signalisiert: Halten Sie de la monnaie, Kleingeld, bereit! Wie um die Kreuzung zu entzerren, tatsächlich aber aufgrund unverrückbarer Gegebenheiten, Kirche, Château und dahinter, nicht zu vergessen, die Insel, biegt man auf der Route nationale erst nach links auf die Départementale ein, ehe man nach wenigen Metern hinter der Kirche wieder nach rechts abbiegt, um über die Aube und an Cherlieu vorbei der speziell von Lastwagenfahrern bevorzugten kostenlosen Straße nach Norden zu folgen, erstes Ziel Châlons en Champagne, vormals sur Marne. Soviel zur Route nationale. Die Départementale, aber, oder x-Achse setzt ihren schnurgeraden Weg durch Arcis fort, an einer gigantischen Zuckerfabrik vorbei, stur in Richtung Westen.

Links rechts links, in jenem zur berüchtigten Rune stilisierten – S –, dessen flächiges Potential Sie, wenn Sie sich das Ganze aufzeichnen, sogleich erkennen. Denn wenn Sie einen Zickzackkurs einschlagen – die Gründe mögen lächerlich oder schwerwiegend, die Gegebenheiten bezaubernd oder geradezu nichtig sein –, dann entsteht eine Fläche, Raum für Bebauung. Wenn Sie den 45-Grad-Winkel einhalten, ergibt sich ein Rechteck. Wenn es um eine Stadt geht, ergibt sich ein Marktplatz. Ein Marktplatz in Form eines Rechtecks, mit allen Annehmlichkeiten, die ein solcher Platz auch außerhalb des Markttags zu bieten hat: Boulangerie, Epicerie, Café-Bar, Denkmal. Letzteres ist in unserem Fall keines der üblichen französischen Scheußlichkeiten, die an den ersten Weltkrieg erinnern. Eine Scheußlichkeit vermutlich auch, ich kann das gar nicht beurteilen, aber nach der Einsamkeit, die von der dunklen Gestalt ausgeht, wenn schon, dann eine nicht in der üblichen Weise bizarre, sondern verzweifelte Scheußlichkeit, gewidmet nicht dem unbekannten Soldaten, sondern dem bekanntesten Sohn der Stadt: Danton.

Danton, ausgerechnet Bananen.

Man hätte es übrigens auch dem Député d’Arcis widmen können, aber dann hätte man auf der Inschrift nicht die Lebensdaten des besagten Abgeordneten, sondern seine Herkunft aus einem nach ihm benannten Roman von Balzac zugeben und das Geständnis hinzufügen müssen, dass die Wahl des Ortes vom Autor willkürlich, wenn auch, füge ich nach meiner persönlichen Anschauung hinzu, gewiss aus Gründen einer höheren Übereinstimmung gewählt worden ist. Wie er denn aussehen sollte, ist damit noch lange nicht geklärt.

3

Ich bin nicht von dort und muss mich zurückhalten. Als ich in meinen letzten Ferien wie immer »Le Monde« und »Libération« kaufen wollte, wurde mir bedeutet, erstere gebe es nur noch an bestimmten Tagen, mit Beilage, letztere lediglich in der provinziellen Form von »Libé Champagne«, und der Blick unter hochgezogenen Augenbrauen verriet mir, dass ich mich mit meinem Wunsch politisch und damit auch als Kundin zur unerwünschten Person gemacht hatte. Unter merci, madame und au revoir, madame, bonne journée, madame, befremdlicher Weise nicht von der Verkäuferin, sondern von mir in den wie ausgestorbenen Raum gerufen, ergriff ich meine Zeitungen und begab mich ins Café an der lärmenden Kreuzung, dem urbanen Zentrum des Ortes, wo die leeren Lastwagen scheppernd um die Ecke bogen. Ich stopfte mir Reste meines gebrauchten Papiertaschentuchs in die Ohren und vertiefte mich in die Lektüre von »Libé Champagne« mit den schauerlichen Nachrichten von Hitzebränden in der Umgebung, den Verlusten der Bauern, und beschloss noch im Lesen einen Ausflug nach Troyes, nicht nur wegen der gigantischen Outlet-Center rund um den Ort, den berühmten verreries in der Kathedrale, den herrlichen Weintrauben im überdachten Markt, sondern auch um eine richtige Zeitung zu kaufen, die ich nach meiner Rückkehr bei einem petit blanc oder einem bis zum Überlaufen gefüllten Glas café glacé an der lärmenden Kreuzung genießen konnte.

Troyes – weil heute offenbar Wahrheitstag ist und die Fakten auf den Tisch kommen, die angekündigten und der Rest, sei es gesagt: Es ist für mich ein Ort nicht endender Enttäuschung, da ich in meiner angeborenen Abstraktheit das bräunliche, diagonale, in utopische Länge gezogene Champagne-Fachwerk zwar liebe wie nichts auf der Welt, unter dem überreichlichen Angebot in Troyes aber zusammenbreche, craquer wäre das richtigere Wort, denn bei ihm hört man es knistern. Ich kann mich noch so sehr bemühen, den Anblick zu genießen, und in der Tat bringt erst die schiere Menge die profunde Ungleichheit dieser aus lauter Geometrie zusammengezimmerten Bauweise zum Vorschein. Aber vor lauter Bäumen sehe ich den Wald nicht, oder vielmehr umgekehrt, den Balken nicht unter lauter Gebälk. Wenn ich die Augen schließe, um ein paar Takte an Troyes zu denken, sehe ich die überlangen Zigarettenspitzen der albernen Yuppies, die die Cafés im Parterre bevölkern und ihr Rauchwerk schräg in die Luft halten, so dass sie auf ihre Weise einen Teil der Architektur bilden. Ich könnte schwören, dass sie das mit Absicht tun, aber so narzisstisch, wie sie gestrickt sind, muss es ein Ding sein zwischen ihnen und der Stadt. Da kommt kein Außenstehender rein, nur weil er etwa ihr Fachwerk liebt.

Den wenigen Deutschen, die noch nicht in Troyes gewesen sind, sich von meiner seltsamen Kapitulation vor dem geballten Gegenstand meiner Sehnsucht aber eine Vorstellung machen wollen, empfehle ich für einen Vergleich: Goslar. Was zu reichlich ist, ist eben zuviel. Ich sage nur: Grenznutzen. Was ist das Ensemble einer wohlerhaltenen mittelalterlichen Stadt gegen eine einzelne, auf einsamem Feld stehende, aber mit dem Ehrgeiz eines Erbauers von Kathedralen errichtete Scheune aus Fachwerk, hellbraun, diagonal und, mit einem Wort, sublim!

Zurück zu Arcis. Arcis sur Aube beziehungsweise, in seiner angeborenen Schreibung, s/Aube.

Da ich ein Lärmflüchter allererster Ordnung bin, den bereits der nachbarschaftliche Staubsauger oder Fernseher in die Flucht schlägt, habe ich mit Lärm erst in Arcis detailliertere Erfahrungen gemacht, zum Beispiel dass man in ihn hineingehen kann. Im Zentrum der Beschallung ist es so leise wie in einer Kirche. Ich habe auch die sonderbare Stille zwischen den LKWs schätzen gelernt, die tags und nachts durch den Ort scheppern, wobei Schätzen das falsche Wort ist, denn diese unerhörte Stille abzuschätzen war eben nicht möglich, und es war auch nichts an ihr, was auf ein Ende deutete. Ich ließ die Stille sich in mir ausbreiten und hätte mir nicht ausdenken können, was sie unterbrechen konnte, da brach es nach nicht mal einer Minute, ach was, einer halben, aus ihr heraus und stellte alles in den Schatten, was ich bislang zu ertragen gehabt hatte. Sträube dich nicht, das hört wieder auf, sagte ich mir und versuchte, eine Melodie im Wechsel zu finden. Stell dich nicht gegen die Strömung, sagte ich mir, und wiegte den Oberkörper.

Es kam ein ganz anderes Geräusch hinzu, das mich Tag und Nacht begleitete, nachts aber wie aus dem Himmel kam. Beiläufig sei erwähnt, dass ich auf dem Zeltplatz nächtigte, denn das ist ja der Plot. Vom Turm der Kirche, die sich auf der verschobenen Kreuzung befand, in unmittelbarer Nachbarschaft des Campingplatzes, meinem Café direkt gegenüber, erklang zu jeder Viertelstunde in aufsteigender Sequenz eine Tonfolge, die sich erst zur vollen Stunde rundete, so dass ich sie im Geist ablegen konnte, bis dahin aber und nachdem die halbe Stunde bereits eine vorübergehende Erleichterung gebracht hatte, wie ein Flitzebogen gespannt blieb, erst süchtig nach Auflösung und, wenn diese erfolgt war, ebenso süchtig nach Wiederholung.

Ti ta ti ta, sagte die Viertelstunde, ta ti ti ta, setzte die halbe noch eins drauf. Ti ta ti ta, fuhr die Dreiviertelstunde auf einer tieferen Skala fort und löste sich zur vollen auf: Ta ti ti ta.

Haben Sie es verstanden? Daß die Sequenz der Viertelstunde vier, die der vollen sechzehn Töne umfaßte? Haben Sie das verstanden?

Ich erspare Ihnen die vollständige Sequenz, zumal ich die Tonhöhen nicht modulieren kann. Das Druckbild wäre zu armselig. Aber wenn Sie den ganzen Verlauf aufzeichnen wollen, dann müssen Sie zu jeder Viertelstunde bei Null anfangen. Ti ta ti ta, zur ersten Viertelstunde, ti ta ti ta, ta ti ti ta, zur halben, na, und so weiter. Das Ganze in einem hellen Format, so zwischen Glockenklang und Glockenspiel, zwischen Telemann und Haydn, aber mehr zu Telemann, also ebenfalls eine Spur scheppernd, aber ganz zart.

Ich kann Ihnen nur versichern, hier finden Sehnsucht und Erfüllung, Paradies und Droge zueinander, erklärt sich eins aus dem andern.

Ich gehe ins Café, um zu meditieren, hätte ich sagen können, während ich heuchlerisch die Zeitung umblätterte. Ich hätte es freilich anders ausgedrückt:

Ich will dem Geheimnis nahe sein.

Nachts war ich ihm näher? Ja und nein. Zwar schlief ich nicht, denn nie war der Klang des Glockenspiels reiner. Seltsam flachgelegt, wie es im Minizelt unvermeidlich ist, das eine Ohr gegen den Erdboden gedrückt, um das Nahen trappelnder Hufe nicht zu versäumen, gab ich die Überwachung des Terrains doch bald auf, und drehte mich auf den Rücken. Sollen sie kommen, dachte ich, ich will noch ein wenig lauschen.

4

Aber man denke nicht, dass dies in vollkommener Stille geschah. Obwohl, ich will nicht streiten. Nicht nur der Lärm, auch die Stille ist relativ. Beide haben eine innere Architektur, ein ganzes, ausdifferenziertes Wesen, das so wie unser Charakter alle Grade der Steigerung und Bewertung und so wie unser Unbewusstes sein Teil und sein Gegenteil enthält. Nachts erkundete ich dieses Wesen unter dem anschwellenden Dröhnen der Aube, deren Wasser gleichzeitig über zwei Wehre rechts und links der Insel und also rechts und links von meiner Luftmatratze stürzten und der den Grundton bildete, den Bass, über dem sich das Glockenspiel wie ein Vögelchen zwitschernd in die Lüfte erhob.

Sicher, kein Geräusch kann gleichmäßiger sein als das Rauschen des Wasserfalls, aber kein Ohr ungeeigneter, das anzuerkennen, als das menschliche. Musste der Lärm sich doch erst bis zu mir durchkämpfen, die Schranke der Gewöhnung, die funktionelle Taubheit überwinden, die ein Effekt des lärmgesättigten Tages war, der Kakophonie aus dröhnendem Verkehr, dumpfem Rauschen und schepperndem Geläut. Offenbar ging das Rauschen des Wassers in dem des Straßenlärms unter oder eine Symbiose mit ihm ein, in der es vollständig verschwand und aus der es erst nachts wieder auftauchte, wenn der Verkehr verstummt war. Gott sei Dank, sage ich aus der Distanz, dass die Route nationale nicht zu denen gehörte, die nachts erst so richtig wach werden, so dass man unwillkürlich an Truppenbewegungen denkt und der Krieg bricht aus.

Ich versuchte das Rauschen als Schlafmittel zu nutzen, was auch geklappt hätte, wäre da nicht die Versuchung der Kirchturmuhr gewesen: nur eine Viertelstunde noch, sagte ich mir, nur noch diese Sequenz, diese eine Auflösung. Manche Nacht rundete sich so zur nuit blanche, und der Tageslärm fand mich gerädert, noch bevor ich unter dem anschwellenden Verkehrslärm das erste Mal zusammengezuckt war. Gleiche Zeit, gleiche Welle, gleiche Stelle: Ich trank einen Schluck von dem rauhen Kaffee, der an solchen Tagen härter war als an anderen, stopfte die doppelte Menge Papier in meine Ohren, begann trotzig zu lesen und stellte beiläufig fest, dass, o Wunder, das Glockenspiel der gegenüber liegenden Kirche mich immer noch zu trösten vermochte. Gegen Mittag ging ich an den Strand, eine durch ein Badeverbots-Schild als solcher ausgewiesene Wiese unterhalb des einen Wehrs, aus dessen Höhe das Wasser herunterbrach und sich in einem Teich von ziemlicher Tiefe und himmlischer Farbe sammelte, ehe es, nun wieder ein normaler Fluss, seinen Weg in ordentlicher Strömung fortsetzte. Je nachdem, welche Stelle man gewählt hatte, konnte man sich entweder im wie künstlich angelegten Becken amüsieren, das das herunterstürzende Wasser auffing, oder sich von den stürmischen Wirbeln davontragen lassen. Wenn es aber darum ging, Müdigkeit anzuhäufen für die Nacht, dann brauchte man sich nur gegen die Strömung zu stellen und dem Druck so lange standzuhalten, bis die Kräfte nachgaben und man von der Strömung fortgerissen wurde. Aber auch dann konnte man aus den Augenwinkeln noch erkennen, dass sich der Standort bereits unmerklich verschoben hatte. Andernfalls wäre man nicht in die volle Strömung geraten.

Das konnte man endlos wiederholen und ebenso oft untersuchen, denn bei aller Aufklärung: etwas blieb immer im Dunkeln.

Meine Art war nicht die einzige, mit dem Fluss zu spielen. Auf dem verrosteten Steg über dem Wehr drängelten sich Jungs in Badehosen und Shorts. Sie waren die wüste Böschung hinaufgeklettert und sprangen unter dem anfeuernden Geschrei der unten Gebliebenen hinunter, tauchten haarscharf zwischen den verstreuten Felsbrocken in die Fluten und, die nassen Haare schüttelnd, wieder auf − mir wurde jedes Mal schlecht vor Erleichterung.

Da die Beschäftigung vorgegeben und die Badestelle einigermaßen begrenzt war, gehörte ich unweigerlich zu den Zuschauern, bemühte mich aber, die Abenteuerlust der Kinder nicht durch ein allzu offen gezeigtes Interesse zu steigern, und wurde im Übrigen auch gar nicht beachtet. Quatsch, was ich mir in meiner Einsamkeit dazu phantasierte, dass ich irgendeinen Einfluss hätte. Ob ich da war oder nicht, spielte keine Rolle, ich konnte ebenso gut bleiben, und das tat ich auch. Nur einmal wählte ich einen etwas verschobenen Ort, sagen wir 75 m flussabwärts, und zwar, hätte ich beinahe gesagt, aus typisch deutschem Grund. An dieser vom Gewühl deutlich abgegrenzten Stelle waren nämlich ein Mann und eine Frau ins Wasser gestiegen, die einzigen Schwarzen, möchte ich behaupten, in Arcis, zumindest hier an der Badestelle, und ich wollte nicht, dass sie allein badeten und alle andern woanders.

So kam es zu dieser seltsamen Begegnung.

5

Der überaus kräftige, wie einem Männermagazin für Körperkultur entstiegene strahlend schöne junge Mann stieg, das fiel mir auf, nur zögernd in den Fluss und plätscherte mit den Händen im Wasser herum, so als wüsste er nicht, was er darin sollte. Das sah ein wenig albern aus. Seine Gefährtin − ich weiß es wahrhaftig nicht, Schwester, Mutter, Frau − war von rundlicher, weicher, üppiger Gestalt, zu der ein winziger Bikini in einen lustigen Gegensatz trat. Offensichtlich war sie mit dem Wasser besser vertraut als er, und sie war ihm vorausgegangen, um ihn zu ermutigen. Bei jeder ihrer Bewegungen quollen ihre herrlichen Brüste unter dem Bikini-BH hervor und wurden von ihr mit achtlosem Griff wieder zurückgestopft. Ich in meiner Magerkeit hatte meine Freude an der Frau, ein unmittelbares Zutrauen zu ihr wegen ihrer weiblichen Gestalt und eine abstrakte Freude an dem herrlichen jungen Mann. Hier ist es auch schön, dachte ich und begann die Badestelle zu erkunden.

Als ich mich auf ein Geräusch oder ein Zeichen hin umdrehte, bemerkte ich, dass mir der junge Mann folgte. Nur jetzt nicht ausreißen, dachte ich, wusste aber nicht, ob ich der Begegnung gewachsen sein würde. Er sagte nichts, lächelte nur, ein großes Lächeln im schönen Gesicht. Unbeirrt setzte er seinen Weg fort, und an seinen Bewegungen war nichts, aber auch gar nichts, was darauf schließen ließ, dass er an mir vorbeigehen oder rechtzeitig anhalten und einen Zusammenstoß vermeiden würde. In unabänderlichem Gleichmaß schritt er voran, ganz im Bann eines inneren Impulses oder dessen, vielmehr, was ihm als ein lohnendes Ziel vor Augen stand. Aber das konnte doch nicht ich sein, die er ununterbrochen anlächelte. Ich fürchtete, er würde mich anrempeln, schlimmer noch, durch mich hindurchgehen, wenn nicht etwas geschah.

Qu’est-ce qu’il y a, murmelte ich, lächerlich genug, und sah in dem Moment, wie seine Gefährtin, die hinter ihm zurückgeblieben war, mir nicht geradezu zuzwinkerte, aber mit Kopf oder Lidern eine geringfügige Bewegung machte, deren Ursprungsort ich unmöglich bestimmen konnte. Aber sofort verstand ich, dass ich auf die Annäherung des jungen Mannes in keiner nur irgend denkbaren Weise eingehen sollte. Sie war auf meine Hilfe angewiesen, das begriff ich, denn erreichbar war er für sie durch ihre Entfernung allenfalls noch durch Worte, sie umgekehrt für ihn samt ihrer unzweideutig weiblichen Gestalt wie nicht existent, ausradiert aus einem Gehirn, das womöglich anders funktionierte als bei den meisten von uns.

So ein stattlicher junger Mann, hörte ich meine Verwandten sagen, nachdem sie festgestellt hätten, dass von seiner Schönheit keine Gefahr ausging und man sich über seine Hautfarbe nicht zu alterieren brauchte. So ein stattlicher junger Mann!

Da ich nur selten um Hilfe gebeten werde, nicht einmal von einer Frau und schon gar nicht auf diese vertrauensvolle Art, die unterstellt, dass die Reflexe menschlicher Solidarität und Vernunft auch für mich gelten, folgte ich umstandslos ihrem Befehl und wandte mich von dem jungen Mann ab, weniger damit er seine seltsame Erkundung meiner Person abbrach, als damit seine Beschützerin aufatmen konnte. Ich stapfte ziellos durch den Fluss, ging »so vor mich hin … das war mein Sinn«, und stellte bald fest, dass er mir unentwegt folgte, so als wäre ich ein Ziel, womöglich ein weibliches. Dabei war ich verglichen mit der himmlischen Person an seiner Seite wie von einem anderen Geschlecht. Wenn es nur entweder Mann oder Frau gab und dazwischen nichts, dann eben von einem dritten. Sächlich, würde ich vorschlagen.

Seit ich aus Gründen, die sich an einer Hand aufzählen ließen, allein reise, weiß ich, dass ich entgegen meiner stets nach den allerletzten Gründen bohrenden Natur, wenn es darauf ankommt und Not am Mann ist, auf die Analyse von Zusammenhängen verzichten und auf der Oberfläche der Erscheinungen handeln muss. In den meisten Fällen hieß das aufgeben, buddhistisch: loslassen. So gab ich auch hier meine menschenfreundlichen Absichten auf und strebte, immer noch wie eine freundliche Touristin das Wasser plätschernd, geruhsam dem Ufer entgegen. Mein Rückzug sollte keinen archaischen Jagdtrieb in ihm auslösen, meine beschleunigte Gangart ihn nicht definitiv zum Verfolger machen – so viel zum Buddhismus! Am Ufer raffte ich auch gleich meine Sachen zusammen und ging, ohne mich noch einmal umzusehen, an die alte Stelle, das heißt zu den andern, stieg erneut in den Fluss und focht wie immer einen sportlichen Kampf gegen die Strömung aus, diesmal aber mit mehr Substanz als gewöhnlich, denn hätte ich ihn verloren, wäre ich unmittelbar in die Arme von, ich nenne sie mal so, Brüderchen und Schwesterchen oder aber wie eine Leiche an ihnen vorbei geschwommen.

Gelegentlich blickte ich zu ihnen zurück. Noch immer bewegten sie sich durch das Wasser wie – Gestalten. Sie wahrten einen gewissen Abstand untereinander, und ich hörte, wenn ich es mir einbildete, auch die gleichmäßige, beruhigende Stimme der Frau. Als ich ein letztes Mal zurückblickte, waren die beiden gegangen und der Fluss da unten leer, so leer. Ich schlug das Handtuch um die Hüfte und ging über die Wiese, Haufen von Hundekot umrundend, zum Zeltplatz zurück auf die Insel. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für einen trostlosen Anblick diese wilde Badestelle, Hauptvergnügungsort der nicht durchweg bürgerlichen und schon gar nicht ländlichen Bewohner von Arcis und seiner Camping-Touristen, in dem Moment bot. Dazu kam, dass der kurze Weg scharf am Fluss entlang zwar bis an die wogenden Äcker heran, aber keineswegs in die Landschaft hineinführte. Wo kann ich spazieren gehen, fragte ich mich. Wo könnte ich laufen? Meine Laufklamotten lagen bereit. Aber wo war ein Weg?

6

Der auf der Insel Cherlieu angesiedelte Campingplatz gleichen Namens wurde von einem Holländer geführt. Wem dieses Modell nicht unvertraut ist, der weiß, was es bedeutet: der Platz war von tadelloser Sauberkeit, die Reinigungsarbeiten wurden bis unter das Dach des Waschhauses, wo sich Spinnweben bilden konnten, nicht nur mit großer Sorgfalt, sondern auch mit großem Selbstbewusstsein ausgeführt. Tote Winkel, solche, die sich der Aufmerksamkeit entzogen, gab es nicht. Das Grün wurde gepflegt, die Mülltrennung kategorisch gehandhabt, der Umgangston war souverän, das Personengedächtnis gigantisch. Alles war erlaubt. Unerlaubtes wurde so frühzeitig unterbunden, dass man behaupten kann, es fand nicht statt. Das einzige Druckmittel war eine Erklärung, die keine Auslegungen zuließ, schon gar keinen Dissens, und am wenigsten weckte sie Lust auf Heimlichtuerei oder Umwege. Einen last Call habe ich nie erlebt, konnte mir aber vorstellen, dass der Holländer darauf verwies, dass es woanders netter war, nicht so langweilig. Er würde das in einem ungezwungenen Gesprächston vorbringen, der den Rausschmiss erträglich machte, ohne an dem Faktum etwas zu ändern. Ich habe auch etliche Leute beobachtet, bei denen man nicht mit allem, aber durchaus mit dem einen oder anderen gerechnet hätte. Ich hatte gelernt, dass sich die Frage, warum jemand auf einem Campingplatz übernachtete, und speziell in einem Zelt, sich nicht mit dem klassischen »Aber weil er Ferien hat, natürlich!« beantworten ließ. Am leichtesten waren noch Radfahrer oder Bootswanderer zu durchschauen. Das Zelt der letzteren stand oft tagelang verlassen da, regte die kriminalistische Neugier an und war auf seine Weise unheimlich. Bei anderen sammelten sich die unterschiedlichsten Motive, von Armut bis Arbeit, auch wie bei mir von tief wurzelnder Gewohnheit. Dass die Lust auf Abhängen nicht ausartete, dafür sorgte wie gesagt der Holländer durch seine ganze Art, lud auch der propere Anblick seines Platzes gar nicht erst dazu ein. Insgesamt, und speziell, wenn man nur die Zelte berücksichtigte, war das Ganze überschaubar. Zelten im altmodischen Sinn war sogar auf dem Zeltplatz eine Seltenheit.

Was den Binnenverkehr anging, hatte der Zeltplatz wie so viele die praktische Form einer Acht. Zum Eingang hin befand sich der Bauch, um den die Einbahnstraße verlief, darüber der kleinere Kopf, der für die tentes reserviert war. Es war ein schattiges Fleckchen, nur auf den ersten Blick winzig, der durchaus das Zeug zum toten Winkel gehabt hätte. Ihn explorieren hätte ich, so klein er war, gar nicht gewollt: zu viel Intimsphäre, zu viel bewusst vollzogene Abkehr, zu viel einzelgängerische Idylle. Eine Wäscheleine, an strategisch wichtiger Stelle aufgehängt, hieß so viel wie »Kein Durchgang«, eine hingeworfene Kiste so viel wie »Privat«. Das war anders als bei den großen Stellplätzen für die Caravans und Wohnmobile, die ihre Intimsphäre mitbrachten und es nach außen hin nicht eng genug haben konnten.

Ich hatte mir meinen Platz nicht eigens ausgesucht, nur auf die leichte Zugänglichkeit für mein Auto geachtet. Zu oft hatte ich erlebt, dass Spätankömmlinge mitten in der Nacht aus einem idealen einen unangenehmen Platz gemacht hatten. Ohnehin war die Wiese für die Zelte noch nicht großartig gefüllt. Ich wählte schließlich einen ohne direkte Nachbarn. Ein kleines Zelt in einiger Entfernung rechts, in dem ein Kindchen mit seiner jungen Mama regelmäßig seinen Mittagsschlaf hielt, ein ähnliches, vielleicht auch bloß eine Plane, in größerer Entfernung links, von wo gelegentlich ein Mann herüberkam, immer eilig und in sich gekehrt, ohne erkennbares Ziel, schließlich noch ein ohne das geringste Gefühl für Ausrichtung hingetupftes Zeltchen daneben gaben keinen Anhaltspunkt, was ich ich als meinen Platz bezeichnen durfte. Ein Kabel, das in einiger Entfernung über die Wiese gezogen war und vor meiner Haustür vorbeiführte, fügte der Unsicherheit, auch der Stillosigkeit noch ein störendes Element hinzu. Für einen so abstrakten, karg ausgestatteten Menschen wie mich, für den Rahmen und Bauformen, was für andere Ranken und Blümchen sind, kam ein solcher Platz eigentlich nicht in Frage. Warum ich ihn trotzdem wählte? Vermutlich aus dem genannten Grund, um der unangenehmen Überraschung zuvorzukommen, wenn sich ein nach den klassischen Regeln des goldenen Schnitts gewählter Ort in kürzester Zeit als der Inbegriff von Chaos und Misswirtschaft herausstellte. Besser, gleich beweisen, dass ich auf äußere Ordnung nicht angewiesen war, dass die innere reichte.

Elektrisches Licht, wie es dank der erwähnten Kabel auch den Zeltlern angeboten wurde, lehnte ich regelmäßig ab. Ich hatte ein Auto, ein kleines Igluzelt, auf das ich sehr stolz war, da ich jahrelang mit einem klassischen Zelt gereist war, einen Plastiktisch mit wackligem Klappstuhl und eine Wäscheleine, die ich diesmal gar nicht unterbrachte, da an meinem Platz die Bäume fehlten und ich Badeanzug und Handtuch nur vorsichtig über den Stacheldrahtzaun hängen konnte. Da ich nicht kochte, brauchte ich den Tisch eher für den Anschein von Häuslichkeit und dringender für meine Beine als für einen Teller. Beim Lesen auf dem schwingenden Stühlchen wackelte ich hin und her. Deshalb brauchte ich einen festen Halt, sonst musste der Rücken zu viel halten, und das bekam ihm nicht. Also legte ich die Beine hoch und ließ sie fest auf der Tischfläche ruhen. Meine neueste Errungenschaft, Geschenk einer lieben Freundin, war eine mit LED-Licht ausgestattete Stirnlampe, die eine unerhörte Fokussierung auf die einzelne Buchseite ermöglichte, dafür die Umgebung in eine noch schwärzere Dunkelheit tauchte, auch für den Betrachter einer solchen Szene ein merkwürdiges Bild ergeben musste, da man nicht sofort erkennen konnte, was der Betreffende auf seinem Stühlchen trieb: schlief oder grübelte er, war er tot?

Auf diesem Platz und in dieser Form, lesend, verbrachte ich meine Abende.

7

Mit den Nachbarn freundete ich mich nicht an. Sie waren da, oder auch nicht, aber sie ließen die nachbarlichen Ausdrucksformen, einen Blick, einen Gruß, vermissen, auch wenn das Mädelchen gelegentlich herüberschaute und auch ein sechs- oder achtjähriger dicklicher Junge herumsprang, den ich in den in Frage kommenden Zelten nicht unterbringen konnte. Vielleicht hatte ich bei aller Vertrautheit meinen Platz diesmal nicht glücklich gewählt, wirkten die Zelte doch wie zersprengt, aus einer imaginären Mitte heraus an eine ebenso imaginäre Peripherie geschleudert und seine Bewohner, ohne dass ich dies an einzelnem hätte festmachen können, derangiert. Eine solche Einsamkeit ging nicht nur von ihnen, sondern von diesem allen aus, dass der allgemeine Begriff der Unordnung gar nicht passt, »fremd« wäre besser.

Sinnbild der Derangiertheit und für mich persönlich ein Graus war das Kabel, das sich durch die Wiese schlängelte. Vermutlich war es von meinen Vorgängern aus dem nächstgelegenen Elektrokasten herbeigeführt und dann liegengelassen worden, den Rest von Naturgefühl störend, der sich noch einstellen mochte, zugleich auf eine hässliche Art lebendig, wie mit Hintersinn ausgestattet, irgendwie auf der Lauer, so dass ich nicht hinsehen mochte. Schließlich ging es um meine Ferien, und ich hatte auch etwas zu verteidigen, etwas Wichtiges; wenigstens einmal im Jahr allein sein, woanders sein, ich sein, eins in allem sein. Da durfte, konnte auch gar nichts falsch sein, war es doch »alles«.

Aber so sehr mangelte es diesem allen, was sich vor meinen Augen vollzog, an Bekanntheit oder Bestimmtheit, bei dem, was sich auf meist leerer Bühne abspielte, an Ereignis, dass ich nicht einmal hätte angeben können, in welcher Sprache gesprochen wurde. Es wurde gar nicht geredet, hätte ich im Zeugenstand ausgesagt und zumindest subjektiv recht gehabt. Abgesehen davon, dass die sehr junge Mutter offensichtlich ihren Pflichten nachkam, dass sie zu bestimmten Zeiten verschwand, vielleicht ebenfalls an den Strand, und zu bestimmten Zeiten wieder erschien, dass sie die großzügigen Schlafenszeiten der Kleinen, wer weiß, auch der Mutter, einhielt, geschah nichts. Der Widerspruch blieb: obwohl ihr Zelt so winzig war wie meins, so dass man sich darin nur zum Schlafen legen, auf keinen Fall aber sich darin aufhalten konnte, war sie für längere Zeit unsichtbar. Ein häusliches Leben vor dem Zelt, wie Urlauber es so gern pflegen, gab es bei ihr nicht. Und so konnte ich von ihr ebenso gut abstrahieren, wie ich mich untergründig von der Szenerie beeinträchtigt fühlte, wobei ich bitte, »abstrakt« im vollen Sinn seiner Bedeutung zu nehmen, denn angesichts einer Situation, die vor allem aus Abwesenheit bestand, Abwesenheit sowohl der Personae dramatis wie handhabbarer Begriffe und jeglichen Verständnisses, spielte Abstraktheit bei meinem Befinden eine wichtige Rolle. »Bizarr«, der Lieblingsausdruck eines meiner Kinder, wäre womöglich das richtige Wort, zumal der Begriff doppelseitig ist, oder osmotisch, denn auch an mir stellte ich Merkwürdiges fest. In den Augen der Verkäuferin, von der ich »Le Monde« verlangt hatte in einer Stadt, in der man erstens einen Mann hatte (oder erkennbar Witwe war), zweitens »Le Figaro« las und drittens keine Ferien machte, war ich selbst bizarr. Nicht anders in den Augen der Verkäuferin in der Charcuterie, in der ich immer das gleiche, Couscous-Salat und Rote Bete, kaufte und die sich nichts anmerken ließ. Ich konnte froh sein, dass die Bedienung im Café an der Straßenkreuzung, wo ich morgens stets einen Grand crème bestellte, einen Café glacé nachmittags und immer mit der gleichen fanatischen Konzentration die aus Troyes mitgebrachten Zeitungen vom Vortag las, wenigstens einmal am Tag wechselte. Manchmal mimte ich Erstaunen, weil die eine oder andere »schon wieder« Dienst hatte. Dann lachten wir, als wären wir beide überrascht, oder freuten uns sogar. Das ist professionell, sagte ich mir, sich über jemanden freuen, der ohnehin kommt.

Ich stellte fest, dass ich mich mit den unversöhnlichen Augen der Franzosen sah, der Französinnen zumal. Ich dachte: Was ist denn das für eine?

Wenn Sie sich an meine rigide katholisch-protestantische Erziehung erinnern, an meinen angeborenen Platonismus, mein Aufwachsen unter den nimmermüden Augen meiner Flüchtlingsfamilie, wenn Sie die unvermeidlich resultierende Entwicklungshemmung meiner Beobachtungsfähigkeit bedenken, den Mangel an natürlichem Narzissmus, die fehlende Einheit von innerer und äußerer Person, dann können Sie sich den Eindruck, den ich auf mich machte, vorstellen. Bizarr war noch geschmeichelt, zersprengt das richtige Wort: innerlich zersprengt, äußerlich hölzern und wie auf Krücken.

8

An einem lauen Abend saß ich auf meinem wackeligen Stühlchen, die Beine auf dem Tisch, so dass letzterer mich stützen, ich ersteres in Schach halten konnte, vor meinem Iglu und las. Meine Stirnlampe hatte die Umgebung in tiefschwarzes Dunkel getaucht und warf dafür einen hellen Schein auf die Buchseite, die sie Zeile für Zeile aus dem Nichts ins Sein hob, so als würde sie in dem Moment geschaffen, nicht nur gelesen. Ich gebe zu, es kostete mich Mühe, mich nicht in beklemmende Seinsfragen zu verlieren, ich habe darin so viel Übung, und die Versuchung ist entsprechend groß. Ich will ganz einfach lesen, sagte ich mir, ein wenig erbittert, dass ausgerechnet der leichteste Teil des Tages solche Abgründe barg, und ein kleines bisschen fürchtete ich mich auch wegen der Dunkelheit, aber gerade nur so viel, um es mir zu untersagen, was die sorglose Lektüre auch nicht erleichterte.

Von dem betagten englischen Ehepaar hinter meinem Zelt, auf der gegenüberliegenden Seite der kleinen Stichstraße, die zu den Zelten führte, wusste ich, was für einen bizarren Anblick man, derart ausgestattet, bot, da die beiden Lichtbündelchen kaum zu erkennen waren, und alles weitere war nur erfahrungsgestützter Schluss auf das, was sie verbanden: Leser, Lampe, Buch. So sieht das also aus, hatte ich mir gesagt, als ich, vom Waschhaus kommend, an den Engländern vorbeigegangen war, die sich am Tag zu einem freundlichen Gruß aufrafften, besonders die Frau. Nicht zu ändern, sagte ich mir und setzte mich, legte die Beine hoch, rückte die Stirnlampe zurecht und versuchte mich zu konzentrieren. Wenn ich mich nur erinnern könnte, was ich damals las!

Ich war an diesem Abend ein wenig nervös, da sich tagsüber auf der Wiese rechts von mir etwas getan hatte, vielleicht weil das Wochenende ins Haus stand. Ein oder zwei Wagen waren vorgefahren, Leute ausgestiegen, Tüten geschleppt worden, Zurufe waren erfolgt, männliche Unterhaltungen sorglos geführt worden. So als wäre ich nicht vorhanden, dachte ich und traute mich meinerseits nicht, die neuen Bewohner in Augenschein zu nehmen. Mein Blick, fürchtete ich, konnte nur entweder diskriminierend sein oder Unangenehmes zutage fördern. Selbst die Kinder waren lauter als gewöhnlich.

Als es dunkelte, wurde ein Feuerchen angezündet – ein offenes Feuer auf dem Zeltplatz! −, so dass es jetzt also zwei Lichtquellen gab, ein Lagerfeuer und meine Stirnlampe. Vorher aber hatte sich endlich der Grund für das an meinem Stellplatz vorbeigeführte Kabel geklärt, als ich nämlich sah, dass an ihm, nur in halber Reichweite vom nächsten Zelt, jetzt ein Wasserkocher hing, der nun seinerseits in der Wiese saß. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und es sah auch nicht hübsch aus, auch wenn man auf diese Weise zweifellos Kaffee oder Tee kochen konnte, nicht sinnvoll und nicht hübsch. Wie ein havarierter Dampfer, der gestrandet war, lag der Wasserkocher im Gras, bizarr. Aber ich wusste nun wenigstens, woran ich war.

Woran ich war? Es gab hier noch andere Regeln als die üblichen provinzfranzösischen oder holländischen, und wenn es noch andere gab, dann war nicht klar, wie die Sache ausgehen würde. Sagen wir, man konnte es nicht vorher wissen.

Also lesen und so tun, als ob alles wie immer war. Wenn ich nur wüsste, was ich damals gelesen habe!

9

Das Knistern der Flammen in meinem Rücken beziehungsweise im toten Winkel seitlich von mir und die leise geführte Unterhaltung erinnerten mich an Abende, die auch ich am Feuer verbracht hatte, damals, als ich noch ein junges Mädchen war und darauf vertraute, solange ich nicht schlafen ging, würde die Nacht nicht zu Ende gehen. Je weniger ich erkennen konnte, desto mehr stellte ich mir damals vor. So war es unvermeidlich, dass ich mich verliebte, war doch ein Schein über ein dunkles Gesicht gehuscht, hatte es blitzartig erhellt, und ich hatte mich verliebt. Tomber amoureux war der richtige Ausdruck dafür, mit der Betonung auf dem ersten Wort.

Unterdessen hatte ich mich doch in mein Buch vertieft und schreckte zusammen, als ich spürte, dass jemand bei mir war: die Atmosphäre hatte sich verdichtet, und auch die Lichtverhältnisse hatten sich auf eine unbestimmbare Weise geändert. Ich will damit sagen, es war alles so wie immer, nur ich war nicht allein, und es war auch so dunkel wie zuvor, nur ein bisschen heller. Mit einem Ruck drehte ich mich auf meinem Stühlchen um, während die Beine auf dem Tisch verharrten, und sah in das wie ein kindlicher Mond strahlende Gesicht des dicklichen Jungen, dem die Freude über die geglückte Überraschung anzumerken war. Wahrhaftig, Himmelsbote, der er war, strahlte er über das ganze Gesicht. Und nicht nur sein Gesicht strahlte, sondern auch der nackte Oberkörper, vom dicklichen Bauch noch wenig abgeteilt, glänzte, als hätte man ihn mit einer Speckschwarte eingerieben. Neben mir auf meinem Stühlchen wirkte er trotz seines zarten Alters groß und wegen der unbändigen Gewissheit, die er ausstrahlte, trotz seiner Kindlichkeit fast einschüchternd.

Er hatte mich überrumpelt, das war’s.

In der Hand hielt er ein Handy. Er hielt es wie eine Trophäe, oder als wäre genau das der Gegenstand, der ihm die Macht verlieh, mich zu erschrecken. Dabei benutzte er es offenbar bloß als Taschenlampe, und tatsächlich warf es den Schein, der auf die Lichtverhältnisse so merkwürdig eingewirkt hatte. Es war offensichtlich nicht seins, und er hielt es triumphierend, so dass ich einen Moment glaubte, er wollte mir darauf etwas zeigen, zum Beispiel wo Berlin lag. Oft genug war mein Nummernschild der Einstieg für eine Unterhaltung, am liebsten hätte ich gesagt unter Männern, denn von Männern ging sie aus, die darüber staunten, dass ich so weit gereist war. Allein und so weit. Sie hatten das früher auch getan, erzählten sie mit einer gewissen Sehnsucht in der Stimme, und dann trat meistens ihre Frau dazwischen, ihr harter Blick sollte mir die Lust auf ihren Ehemann nehmen, den ich, ich musste selbst darüber lächeln, dank ihrer Intervention nicht mehr ganz so unansehnlich fand wie beim ersten Anblick, so dass ich sogar eine Regung des Bedauerns empfand. Einmal, aber das war schon ein paar Jahre her, hatte sich einer als Berliner Besatzungssoldat geoutet. Es war seine schönste Zeit gewesen, keine Gefahren, keine Pflichten. Aber er hatte es sich selbst verdorben, sagte er bedauernd, indem er mit einem Ostberliner Mädchen anbändelte. Das war streng verboten. Er war degradiert und strafversetzt worden, und mit dem angenehmen Leben war es vorbei, aber er hatte eine schöne, auch irgendwie sehnsüchtige Erinnerung an Berlin zurückbehalten. Solange hatte noch kein Mann mit mir reden können, ohne dass eine Madame dazwischen getreten war, und er schien tatsächlich allein zu sein. Ein Freund des holländischen Verwalters, griff er diesem gelegentlich unter die Arme, und von einer Madame war weit und breit nichts zu sehen.

Ich sah den Jungen an und schwieg, gekränkt, dass er sich schlecht benommen und meine Ruhe gestört hatte. Er merkte, dass er an der Reihe war, und holte Luft. Es war ihm dringlich, seine Botschaft an die Frau zu bringen. Sie war ihm aufgetragen worden, und er platzte beinahe vor Verantwortungsgefühl und Stolz. Aber leicht war es nicht. Eben eine Aufgabe.

Mon oncle, sagte er, und als ich ratlos guckte, ce monsieur-là, und dabei zeigte er zum Feuer hinüber, das genau wie meine Stirnlampe die Umgebung unsichtbar machte, so dass ich die Menschen, die sich dort aufhielten, nicht einmal hätte zählen können. Ce monsieur-là, er atmete tief, um den Rest ungehindert zu Ende bringen zu können, und dann strömte es aus seinem Mund: … vous invite de passer la nuit avec lui dans sa tente.

Das klang sehr nach mir und meinem Unterricht, denn bei mir lernte man Satzbau, aber wenig Sprechen, dafür ein Gefühl für die unendliche Schönheit des Rhythmus.

Vous invite .. de passer .. la nuit .. avec lui .. dans sa tente: jeder Bestandteil der Periode so ausgesprochen, als wüsste er, um was für ein Satzglied es sich handelte und wo – und nicht woanders! – es seinen Platz hatte.

Quatsch, sagte ich und ärgerte mich sogleich, dass ich ins Deutsche gerutscht war.

Quatsch, wiederholte er ratlos und lauschte dem Mischmasch-Laut nach.

Ich sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich das richtige Wort im Französischen fand, wissend, dass ich gar nicht imstande war, die Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Wendung abzuschätzen. Hatte ich nicht seinerzeit über die Blinden gesagt, ça marche partout? Es war anerkennend gemeint, aber die reizende Französin hatte zu mir gesagt, wenn ich nicht ich wäre, würde sie mir für diesen Ausdruck ins Gesicht schlagen.

Lieber Gott, betete ich, lass mich das richtige Wort finden, und nicht bloß irgendein französisches!

Fiche-moi la paix, sagte ich, und der Glanz im Gesicht des Liebesboten erlosch vollends. Ein dicker, dummer Junge stand neben mir, der meine Antwort leise wiederholte: Fiche-moi la paix, so als wäre sie in jeder Hinsicht unangemessen und allein deshalb schon schwer zu merken, gleichwohl wichtig.

Fiche-moi la paix, wiederholte er und trollte sich, jetzt ein netter kleiner Kerl, der längst ins Bett gehört hätte, und die Dunkelheit nahm ihn auf. Aus purem Trotz rückte ich meine nackten Beine auf dem wackligen Tischchen zurecht und las noch ein Kapitel, und wenn ich mich nicht einmal erinnern kann, welcher Roman es war, wie soll ich sagen können, wovon das Kapitel handelte?

Als die Anstandsfrist abgelaufen war, stand ich auf und machte mich daran, die diesmal haargenau vorgeplante Prozedur des Schlafengehens abzuwickeln. So schritt ich mit Zahnbürste und Zahnpasta bewaffnet, ein Handtuch um den Hals geschlungen, das Toilettenpapier in der Shorttasche versenkt, zum Waschhaus. Ich sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich bei meiner Rückkehr das Zelt so verlassen vorfinden würde, wie ich es – verlassen hatte, und ich nicht in Unterhandlungen eintreten musste, denen ich schon sprachlich nicht gewachsen war. Ich versuchte aber eine Strategie für den gegenteiligen Fall zu entwerfen, der freilich nicht eintrat, und hatte dann nur noch die peinliche Prozedur zu überstehen, bei der ich mich auch unter normalen Umständen beobachtet fühlte: mich zum niedrigen Zelt hinunter zu bücken, den seitlichen Reißverschluss des winzigen Vorzelts hochzuziehen, durch die schräge Öffnung zu steigen, gleichzeitig den Reißverschluss des Innenzelts hochzuziehen und, während ich durch die äußere Öffnung hineinstieg, mich bereits durch die innere hineinfallen zu lassen. Während ich damit beschäftigt war, kam eine ruhige Stimme aus der Nacht, auch sie mit einem außerordentlichen Gefühl für Rhythmus, einer, wie soll ich sagen, unendlichen sprachlichen Geduld: Bonne nuit.

Und das war alles. Nicht laut und nicht leise, weder durchdringend noch gedämpft, sondern ruhig und, wie soll ich es ausdrücken, der Sprache zugewandt.

Bon .. ne nuit.

So als hätte Gehörtwerden mit Lautstärke gar nichts zu tun.

Eine gute Nacht, die konnte ich gebrauchen.

Ich verschwand durch den Schlitz, zog unter Verrenkungen, die eines Schlangenmenschen würdig waren, den Reißverschluss wie eine Sicherheitsschleuse hinter mir zu und öffnete erst jetzt das Innenzelt. Saß noch eine Weile aufrecht und dachte nach. Es war ein rein geschäftliches Angebot gewesen, tröstete ich mich. Eine Verständigung. Das Geschäft war nicht zustande gekommen. Es war vorbei.

Schlaf, sagte ich mir, und streckte mich aus. Am befremdlichsten war die Stille draußen, so als hätte jemand sowohl das Wasser als auch die Uhr abgestellt. Eine stille Nacht in Arcis? Das konnte gar nicht sein! Ich drehte mich auf den Rücken und hatte nun beide Ohren frei. Ich konzentrierte mich auf das Hören. Raus aus der Philosophie, sagte ich mir, rein in die Sinne! Peu à peu unterschied ich, dass die Stille Lärm war, ein immerwährendes Rauschen, in das sich nach endloser Zeit ein Glöckchen einmischte, mit vier Tönen nur: Ti ta ti ta. Also hatte ungefähr zur vollen Stunde ce monsieur-là »Bonne nuit« gesagt.

10

Am nächsten Morgen wachte ich von den Aufbruchsgeräuschen ganz in meiner Nähe auf. Das Auto hinter meinem Zelt wurde gepackt, halblaut wurden Anweisungen ausgetauscht. Ich suchte – und fand – die geduldige Stimme.

Als ich mich gerade entschlossen hatte, aufzustehen und mich waschen zu gehen, nicht zuletzt um dem nächtlichen Verehrer unter den verschärften Bedingungen morgendlicher Zerknitterung eine reale Vorstellung von meinem Alter zu geben − damit auch er, dachte ich mit steigender Wut, etwas zum Grübeln bekam −, wurde der Wagen erst geräuschlos aus der Nähe der Zelte geschoben, dann mit elektrischem Schwung in Gang gebracht. Ich sah von ihm nur noch die sprichwörtlichen Rücklichter und konnte allenfalls und in Erinnerung an vage Bilder von der Ankunft gestern erahnen, dass auch die Haare der im Auto Sitzenden grau waren.

Das Leben überhaupt war grau, und ich beschloss ebenfalls aufzubrechen, nach Süden, die Ferien fingen ja erst an.

Ich baute das Zelt ab und räumte meine Sachen zusammen, eilte zwischen Müllplatz, Waschhaus und Auto hin und her, entschlossen, den festlichen Alltag in meine kostbare Reise zurückzubringen, das Gefühl von Autonomie und himmlischer Routine. Dabei steckte mir die Sehnsucht in den Knochen, und ich fühlte mich alt.

Beim letzten Gang zurück zum Wagen kam mir eine Frau mit einem Kulturbeutel entgegen. Sie trug das glitzernde Gewand, das wir als Kinder als Brokat bezeichnet hätten und das sie als Angehörige der »gens de voyage«, des fahrenden Völkchens auswies. Obwohl ich mich des nächtlichen Vorfalls schämte, sah ich sie an − wenn ich schon nicht wusste, wie ce monsieur-là aussah, wollte ich mich doch an diese Frau erinnern können − und blickte in das runde, aber verwüstete Gesicht einer alten Frau mit seltsam blutunterlaufenen, leeren Augen, die an mir nicht das geringste Interesse nahmen. Dann war sie auch schon vorbei, und ich suchte in meinem Gehirn den Gott, bei dem ich mich dafür bedanken konnte, dass ich mich in den Haushalt dieser alten Frau nicht eingemischt hatte und in den Haushalt der jungen auch nicht. Nichteinmischung war Gnade.

Damit mich die verehrten Leserinnen nicht missverstehen: Die alte Frau in ihrem in dunklem Himmelblau schimmernden Gewand war mit Sicherheit erheblich jünger als ich, Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. In ihrer Jugend, die vielleicht erst wenige Jahre zurücklag, war sie sicher hübsch gewesen, die immer noch runden, aber wie durch einen heftigen Schlag zur Seite gerutschten Wangen, die früher einmal leuchtenden, jetzt dunkelrot glühenden Augen bewiesen es. So wie sie aus dem normalen Alter der erwachsenen Frau durch vorzeitige Alterung und Verwüstung herausgetreten war, so war die junge Frau, die ich nur als Mutter des kleinen Mädchens kennengelernt hatte, vorzeitig hineingeraten. Wer weiß, ob sie eine Vorstellung davon hatte, was es hieß, erwachsen zu sein, sie sagte ja nicht einmal guten Tag, und ich konnte auch nicht erkennen, dass sie einen Platz in der Familie hatte, ich meine irgendeine erkennbare Position.

Nicht ohne Grund habe ich nach dieser Reise zu meiner Freundin gesagt: In diesem Sommer bin ich erwachsen geworden. Ganz genau weiß ich auch nicht, was ich damit meinte, aber die Sache war unstrittig. Ich bezog mich nicht auf die merkwürdigen Erlebnisse, von denen ich hier berichtet habe und die ich im Gegenteil sorgfältig verschwieg wie etwas, was nur mir gehörte, der Lohn sozusagen für mein Erwachsensein. Ich berichtete ihr ganz im Gegenteil von der offenen Freundlichkeit, mit der ich fremden Menschen gegenübergetreten war, meiner Lust, ihnen mit Respekt und mit Zuneigung zu begegnen. Über zufällige Unterhaltungen hatte ich mich nicht nur gefreut, sondern sie mit Absicht herbeigeführt. Ich hatte Gewinn für einen angenehmen Tag daraus gezogen, mich als Mensch unter Menschen gefühlt und, obwohl ich wie immer allein reiste, alles andere als einsam. Meine Begegnungen in Arcis sur Aube gehörten wie zu einer anderen Reise oder zu einem anderen Ich. Sie waren, wie sagt man, grenzwertig.

Nachdem ich die Dinge so geordnet und das Erlebte aufgeschrieben habe, kann ich der Sache mit dem Erwachsensein noch einen Aspekt hinzufügen. Dazu muss ich bekennen, dass ich ein halbes Leben lang eine heftige und mit Angst versetzte Abneigung gegenüber Frauen verspürt habe. Das neu entdeckte Gefühl des Erwachsenseins ist mit dem Untergang dieser Abneigung verknüpft. Sie regt sich nur manchmal noch – speziell in Frankreich, sage ich ironisch, wo die Frauen so scharfzüngig und so beschränkt sind −, aber in echt ist sie untergegangen. Ein freundliches Interesse ist an ihre Stelle getreten, kein neugieriges oder forschendes Interesse, auch kein Bedürfnis nach Analyse und Deutung, sondern ein Gefühl der Ähnlichkeit. Wenn Sie verstehen, was ich meine.

An Männern habe ich meist eine einzige, hervorstechende Eigenschaft geliebt. Bei diesem Mann, der mein Feriengefühl, mein glorioses Autonomiegefühl mit einem Bittertropfen versetzte, war es die Stimme. Kein Wunder, werden Sie sagen, das war ja auch das einzige, was ich von ihm kennengelernt hatte, ich hätte ihn ja nicht einmal auf der Straße erkannt. Stimmt, und so war es öfter gewesen. Wahrscheinlich hängt es mit meiner Unfähigkeit zusammen, eine Person in ihrer Widersprüchlichkeit zu würdigen, oder es war ganz einfach Fetischismus.

Da ich erwachsen geworden war, sah ich das in aller wünschenswerten Klarheit. Ich musste aber doch ein wenig dagegen angehen, dass ich nicht wie früher vom geliebten Teil aufs imaginäre Ganze schloss, vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und der ironische Wunsch des Mannes aus dem fahrenden Volk seine mitmenschliche, fürsorgliche Seite offenbarte: Bonne nuit.

An der verwüsteten Frau, die womöglich seine war, hatte ich die mir zugemutete unverstellte Realität, ihre unbestreitbare Tatsächlichkeit gemocht. Genauso hatte ich an der Betreuerin jenes verstörten jungen Mannes in der Aube die Frau gemocht. Ihre Aufgabe war so umfassend und so unabänderlich, dass ich niemals auf die Idee gekommen wäre, sie mit Vermutungen zu umgarnen oder mit meiner Empathie zu bedrängen.

Auf dieser Reise bin ich erwachsen geworden, sagte ich zu meiner Freundin, und sie lachte und sagte, sie verstünde, was ich meinte.

Keine Ahnung, was sie damit meinte. Denn sie war immer sehr diskret.


 ← Zurück |  → Weiter

Zum Inhaltsverzeichnis

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt30_02.html.

Zur Textübersicht

© 2015 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.