Apropos Mathilde

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II. Teil

1

An einem Sommerabend, wie er nur in der großen Stadt vorkommt, wenn der Duft der Linden den Autogestank des überstandenen Tages und das lichte Gemurmel der Cafégäste auf den breiten Trottoirs den brüllenden Lärm von Müllautos und Schleifmaschinen abgelöst hat – an einem solchen Sommerabend schlenderte Alexander, den niemand gern bei seinem Vornamen nannte, aber um keinen Preis etwa Alex oder gar Axel genannt hätte, durch die baumbestandenen Straßen seines Viertels und freute sich, daß er wieder da war. Erstaunt stellte er fest, daß er nur dann mit Behagen allein sein konnte, wenn beide Bedingungen zusammentrafen: daß es vor Fremden nur so wimmelte und er sich auskannte. Er hatte immer gedacht, Fremdheit wäre die günstigste Bedingung für eine erfreuliche Einsamkeit. Aber er war dumm und unbedarft gewesen. Da er die Probe aufs Exempel soeben hinter sich gebracht hatte, konnte er von der Unerträglichkeit eines solchen Lebens ein Lied singen.

Er war noch ganz erfüllt vom Erlebnis seiner Heimkehr, dem Anblick der leeren Wohnung, in der seine Möbel herumstanden, aber sonst nichts. Beinahe scheu hatte er den Tramperrucksack und den Koffer in ein Zimmer gestellt und einen Augenblick lang das Gefühl nicht verhindern können, ein Eindringling zu sein, ohne Anspruch auf diese Behausung. Dann war er einmal durch alle Räume gegangen, hielt aber die Augen gesenkt, fest entschlossen, nicht zu sehen, was der fremde Kollege etwa angerichtet hatte. Hauptsache, er hatte nichts zurückgelassen (auf den ersten Blick, jedenfalls, nicht). Während er durch die Wohnung schlenderte, hatte eine solche Erleichterung, ein solches Glücksgefühl sich in ihm breitgemacht, daß sogar er, der Gefühlsanalysen ablehnend gegenüberstand, sich eingestehen mußte: Offenbar hatte er mit dem Schlimmsten gerechnet, daß sie sich während seiner Abwesenheit in Luft aufgelöst oder – um den Rassismus, der in ihm schlummerte, einmal zu Wort kommen zu lassen – die Hausverwaltung sie an eine kinderreiche ausländische Sippe vergeben hatte, die sich, das sah man auf den ersten Blick, nicht so einfach vertreiben ließ (schon gar nicht von ihm).

Aber sie war da, sie war leer, sie war seine Wohnung. Erschöpft von soviel Erleichterung, unfähig, dem Gegenstand der überflüssig gewordenen Besorgnis noch länger standzuhalten, war er hinausgegangen, im Zuziehen der Tür nach dem Wohnungsschlüssel in seiner Jackentasche tastend, verwundert, daß die alte Gewohnheit zur Verfügung stand. Er wollte die Lage draußen inspizieren: ob es den Araber und den Inder noch gab oder sich vielleicht ein neuer, interessanter Imbiß dazugesellt hatte, zum Beispiel ein Vietnamese.

Mit Besitzermiene musterte er die Cafés und stellte fest, daß das Gemurmel leiser geworden war. (Oder war es in Paris lauter?) Dabei hatte sich die Gästezahl nicht verringert; wäre auch schade gewesen, gewissermaßen ein Wertverlust für die Wohnung. Einige Läden hatten gewechselt, hin zu Tinnef. (Er zog die Augenbrauen hoch.) Aber der Araber war noch da, und der Inder hatte sein Lokal um zwei Schaufenster erweitert, Donnerwetter.

Er vergaß ganz, daß er auf den Imbiß nicht mehr angewiesen war. Er konnte kochen, wann immer es ihm beliebte. Er war wieder Herr in seiner Wohnung, auch wenn er dafür nach Paris gehen und fast ein Jahr lang hatte unglücklich sein müssen. Der Austausch mit einem französischen Kollegen erwies sich als die Lösung, da Frankreich das einzige Land war, wohin seine damalige Gefährtin, Geliebte, »Bekannte« – wie die Hiesigen ein stark sexuell getöntes, ansonsten an emotionaler Unterernährung leidendes Verhältnis nannten –, selbst Französin, ihm nicht folgen mochte (oder konnte). Mit intuitiver Bosheit hatte Alexander damals herausgefunden, daß es nur einen einzigen Ort gab, der imstande war, ihn und Mathilde auseinanderzubringen: Frankreich. (Wahrhaftig, er hatte nicht mehr gewußt, wo ihr Bauch anfing und seiner zu Ende war, aber nicht aus Liebe.) Als er für einen Kollegen einsprang, der die ganze Sache angeleiert hatte und im letzten Moment zurückschreckte – pikanterweise, weil seine Lebensgefährtin ihn nicht begleiten wollte (oder konnte) und ihm das ganze Elend einer solchen Trennung aufgegangen war –, da hatte Mathilde zu ihm gesagt: Warum gehen wir nicht nach Italien (I-ta-li-ön)?

Das mußt du meinen Kollegen fragen, nicht mich.

Mit der Nonchalance des professionellen Lügners hatte er hinzugefügt:

Wenn er sich für Neuseeland oder Italien beworben hätte, würde ich nach Italien oder Neuseeland gehen. Wo ist das Problem?

Sie war zu stolz, um zu fragen, ob er sie mitgenommen hätte, zumal er beharrlich von sich redete. Er ganz allein hatte sich schließlich verpflichtet, erklärte er. Es wäre vermessen gewesen, angesichts vollendeter Tatsachen in den Pluralis Majestatis zu wechseln und auf einmal von ›wir‹ zu reden. Da er sie nie gebeten hatte mitzukommen, wohin auch immer, brauchte er sie nicht zu fragen, warum sie, die wie eine Klette an ihm hing, ihn ausgerechnet bei Frankreich im Stich ließ. Entschlossen, das Ende ihrer Beziehung als ein technisches Problem zu behandeln, die organisatorische Folge von irgend etwas (bloß nicht von einem Willen), tat er so, als ginge es auch für sie mehr oder weniger um eine Formalität. Wenn sie nicht mit nach Frankreich kommen wollte, dann hatte sie ihre Gründe. (So als hätten in ihrer Beziehung jemals Argumente gezählt!)

Woher hatte er aber gewußt, daß Frankreich für seinen auf Loslösung bedachten Willen tatsächlich der Ausweg war?

Er hatte es eben gemerkt, nicht hier und jetzt, sondern peu à peu, von dem Augenblick an – sie lag gerade auf seinem Bauch und sah ihm direkt in die Augen –, wo er zum ersten Mal den betreffenden Kollegen und sein Projekt erwähnt hatte. Sie war zusammengezuckt, als ginge es nicht um Frankreich, sondern um eine Französin. Da schon damals sein ganzer Verstand auf Kombination und Machination ausgerichtet war, hatte er die Frage nach dem Warum vermieden. (Nachher sprang sie noch über ihren Schatten!) Aber er konnte es nicht lassen zu sticheln: Es ist ja, als würdest du in Frankreich gesucht. Der Gedanke, daß er eine Kriminelle, womöglich eine Politische beherbergte, amüsierte ihn. (Zumal es so gut wie vorbei war.) Sie hatte ihn mit einer solchen Abneigung angesehen, daß er den Gedanken nicht weiterverfolgte. Statt dessen wälzte er sich über sie. Er wußte, daß auch eine erzürnte, eine verletzte und gekränkte Mathilde gegen ihren Bauch so wenig ankam wie er, auf Dauer, gegen seinen Kopf. Warum sollte er versuchen, auf der Ebene der Körper zu trennen, was auf dieser Ebene nicht zu trennen war? Kommt Zeit, kommt Rat. Formalitäten würden schaffen, wozu das Gefühl nicht imstande war.

So kam es auch. Ehe der französische Kollege vor der Tür beziehungsweise Alexander auf dem Bahnsteig stand und auf den Zug nach Paris wartete, hatte Mathilde ihren Krempel gepackt, sich die Gitarre auf den Rücken geschnallt, den ihm vertrauten Schlafsack unter den Arm gepackt und war verschwunden.

Er war ein Jahr nach Paris gegangen und – o Wunder – zurückgekehrt. Die Linden dufteten, und er konnte frei entscheiden, ob er zum Inder, zum Araber oder nirgendwohin ging.

2

In Frankreich war er ein Anhänger der gigantischen Supermärkte geworden, willens und in der Lage, die in ihnen vereinigten Annehmlichkeiten zu nutzen, das heißt, sowohl zu tanken als auch einzukaufen, einen Kaffee zu trinken und dazu einen in der Mikrowelle erhitzten Apfelstrudel zu verzehren sowie die Toilette aufzusuchen, und dies alles, nachdem er sein Konto mittels einer Geheimnummer aktiviert hatte, wenn er nicht einfach mit einem chèque oder seiner Kreditkarte bezahlte. Kühl bis ans Herz hinan, aber innerlich erhoben, hatte er samstags Super U, Rond Point, Match, Géant, Leclerc und so weiter angesteuert, auch Intermarché oder Ecomarché, nur um SPAR hatte er der heimatlichen Assoziationen wegen einen Bogen gemacht. Er hatte sich mit Hilfe eines Zehn-Franc-Stücks eines Einkaufswagens bemächtig – er, dem zu Hause, wenn es darauf ankam, immer die Mark fehlte – und ihn, ohne sich vor dem riesigen Warensortiment auch nur im geringsten zu erschrecken, durch die Abteilungen des stark unterkühlten Kaufpalasts geschoben, hier ein mit Plastikfolie umhülltes Baguette, dort eine Bonne-Maman-Konfitüre gewählt und für einen Munsterkäse, ein Stückchen Pastete angestanden. Er kaufte keinen neuen Aperitif, wenn er den letzten noch nicht ausgetrunken hatte, und wechselte nicht die Kaffeesorte, solange die alte sich bewährte. (Hunger auf Neues war ihm fremd.) Berge hochgetürmter Action!-Würste und Promotion!-Konserven blieben unangerührt. Aber er vergaß nie zu ersetzen und zu ergänzen, was ihm ausgegangen war: Butter, Tabak, Schinken und die Gervais-Röllchen fürs Dessert. Woran er in Deutschland vergeblich oder sagen wir mit schlechtem Erfolg laboriert hatte, das war ihm im Austauschjahr auf Anhieb gelungen: er war ein passionierter Junggeselle geworden. Kein typisch französischer, so wie ihn sich die Deutschen vorstellten, mit Sinn für Bistro-Romantik, 2CVs und bricolage als Feierabendbeschäftigung. Mit einem leidenschaftlichen Hang vielmehr zu Spiel-Shows, Tiefkühlkost und blitzblanken Cafeterias. Kurz, ein Amerikaner.

Diese Lebensweise hatte ihn über ihren eigenen Rahmen hinaus kein bißchen glücklich gemacht (im Gegenteil), aber beschäftigt. Sie hatte es ihm erspart, sich als geselliges Wesen zu betätigen, und trotzdem ermöglicht, sich zu versorgen. Sie hatte ihm auch die französische Sprache erspart; absurderweise indem er sie lernte. Nach ein paar Wochen konnte er die Zeitung verstehen, aber bis zum Ende seines Austauschjahrs keine normale Unterhaltung über sein Befinden führen oder eine anspruchslose Episode aus seiner Kindheit erzählen, geschweige denn mit Engagement und Lebhaftigkeit diskutieren. (Wie denn auch, woher denn auch, er hatte sich doch nie für etwas engagiert!) Dialekte erkannte er nicht. Akzente – auch der eigene – sagten ihm nichts. (Er stammte aus Meppen und war überzeugt, daß man es ihm nicht anhörte.) Wortspiele waren ihm fremd, auf so etwas kam er nicht. Nicht ein einziges Mal stolperte er über die Tatsache, daß er sich in dem Land befand, in dem Mathildes Sprache gesprochen wurde, oder erinnerte sich daran, daß der traumhafte, eben französische Akzent in Deutschland als Passepartout zu Männerherzen galt. Er stellte sich auf den Standpunkt des Vorhandenen, und das war’s.

Immerhin entwickelte er ein staunendes Interesse für die Französinnen. Nicht für solche vom Schlage Mathildes, sondern für jene durch und durch professionellen Geschöpfe, die die Kassen der Supermärkte besetzten, kühl und künstlich wie die Bonbonfarben ihrer Berufskleidung. Alexander (Alexandre) verstand sie nicht und fühlte sich nicht in sie ein. Sie weckten keine Sexwünsche in ihm. Seine Phantasien waren keineswegs von kleinen, lebhaften Frauen in rosa und hellblau, mit harten Brustwarzen und dem Anflug eines Schnurrbarts bevölkert. Aber sie gaben ihm dennoch das Gefühl, ein Mann zu sein.

Übrigens hatte auch Mathilde keine Sexwünsche in ihm geweckt, bevor ihr Bauch mit seinem diese seltsame Symbiose eingegangen war. (Wie es dazu kommen konnte, entzog sich nach wie vor seiner Kenntnis.) Wenn er einer Frau mit begehrlichen Blicken folgte, dann handelte es sich in der Regel um eine ausländische Reinigungskraft, eine ältere, müde Person, deren Körper er sich als eine Höhle dachte. (Kein Wunder, bei der Erschöpfung.) Und wenn er sich befriedigte, dann geschah das nachts nach dunklen Träumen und mit großer Heftigkeit und in äußerster Kürze, ohne jede Vorlage.

Die drahtigen Französinnen aber – die mit den fränkischen Voreltern – bestaunte er bloß und sorgte damit gewissermaßen für die spekulative Seite in seinem Leben. Alexander sah nicht auf den ersten Blick, wofür sie lebten, und umgekehrt war er ihnen herzlich egal. Aber sie ließen ihn gelten, auch wenn er kein kommunikativer Typ war, freilich ansehnlich und auf eine nette Art selbständig. Man kann auch sagen, sie ließen ihn in Ruhe, so wie die Tankstelle, der Supermarkt oder das Baguette in Folie. Er interessierte sich ebenso für die Kundinnen im Einkaufsstreß, die hochgetürmte Wagen samt Kleinkindern an der Kasse vorbeischoben, an der Hand den Ehemann – natürlich nicht wörtlich –, irgendwie turnten sie alle am Warenband herum, der eine von außen, die andern von innen. Alexander fand es nicht verkehrt, das Familienleben als Dienst und das dazugehörige Temperament als Dienstauffassung zu bezeichnen. Vielleicht war er ja an den Glücksansprüchen seiner Frau gescheitert, und Mathilde, ach, Mathilde hatte er von dem Moment an, wo er aufhörte, sie zu bekämpfen, einfach nicht mehr ernstgenommen. Komisch.

3

Die Erleichterung, wieder zu Hause zu sein, durchwärmte Alexander von innen. Von den überstandenen Strapazen war ihm eine Lebhaftigkeit geblieben, eine Lebendigkeit, über die nicht nur seine französischen Kollegen (wenn sie ihn denn gesehen hätten) gewaltig erstaunt wären, über die sich vielmehr auch seine deutschen Bekannten wunderten. Sich den Wind um die Nase wehen zu lassen tat doch gut, das sah man an Alexander, an der Herzlichkeit, die er ausströmte, der Wärme, mit der er den Leuten begegnete, der neuen Bedürftigkeit, die er, der Scheidungs-Junggeselle, der Frühvergreiste, mit kindlichem Stolz zur Schau trug: auch er war ein Mensch und brauchte die andern. Seine Augen hatten etwas Leuchtendes bekommen, woran sich niemand erinnerte, der ihn vor seinem Auslandsaufenthalt gekannt hatte. An seinem Pulloverärmel schmusten die Frauen. Aus Frankreich hatte er einen gewissen Stil mitgebracht, der Autonomie, nicht Autismus verhieß. Die Nubuk-Hose verschwand in den hintersten Abteilungen seines Schranks. Er trug jetzt Pullover aus Merinowolle und feine blau-weiß gestreifte Hemden.

Gleich am Ankunftsabend, als er um die Häuser zog, mußte er sich verschiedener Annäherungsversuche erwehren. Er entledigte sich dieser neuen Aufgabe mit Anmut, so als wäre das Bedauern auf seiner Seite. Hier war jemand, der auf seine Integrität achten mußte: das war der Eindruck, den er vermittelte und der ihn interessant machte, jedenfalls für seine Zielgruppe.

Vielleicht täuschte er sich auch, und die Blicke der Frau am Nachbartisch galten dem Herrn hinter ihm, und die Unterhaltung, in die ihn die beiden Studentinnen zogen, an deren Tisch er als einzelner gelandet war, müßte erst noch auf ihre libidinösen (nicht normal-menschlichen) Elemente untersucht werden. Aber er hatte es so und nicht anders erlebt. Unter den Rippen seines schwarzblauen Mariners hatte er sich behaglich gerekelt und, bevor er in die kühle Nachtluft hinaustrat, noch allerseits einen schönen Abend gewünscht, dabei – so kam es ihm vor, obwohl er sich selbst über seine Attraktivität je nach Gelegenheit die unterschiedlichsten Meinungen bildete – einen so rührenden Anblick geboten, daß das halbe Lokal am liebsten mitgegangen wäre. Trotz der vorgerückten Stunde hatte er einen kleinen Umweg gemacht, aus schierer Lebensfreude beziehungsweise (da auch das reine Glück ein vielfältig zusammengesetzter Prozeß ist) um zu prüfen – ganz simpel: Blick zurück –, ob ihn auch niemand begleitete. Daß man ihn angeschmachtet hatte, saß wie eine Haut, und angeschmachtet fühlte er sich immer noch. Vor seinem Haus hatte er die leere Straße hinauf und hinuntergeschaut und dann beruhigt die Tür hinter sich zugemacht.

Seine Wohnung nahm ihn bereitwillig auf, ohne ihn vor lauter Schwung sogleich wieder retour zu schicken. Es war herrlich draußen. Aber man mußte auch nach Hause kommen können. Dann ging man am nächsten Tag um so lieber wieder raus.

4

Bezüglich Mathildes bildete Alexander in diesen hitzigen Zeiten sich eine einfache Theorie. Wenn er seine neue Lebendigkeit betrachtete, dann war er überzeugt, damals, in den grauen Zeiten vor seinem Auslandsjahr (»mein Auslandsjahr«), war er restlos tot gewesen. Mathilde, das war ein Synonym für Totsein. (Seine Frau Inge war eher ein Synonym für Totschlagen gewesen; mit Worten, versteht sich.) Er stand jetzt ganz auf der Seite seiner Kumpel, die ihn seinerzeit scharf kritisiert hatten. Mathilde war einfach nichts für ihn gewesen. Die Ambitionen seiner Freunde konnte er im Rückblick freilich nicht ernstnehmen. Da hatte er in der Zwischenzeit doch zu viele französische Frauen erlebt.

Bedauerlich nur, daß Mathilde – wo war sie übrigens geblieben? – gewissermaßen den Schlüssel zu seinem Bauch besessen hatte. Alexander wußte nicht, ob das abgeschlossen war und wie er es bewerten sollte. (Tatsachen konnte man eben nicht bewerten.) Aus Frankreich rundum lebendig zurückgekehrt, tat er sich mit der Liebe immer noch schwer. Da er aber von den überstandenen Strapazen belebt, von der Heimkehr beglückt war, liebte er sich zum ersten Mal in seinem Leben, und nur törichte Menschen konnten das geringschätzen. Er war komplett und lebendig; warum sollte er die Liebe vermissen? Aber die Liebe vermißte ihn (und er Mathilde).

Gabriele (nicht Gabriel!) hieß das Problem. Sie arbeitete in Alexanders Büro und hatte ihn förmlich entdeckt. Kein Wunder, hatte er doch so etwas wie eine Persönlichkeit bekommen. Ja, hätte er nicht so urdeutsch, so ostelbisch kantig, so zugleich zierlich und stämmig, halt polnisch, tschechisch oder (ost)deutsch ausgesehen, man hätte sich glatt den französischen Akzent eingebildet. Ganz spurlos war das Jahr also doch nicht an ihm vorübergegangen.

Aber das war’s gar nicht mal, was Gabriele, im übrigen die Frau eines andern, faszinierte. Das mochte Gabriels Problem mit Mathilde gewesen sein, den man bei Gelegenheit ruhig einmal nach ihrem Verbleib fragen konnte. Alexander war bislang davor zurückgescheut. (Und warum ausgerechnet Gabriel fragen.) Konfrontiert mit Alexanders unschuldiger Körperlichkeit, für die man freilich einen Sinn haben mußte, entdeckte Gabi nicht nur jede Menge Trieb an ihm, sondern auch spirituelle Züge an sich selbst. Ohne diese Spiritualität wäre ihr an Alexander freilich nicht das geringste aufgefallen. Wäre wiederum Alexander nicht so behämmert unschuldig gewesen, sie, Gabi, wäre nie spirituell geworden. Und hätte sie ihm nicht ihren Trieb geliehen, er hätte keinen gehabt.

Im gleichen Atemzug entdeckte sie, daß ihrem Mann das eine, das andere und das dritte fehlte. Jeder Mensch, mit dem man schon länger aushielt, war ja hochgradig gemischt, und nur Verliebtheit konnte wahrhaft einzelnes entdecken; auch sich für einzelnes stark machen, zum Beispiel gegen den eigenen Mann, der vor lauter Wald die Bäume nicht sah. (»Alexander? Du spinnst ja.«) Nur Verliebtheit konnte das Ausgesonderte ergänzen, so daß – man höre und staune – der eine durch den andern sich vervollständigte (um nicht gleich zu sagen: vollkommen wurde). Damit Alexanders unschuldige Körperlichkeit wahr werden konnte, mußte Gabi also die entsprechende Spiritualität entwickeln, die daher zugleich Wahrnehmung und Wahrgenommenes, Empfindung und Empfundenes, seins und ihrs, also ein und dasselbe war. (Nur um einmal zu beweisen, daß die Liebe es jederzeit mit der Philosophie aufnehmen kann.)

Kein Wunder, daß Gabi sich zu allem in der Lage fühlte. Angestachelt von dem Eifer, Alexander, dem das noch gar nicht so recht zu Bewußtsein gekommen war, zu umgarnen, vollbrachte sie Enormes im Beruf, machte sich alle Männer zu Verehrern und trat endlich auch für ihn aus der Anonymität heraus.

Eine Zeitlang bildete Alexander sich ein, sie wollte seinen Horizont erweitern und ihm etwas beibringen, zum Beispiel daß man auch dann frei und selbständig sein konnte, wenn man in einer Partnerschaft lebte. Tatsächlich hatte er sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Aber Gabriele wußte, wovon sie redete. Sie hatte schließlich einen Mann. (Alexander kam es so vor, als wäre ihm diese Tatsache klarer als ihr.) Unbefangen ging sie auf ihn zu, und er hätte sich als Ewiggestriger zu erkennen gegeben, hätte er etwas dabei gefunden. Untergründig wurde ihm eine weitere Erkenntnis vermittelt, des Inhalts, daß man sich auch dann auf eine Beziehung einlassen konnte, wenn man schon eine hatte. (Schließlich hatte nicht nur Gabriele einen Mann, auch er hatte Mathilde.) Bereits die erste Lektion verstand er nicht, war aber bereit, sich am weiblichen Vorbild ein männliches Beispiel zu nehmen, das heißt einfach zu folgen. Die zweite blieb ihm dagegen restlos dunkel. Man könnte auch sagen, was ihm an der ersten dunkel blieb, war eben die zweite.

Er brauchte sich auf seine jüngsten Fortschritte also gar nicht soviel einzubilden. Nicht nur standen sie bei jeder Bewährungsprobe in Frage, sondern andere – die nicht in Frankreich gewesen waren – taten es ihm nach. (Über seine Auslöserfunktionen war er sich vielleicht am wenigsten im klaren.) Sie überholten ihn sogar. Wieder einmal hinkte er hinterher, mußte dafür aber nicht vorangehen, was ermüdete. Bereitwillig rechnete er Gabriele seinen männlichen Bekannten zu, denen er, seitdem er Mathilde mit Frankreich vertauscht und das Französische gewissermaßen sublimiert hatte, mit einfacher Herzlichkeit begegnete. Er hatte das Zwiespältige hinter sich gelassen, das horizontale Herumfuhrwerken statt der logischen Folge. (Wie gesagt, er folgte.) Wer ihm mit der alten Feindseligkeit begegnen wollte, fand den Ansprechpartner nicht mehr. Gabriele blieb es überlassen, einen Schritt weiterzugehen und auch die zweite Lektion an den Mann zu bringen. Dadurch wurde ihr gesamter Verstandes und Gefühlsapparat so beansprucht, daß sie von Tag zu Tag hübscher, ja schöner wurde, sie, eine vor kurzem noch sprichwörtlich graue Maus!

5

Es wäre an der Zeit, sich über Alexanders Beruf zu verständigen. (Denn die Tätigkeit macht den Mann.) Welchen Beruf ertrug er, und welcher ertrug ihn? Wo konnte er sich ausgeben, ohne sich ausleben zu müssen? Wie kam es, daß er manchmal zu Hause arbeitete, aber meistens nicht? (Aber das war eine Frage für Gestrige.)

Es wäre auch wichtig wegen Gabriele. War sie Kollegin (oder Sekretärin)? Und ihr Mann, der Alexander ebenfalls kannte – »Ich glaube, du spinnst.« –, saßen sie alle im gleichen Boot?

Er hatte sich einen Beruf mit (weitgehend) geregelter Arbeitszeit und sicherem Arbeitsplatz ausgekuckt, wie seine Mutter ihn sich für ihren Sohn gewünscht hatte. Dabei konnte sie nicht sagen, worin er eigentlich bestand, so daß sie ihn trotz der vertrauenswürdigen Merkmale, die sie ausdrücklich guthieß, weniger besorgt als vielmehr enttäuscht war. (Sie hätte es deshalb auch ganz gern gesehen, wenn Alexander auf die Fresse gefallen wäre, aber natürlich nicht doll.) Es mußte ein Beruf ohne innere Wahrheit und Verpflichtung sein, befand sie, und meinte damit natürlich ohne echten Vorgesetzten, sonst hätte Alexander sich doch nicht in das französische Projekt seines Kollegen hineinziehen lassen, wie er beiläufig am Telefon erzählte, nur weil der aus ihm herauswollte. Es sei denn, die (aus dem Süddeutschen stammende) Mutter hatte keine Ahnung und es verhielt sich genau andersherum: erst das Unstete hatte Alexander auf die Höhe seines Berufs gebracht. Wenn man mithalten wollte, erzählte sie denn auch bereitwillig den Nachbarn, mußte man einfach ins Ausland. (Gott sei Dank fragte sie niemand, warum.)

Wahrscheinlich gehörte Alexander zu jenen nicht eben seltenen Menschen, bei denen man niemals bis zum Privatleben vordringt, wenn man bei ihrem Beruf anfängt (nicht mal die eigene Mutter), und wenn beim Privaten, dann niemals bis zum Beruf.

Gabriele hatte in aller Unschuld, aber in einem unglaublichen Übergriff im Kollegen den privaten Menschen entdeckt. (Die französische Mode machte es möglich.) Nur, was hatte sie eigentlich gefunden?

Ihr Mann zögerte nicht, Gabriele einer Sünde zu zeihen, die er die deutsche Sünde nannte und, als deutsche, die Sünde der Frauen. Haarklein bewies er ihr, daß das Ausstaffieren eines fremden Menschen, wie er es nannte, unmöglich funktionieren konnte. Sein Argument lief kurz gesagt darauf hinaus, daß Gabriele nicht bloß in typisch weiblicher Fürsorglichkeit einer Person durch systematisches Zusammenklauben von deren unwesentlichen Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß sie vielmehr, jenseits von Realismus und Gerechtigkeitssinn, die Mücke (Alexander) zum Elefanten (v)erklärte.

Was immer ihm einfiel, es baute den Konkurrenten auf.

Sein Problem war, daß er seiner Frau zwar sagte, was sie fühlen sollte, selbst aber, seitdem sie wie eine dicke, glänzende Gefühlsfliege um einen andern herumbrummte, überhaupt nichts mehr empfand. War das das Funktionsprinzip ihrer Ehe gewesen: daß sie für ihn fühlte? War auch das deutsch? Hatten sie es unausgesprochen immer so gehalten, daß sie sein Gefühlsapparat war (so wie andere einen Hörapparat hatten), und er war ihr Wegweiser? Jetzt ging sie voran, wenn auch unfreiwillig. Sie hätte es vorgezogen, wenn sie auch hier den Weisungen ihres Mannes hätte folgen können. Was passierte, war für ihn deshalb so ärgerlich, weil er Gabriele immer noch verstand und aus alter Gewohnheit mit ihr fühlte. So nickte er mehrmals, wo er hätte den Kopf schütteln müssen. Und reagierte deshalb so verständnislos auf ihre Wahl, weil Alexander ihr auch nichts anderes bieten konnte, als daß sie nämlich sein oder ihrer beider Gefühlsapparat war.

Müßig, sich so viele Gedanken zu machen. Schließlich hatte Gabriele nichts Geringeres im Sinn, als ihr eheliches Amt loszuwerden, um, wer weiß, außerehelich das gleiche zu übernehmen. Noch die feinfühligste Überlegung, wenn sie sie an ihre Ehe zurückband, konnte ihr daher nur lästig sein. Mochte es sich bei Alexander auch um den lächerlichsten Irrtum ihres Lebens handeln, so war er doch ihr Irrtum. (Sie bedachte nicht, daß das nur für den Ehestandpunkt galt, ansonsten war es ein Allerweltsirrtum.) Mochte er der dürftigste Mensch sein, den der Planet hervorgebracht hatte (aber wie sollte er zu dieser herausragenden Stellung eigentlich kommen), so war er doch ihre Wahl (jedenfalls nicht die ihres Mannes) und der Gefühlsquatsch, den sie produzierte, unstrittig ihrer (solange jedenfalls, wie Alexander sich weigerte, mit ihr eins zu werden). Sie war in diesem Übergang und was ihren prekären Status als Noch-Ehefrau betraf, ihr eigener Gefühlsapparat, und damit basta.

In den Wogen der ehelichen Auseinandersetzung ging das Objekt beinahe unter (was einer realistischen Auffassung von ihm entsprach), und manchmal hatte Gabriele das Gefühl, mangels Gegenstand überhaupt nicht verliebt zu sein, so daß ihr Mann schon glaubte, sie hätte es überstanden. Aber wenn sie aus den häuslichen Kämpfen auftauchte – und sie ließ Federn dabei –, wenn sie also auftauchte, Marke gerupftes Huhn, dabei seltsam erfrischt, dann kam es ihr vor, als wenn sie in ihrem Leben noch nie einen Mann wie Alexander erblickt hätte, so ohne Anhang und Vergangenheit und ganz bei sich, in einem Wort: gesammelt. Mußte es ihr nicht vorkommen, als wenn er auf sie gewartet hätte, weil sie ihn verstand oder sagen wir eher ein Auge für ihn hatte? Freilich machte der Mangel an Verhältnismäßigkeit ihr angst, galt der Einsatz doch einer alles in allem kümmerlichen Person, wenn kümmerlich hieß, daß man das Wesentliche dazuerfinden mußte (und einen solchen Menschen lieben hieß, am Wesen mehr zu finden als an der Person). Erschauernd vor der gigantischen Kleinheit des Projekts, in dem ihr dennoch zum ersten Mal ihre eigenen Proportionen berücksichtigt schienen, beschloß sie, alles auf eine Karte zu setzen.

Und der Gegenstand der Auseinandersetzungen, das Kleinod, die Beute, kurz Alexander, Alexander der Ruhige, der Gleichmäßige, der In-sich-Gekehrte, aber neuerdings auch Spontane, Herzliche, Aufleuchtende, was war mit ihm? Spürte er das Kulissengeschiebe um ihn herum, profitierte er (natürlich unbewußt) vielleicht sogar von der Hitze der andern, die er nur zu reflektieren brauchte? (Das sparte Energie.) Und was tat er nun eigentlich beruflich (ebenso wie Gabriele samt ihrem Mann, nicht zu vergessen Gabriel und die ganze Blase)? War er Lektor, Redakteur, Informatiker, Berufschullehrer, Übersetzer oder Werbegraphiker?

6

Als Alexander sich zum ersten Mal von Gabriele anfassen ließ, war die Gelegenheit günstig. Alexander – o Wunder – hatte sich mit einem Kollegen gebalgt, Gabriele sich eingemischt. Schweratmend stand sie vor ihm, stützte sich mit der einen Hand auf seinen gestreiften Unterarm und angelte mit der andern nach dem Locher, den er über den Kopf hielt; denn um dieses lächerliche Gerät war es gegangen (zwischen seinem Kollegen und ihm). Dann verlor sie im richtigen Augenblick die Balance.

Wäre sie ihm nicht bereits relativ vertraut gewesen, er hätte auch diese Gelegenheit vorübergehen lassen. Alexander liebte nichts Fremdes. Das war ihm mit seiner Frau so ergangen, die er schon ewig gekannt und zu einem willkürlichen Zeitpunkt geheiratet hatte, und so war es auch mit Mathilde gewesen, die sich in sein Leben gedrängt und die er schließlich zügellos geliebt hatte, ohne sich (oder ihr) im geringsten Rechenschaft abzulegen.

Nicht anders erging es ihm jetzt. Mit dem einzigen Unterschied, daß Mathilde eine obskure Rolle dabei spielte, was er Gabriele nicht vergessen konnte. Als sie, nachdem sie sich hatte auffangen lassen, ihrerseits ihn mit weichen Armen umfing und seinen Kopf mit mütterlicher Gebärde an ihre Brust bettete, da glaubte er einen Augenblick lang, in Mathildes Armen zu liegen. Die war zwar auch nicht knochig, aber weniger gepolstert gewesen, roch auch anders, nämlich höchstens nach Seife. Aber für eine momentane Verwechslung reichte die Übereinstimmung.

Die gute, alte Mathilde! Die trügerische Vorstellung, es handele sich um sie, zerfiel nach Sekunden. Mathilde hatte eine Eigentümlichkeit gehabt, die sich nicht kopieren, über deren Fehlen sich auch nicht hinwegsehen ließ. Es war nämlich so, daß sie sich beim Lieben nicht erhitzte, innerlich schon, aber äußerlich nicht. Ihre Finger blieben kühl, und ihr Bauch wechselte nicht auf das beklemmende Feld der Wärmflaschen hinüber. Ihre Wangen fingen nicht an zu glühen. Eher wurden sie blaß und zitterten ein bißchen. Das war nicht schön (aber echt). In der Umarmung mit ihr wäre Alexander nie erstickt.

Über diese höchst spezielle Einschränkung verfügte Gabriele nicht, und deshalb bekam Alexander sogleich eine asthmatische Beklemmung, als er sich an die weiche (warme) Brust gebettet fühlte, was ihn nicht hinderte, in Sekundenschnelle alle männlichen Empfindungen durchzuleben, die er lange genug entbehrt hatte und von denen er sich jetzt treiben ließ: auf der Suche nach Erlösung. Gabi nahm die widerspruchsvollen Regungen wahr, begegnete ihnen ohne Kleinmut und akzeptierte sie als Versprechen. Daß Alexander nach Luft rang, entging ihr nicht. Aber weder kam sie vor Sorge um, noch beging sie den Fehler, schlichte Atemnot mit dem Paroxysmus der Liebe zu verwechseln. Die Einsicht, daß das eine mit dem andern nichts zu tun hatte, hinderte sie indessen nicht, eine zutiefst mütterliche Freude zu empfinden, wie wenn ein Baby weint und die Mutter ihm scheinbar herzlos zuschaut. Für sie ist der Anblick eine Freude.

Mochte die ästhetische Position, die Gabriele gegenüber Alexander bezog, erhaben oder trügerisch sein, sie ersparte es ihr, sich über Gebühr beeindrucken zu lassen. Aufruhr, wenn man ihn ernstnahm, erzwang Abbruch. Gabriele traute es sich demgegenüber zu, ihm einen Rahmen zu bieten, Alexander ein Halt zu sein, so daß er ohne Angst vor Ersticken lieben und ohne Angst vor Verlust – ersticken konnte. Ein bißchen mütterlicher Sadismus war wohl dabei, eine selbstherrliche Verfügung über das, was guttat, eine verdammte Nötigung. Wenn ihm die Luft ausging, dann spürte Alexander, daß er Gabi brauchte, sie war seine Luft.

Während er an ihrer Brust wühlte, teils zu entkommen, teils zu landen versuchte, zog Gabriele den Strick, den sie mit ihren Haut-, Kleider und Gefühlsfalten um ihn legte, ungerührt ein wenig enger. (Sie gab ja acht, daß nichts passierte!) Es blieb Alexander, der nun wirklich fast erstickte, nichts anderes übrig, als das Angebot frommer Sterbehilfe anzunehmen und sich (mit dem Schwur, daß ihm das nicht noch mal passieren sollte) in den Wogen von Gabrieles weichem, weiblichem Rock zu verströmen.

7

Natürlich passierte es wieder. Aber Alexander besann sich auf seine Widerstandskraft. Vom Gipfel der Liebe ging es in langer Talfahrt bergab. Gabriele begriff erst später, daß die erste Umarmung das Ende eingeläutet hatte. Sie konnte es nicht fassen. Ich raff es nicht, sagte sie laut, so als könnte der saloppe Ausdruck ihr darüber hinweghelfen.

Gabriele war eine gute Ehefrau gewesen. Ihr erstes Bedürfnis trieb sie, ihren Mann um Rat zu fragen. Die Niederlage war überwältigend, Hilfe auf der Skala ihrer Lebensfunktionen gleichsam mit Leuchtschrift, in SOS-Rhythmen angefordert. Sie konnte gar nicht anders, als zu ihm zu gehen. Als sie aber in seinem sogenannten Arbeitszimmer stand, das Pfeifensammlung, PC, Tennisschläger und gelegentlich auch ihn selbst beherbergte, da hatte der Raum bereits einen so neutralen Ausdruck angenommen, der Geruch, den er ausströmte, war so eindeutig ein unbekannter Geruch (das heißt, nicht der von Alexander, mit dem Gabriele sich vermischt hatte), der Blick ihres Mannes so fremd, auf die Abwehr weiterer Zumutungen gerichtet, daß sie auf der Schwelle wieder umkehrte und sich fragte, wer sich nun eigentlich emanzipiert hatte, sie oder er.

Im Flur stand ein mannshoher Spiegel, noch aus Gabis Junggesellenzeit, den sie anders nicht untergebracht hatten. Wer das Zimmer ihres Mannes verließ, betrat gewissermaßen ihn. Sie hatten sich über den Effekt amüsiert, bis sie ihn nicht mehr bemerkten. Als Gabriele jetzt in Gedanken versunken die Tür zum Zimmer ihres Mannes hinter sich zuzog, erblickte sie im Spiegel eine unbekannte Frau in fließendem Gewand und war entsetzt.

Wollte sie unter den Röcken gebären? Woher kam überhaupt der massige Eindruck, der falsche mütterliche Zug? Sie war weder dick noch dünn (dünn auch nicht), um die Hüfte nicht breiter als andere Frauen. Unter ihrem Kinn hatte sich jener doppelte Ansatz gebildet, der auf ein gewisses Alter, eine gesunde Körperhaltung und eine unbefangene Einstellung gegenüber dem Essen schließen ließ. Was sie befremdete, war nicht der eine oder andere Defekt – über die Proportionen ihres Untergestells, zum Beispiel, hatte sie sich nie die geringsten Illusionen gemacht (oder ihr Mann, dagegen gleichgültig, hatte sie ihr schmunzelnd genommen) –, sondern dieses Undurchdringliche, Flächige, so als wäre hinter dem Äußeren nichts als Entschlossenheit, ein geradezu physischer Wille, sich Platz zu schaffen.

Eheleute, auch die mit ihnen umgingen, zogen das Volumen des einen und des andern zusammen und teilten die Summe durch zwei. So kam das theoretische Gewicht des einzelnen heraus, theoretisch, weil der empirische Hintergrund die Zwei war. Durch diese wunderbare Rechnungsart glichen sich viele überflüssige Pfunde aus. Gabriele war wie ihr Name eher dreisilbig. (Wenn sie in Fahrt geriet, wurde Gabi daraus.) Wie sollte sie ohne die gewohnte Subtraktion von ihrem Mann (der eher lang als breit war) sich nicht monströs vorkommen? Und Alexander, der so bezaubernd war, weil er sich nie von irgend jemand subtrahieren lassen würde: Wie sollte der sie ertragen? (Wie sie um ihn freien?) Wie klappte das überhaupt unter den Menschen, wie war das so häufig gutgegangen?

In dem Moment hatte Gabriele ihr Spiegelbild hinter sich gebracht.

So nicht, sagte sie laut (wenn schon ihr Mann nicht mit ihr sprach, mußte sie es tun). Zwar hatte sie dies und das erreicht, wovon sie vor ein paar Wochen nicht zu träumen gewagt hätte. Alexander hatte sie drei oder viermal geküßt, gewissermaßen sexuell. Aber sie hatte um jeden neuerlichen Kuß kämpfen müssen wie um den ersten. So ineinandergeschoben, kamen ihr die Szenen der Liebe, der ganze Liebeshandel kam ihr verächtlich vor. Was sollte ihr Alexander, wie kam sie überhaupt in seinen Roman? Zum ersten Mal erstand vor ihrem träumerischen Blick ein Bild vom Alleinleben, nicht als Akt, sondern als Zustand. Es war in sich stimmig, entwickelt aus der Logik des Todes, daher widerspruchsfrei, aber alles andere als ermutigend. Was soll’s, dachte sie vage, wenn man allein starb, mußte man auch allein leben können.

Soviel hatte Gabriele bereits angerichtet, daß sie das Ende als Befreiung empfand. Beiläufig würde es sie von ihrem Körper erlösen; sie streckte sich, als wäre es bereits soweit. Ohne noch an den Spiegel, überhaupt an Äußerlichkeiten zu denken, schnappte sie sich ihre Jacke, ihren Rucksack. Sie war zwar gerade erst heimgekommen. Aber sie mußte unbedingt raus. Es hielt sie nichts mehr zu Hause.

8

Sie merkte kaum, daß ihre Füße sie zurück ins Büro trugen, noch weniger rechnete sie mit Alexander. Bei ihrem Anblick ging jenes Leuchten über sein Gesicht, das sie mittlerweile zum Kronzeugen dafür anrief, daß sie es besser wußte als er. Dabei schob sie die Erinnerung an vergleichbare Situationen, nur mit anderen Beteiligten beiseite, wo sie es ebenfalls bemerkt hatte. Ein spöttischer Bekannter hatte es, gar nicht dumm, als Alexanders Beitrag zum Leben bezeichnet. Aber das, was es in Gabriele entzündete, war alles andere als vergleichbar.

Alexander glaubte grundsätzlich an den Zufall, und Zufall mußte es sein, wenn Gabriele so spät am Tag noch einmal aufkreuzte. Gabi empfand alle Sehnsucht der Welt. Es trieb sie vorwärts, irgendeiner Entscheidung entgegen. Äußerlich gelassen, machte sie sich an seinem Schreibtisch zu schaffen und nestelte dann an Alexanders Kragen, um ihm Gelegenheit zu geben, sie in die Arme zu schließen; denn man durfte um Gottes willen das Leuchten nicht ausgehen lassen. Wenn es nicht möglich war, in Besitz genommen zu werden, weil – wie sie erneut an Alexanders Zaudern erfuhr – dies eben nicht das Modell ihrer Vereinigung war, so wollte sie doch jenes andere nicht hintertreiben: in Besitz zu nehmen. Wahrhaftig, schwer war die Umwandlung von Licht in Wärme (oder so ähnlich)!

Hörte er das Zeter und Mordio in ihrem Innern? Er spürte die Wärme, die von Gabriele ausstrahlte, und empfand sie in diesem Moment als einen wohltuenden Gegensatz zu jener kühlen Junggesellenatmosphäre, in der das Büro badete und die auch nicht ohne Reiz war. Darüber hinaus war er weit davon entfernt, Gabriele etwa für monströs zu halten, äußerlich oder innerlich. Frauen waren nun mal weiblich (und er war keine Frau). Ohnehin fand er die Debatte unangenehm, beinahe pornographisch. Wenn man den Standpunkt des Betrachtenden aufgab, um den des Beurteilenden einzunehmen, war man in der Liebe so gut wie geliefert.

Hilfesuchend streckte er die Hand nach ihr aus, obwohl er sich vorgenommen hatte, genau diese Geste zu unterlassen. (Es mußte ein Ende haben, sagte er sich.) Nichts auf der Welt hätte Gabriele hindern können, sie zu fassen und gerade so, wie es in den alten Romanen stand, an ihrem Busen zu bergen, hatte sie die Brücken doch hinter sich abgebrochen, und wenn ihr die Hand auch merkwürdig klobig, eher wenig ausgebildet als groß erschien, so war sie – wie sie mit einer gewissen Befriedigung über die Vereinfachung ihrer Lebensverhältnisse feststellte – doch das einzige, was sie besaß. Sie ergriff sie also mit der Tapferkeit, die es braucht, um das Unabänderliche zu akzeptieren, und in dieser man muß schon sagen Pose fand sie die Reinigungsfrau, die hereinkam, um den Papierkorb auszuleeren und die Berge schmutzigen Geschirrs zu spülen.


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