Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(7) E. erzählt

Und jetzt träume ich noch einen anderen Traum. Er handelt davon, daß S. einen Spielraum für seine Fürsorglichkeit entdeckt, ein ungefährliches Betätigungsfeld. Denn fürsorglich an sich ist er ohnehin, alle seine Handgriffe sind umsichtig und bedacht, und er ist ein leidenschaftlicher Vater, das sagt er von sich selbst. Aber außerhalb des legitimen väterlichen Bezugs lehnt er jede Verantwortung ab. Er haßt es, sagt er, wenn seine Fürsorge unbeabsichtigte Ergebnisse zeitigt: daß man sich an ihn hängt, sich, wie er mißbilligend sagt, in ihn verknallt. Er verpflichtet sich zu nichts; lieber verhält er sich gar nicht.

Aber in meinem Traum hat er einen Spielraum für seine Fürsorglichkeit gefunden, oder ich träume, wie er ihn findet. Ich träume, wie er ihn entdeckt! Es ist ein poetischer Traum von der Liebe, ein poetischer Traum von der Fürsorglichkeit und ein finsterer Traum vom Schutz, ein Traum von finsterer Schützenhilfe.

Ich schäme mich, daß ich ihn träume.

Und so geht der Traum.

S. schließt mich endlich in die Arme. Er weiß jetzt, was er will, oder er weiß, daß ich die Richtige für ihn bin und nicht, wie er immer gedacht hat, die Falsche. Jeder – außer mir natürlich – wird ihm zubilligen, daß der Entscheidungsprozeß nicht so einfach war, objektiv gesehen. Aber nachdem er über seinen Schatten gesprungen und zu einer Entscheidung gelangt ist, kann er sich mit traumwandlerischer Sicherheit orientieren. Das Suchen liegt hinter ihm und das Irren. Indem er sich entschieden hat, hat er gefunden. Er hat sich entschieden, seinem Gefühl zu vertrauen. Er hat sich entschieden, seinem Herzen zu folgen. Er steht jetzt auf der Seite seines Herzens. Er hat sich auf die Seite seines Herzens gestellt! Wie soll er da noch schwanken?

Er weiß jetzt, um mich zu lieben, müßte er nicht sein ganzes Leben ändern, wie er steif und fest behauptet hat, als er noch schwankte. Er müßte nicht sein ganzes Liebeskonzept ändern. Seit er aufgehört hat, mich an meinem Verstand zu messen, der, wie er sagt, ein echter Hinderungsgrund, ein breit sich ins Gesichtsfeld des Liebenden schiebendes Hindernis ist, seitdem er mir sein Herz zugewandt hat, meinem Herzen seins, seitdem weiß er, daß er gar nichts ändern muß, nur mich so lieben, wie ich ihn liebe, und ich liebe ihn so, wie er ist.

Es stimmt auch nicht, was er früher sagte, daß ich eigentlich zuviel Verstand habe, um nach Strich und Faden geliebt zu werden. Wenigstens sind bei mir Herz und Kopf nicht zu einem Knäuel verwirrt, so wie bei andern, sie bilden kein unsauberes, halbherziges Gemenge, sondern existieren fein säuberlich getrennt, scharf voneinander geschieden. Wer sich bei mir einmal für Herz entschieden hat, der kriegt Herz pur und viel mehr Herz jedenfalls als von denen, die vielleicht dümmer sind als ich – oder weniger intellektuell –, dafür aber gar nicht wissen, was Herz ist und ob sie welches haben; obwohl ein Gemenge vielleicht auch seine Reize hat und das Unsaubere im Hinblick auf Machtfragen unentbehrlich sein mag, im Hinblick darauf nämlich, ob Macht überhaupt zustande kommt; denn das ist nicht so einfach. Macht ist gar nicht so leicht herzustellen und nicht so leicht zu ergattern. Es gibt nicht viel davon. Aber wenn zum Beispiel ein Verstand ein Herz erobert, indem er den zu diesem Herzen gehörenden Verstand niederringt; oder wenn dieser Verstand einen anderen Verstand erobert, indem er das zu diesem Verstand gehörende Herz niederringt; oder wenn einer sein eigenes dürftiges Herz sich an dem Verstand eines andern entzünden läßt oder seinen müden Verstand am Herzen eines andern, zu dem wiederum ein anderer Verstand gehört: dann entsteht für Macht das nötige Gefälle.

Aber davon träume ich jetzt nicht. Ich träume, daß alles Schwanken ein Ende hat. S. hat sich auf meine Seite gestellt. Er schließt mich in die Arme. Er hat sich entschieden, hat sich mir zugewandt. »Er«, das bezeichnet einen besseren Anwalt meiner als ich selbst, »zugewandt« bezeichnet ungeteilte Aufmerksamkeit gerade für das an mir, was ich immer vernachlässigt habe, was einem Aufmerksamkeitsdefizit zum Opfer gefallen ist, einer Unfähigkeit – die im übrigen gar nicht zu mir paßt –, mich auf einen Punkt zu konzentrieren, wenn dieser Punkt eben mein Körper ist. Das ist allerdings fatal, hat er doch ohnehin eine Neigung, sich in jedem unbeobachteten Moment von mir abzukoppeln, und scheint nur lose mit mir verknüpft; und das wiederum ist schmerzhaft, wie das Fehlen von schmerzenden oder das Schmerzen fehlender Gliedmaßen.

Aber S. liefert ihn mir auf dem Silbertablett. Abschnitt für Abschnitt mustert er meinen Körper.

Ich gehe ihn mal eben durch, sagt er lächelnd. Du hast doch nichts dagegen.

Gedulde dich einen Moment, sagt er lächelnd, ich stelle ihn dir gleich vor – oder dich ihm? Was ist dir lieber? Für wen von euch beiden darf ich die Honneurs machen?

Sieh ruhig hin, sagt er, ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund, sich zu grausen.

Ich habe schon hingesehen, sagt er, und grause mich auch nicht.

Hier und da ein bißchen Orangenhaut, sagt er, die üblichen Krähenfüße, ein paar Falten, genaugenommen ein ganzes Netz davon, aber das sieht man nur, wenn du nicht ausgeschlafen bist, eine überraschende und auch übertriebene Bitternis um das Kinn – trenn dich davon! –, auch Knochenabbau an sensiblen Stellen, ein bißchen schlaff alles, natürlich, aber alles beseelt. Kein Grund jedenfalls, dich von dir abzuwenden, einer gespenstischen Vorstellung zuliebe, die jeder Grundlage in den Tatsachen entbehrt.

Sieh hin, sagt er, betrachte deinen Körper.

Sagt, ich adoptiere ihn für dich, soll ich? Mehr kann ich nicht für dich tun.

Das alles sagt er natürlich nicht, schon gar nicht in meinem Traum. Er sagt gar nichts. Aber er schließt mich in die Arme, so als schlösse er damit eine Reihe von Überlegungen ab, und ich lasse mich in die Arme schließen, als hätte er dies alles gesagt.

Aber im Traum lächelt er natürlich nur, und ich kann mir alles denken.

Er schließt mich in die Arme und mustert meinen Körper, Stück für Stück, voller Liebe. Er wärmt ihn zwischen seinen guten Händen, erregt ihn mit seinen kühlen Fingern, weckt ihn durch die Berührung mit seiner Haut; weckt ihn auf. Ich stelle fest – wie dieser Traum überhaupt eingebettet in Gedanken ist –, daß ich meine andere Hälfte gefunden habe, den umsichtigen Anwalt meiner körperlichen Belange. Durch ihn vervollständige ich mich und kann ihn daher nicht missen. Dabei kann von Liebe nicht die Rede sein – wie soll man sich selbst lieben oder seine andere Hälfte? Wie soll man lieben, was man nicht missen kann? Wo wäre der Spielraum für Liebe?

Ja, wenn beide Hälften bloß Körper wären, dann hätte es mit dem Verzichten keine Not. Es hätte mit dem Behalten keine Notwendigkeit. Aber wenn die eine Hälfte Stoff ist, die andere Form, die eine Materie, die andere Leben, dann, sage ich, gibt es schlechterdings keinen Spielraum.

Aber das sage ich mir im Traum natürlich nicht – ich weiß es!

Während er mich umarmt und wir die zwei Hälften eines Ganzen sind, merke ich, wie ich durch seine Arme gleite, mit meinen erst bleibe ich in seinen hängen. Meine in seine verschlungenen Arme bilden für die zusammengedrückten kleinen Brüste ein Nest. So bin ich vollkommen geborgen, wäre jener durchgeschlüpfte untere Teil von mir nicht der Zugluft ausgesetzt, ich spüre es deutlich, und hätte er selbst nicht ein unangenehmes Gewicht. Das zieht förmlich an mir und quetscht meine kleinen Brüste in ihrem Nest unentwirrbarer Arme zusammen. So ist das mit der Fernwirkung meines unteren Teils auf den oberen!

Irritiert spüre ich, wie auch S. etwas irritiert; er denkt. Warum denkt er? Was hat ihn aus dem Konzept gebracht? Den Kopf über meinem, das Gesicht mit der müden, glatten Haut, die ich so liebe, nah bei mir, von seiner Wärme mir abgebend für meine, Nest für mich, Heimat, Zuhause, spüre ich, wie er denkt, und fühle, daß ich im Zug stehe und die Schwerkraft – sicherster Beweis für Alleinsein und Ausgesetztsein – an mir zerrt.

Vertrau mir, murmelt er mir ins Ohr, und ich weiß ja, daß Vertrauen das Wesen meiner Beziehung zu ihm ist; schließlich ist er mein Nest, und er verwaltet meinen Körper, wenn auch mit einer gewissen Präferenz für den oberen Teil (zu dem der Kopf gehört, das Kaninchenfell und die blauen Augen). Den Rest dagegen hat er schon wieder dem anästhetischen Zustand überantwortet, in dem er meistens vegetiert, und wenn mich das auch nicht weiter bedrückt, so hängt er, soeben aus dem Nest gefallen und von der Erinnerung noch nicht entsorgt, wie mit einem Faden an dem bevorzugten Teil und an diesem Faden mit seinem ganzen Gewicht.

Ich bin bei dir, murmelt S. beschwörend in mein Ohr und ist, was Lebensatem, Duft und Wärme von ihm angeht, ganz so bei mir, wie ich in seinen Armen bin.

Gleichwohl spüre ich, wie er denkt. Er ersinnt etwas, heckt Machinationen. Er wirkt belebt. Sein Verstand betätigt sich verstandesförmig. Ja, sein Verstand arbeitet! Sein Kopf arbeitet als Kopf.

Vertrau mir, murmelt er und schließt mich fester in die Arme.

He, Eddi, ruft er halblaut, komm mal rüber.

Komm mal rüber, Eddi, ruft er halblaut, ich hab was für dich.

Ganz ruhig, murmelt er, die Lippen zart an meinem Ohr, ich bin ja bei dir, hab keine Angst.

Komm mal n'Moment rüber, Eddi, ruft er halblaut, und Eddi kommt.

Ich sehe ihn nicht, aber ich kenne ihn von außerhalb des Traums. Er ist viereckig und unbeseelt. In welchem Abschnitt seines kaum unterteilten Körpers hat er seine Lüsternheit versteckt, und wie hat S. sie entdeckt?

Während S. mich festhält und Eddi sich an mir zu schaffen macht, in jener unentwirrbaren Mischung aus Sachlichkeit und Schüchternheit, die jeder, der ihn kennt, mit ihm verbindet, während S. meinen oberen Teil festhält und Eddi sich jenem unteren Teil von mir zuwendet, der aus dem Nest gefallen ist, während er auf seine Art beweist, daß auch er über die Fähigkeit des Musterns, der Inaugenscheinnahme, des Gutheißens und Gutseinlassens verfügt, während er mich so in einer bedächtigen, aber gründlichen, einer nicht aufgeregten, aber nichts ausschließenden und nichts auslassenden Weise herannimmt, schließt S. die schützenden Arme noch fester um meinen Oberkörper, beugt den lockigen Kopf tiefer über meinen, hält mich, aber erstickt mich nicht. Ich kann mit dem Kopf noch hin und herrühren, bald mit der einen, bald mit der andern Wange bei ihm Schutz suchen, die Nase in den hübschen Gruben über seinen Schlüsselbeinen bergen, seinen guten Duft riechen, mit den Lippen um Schonung bitten auf seinen Lippen. Nur allzu bereitwillig kommt mir sein Mund entgegen.

Ich bin ja da, murmelt er, während Eddi jetzt rüde zur Sache geht, und hält mich.

So gut hält er mich, so ganz hingegeben ist er an diese Aufgabe des Haltens und Bergens, daß es für mich, nähme mir sein Mund nicht jede Luft, wahrhaftig keinen Grund aufzuwachen gäbe.


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