Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(8) E. erzählt

Die du hier eintrittst, laß alle Hoffnung fahren, stand für mein in seinem Urvertrauen erschüttertes Gemüt wie mit leuchtenden Lettern über der Tür des nach der Dunkelheit von Durchgang und Hof im Schein seines frischen Anstrichs matt schimmernden Seitenflügels. Halb Kellertür, halb porte cochère eines großen Etablissements, einer Theater- oder Opernbühne, bewachte sie den Eingang zum Paradies jener seltsamsten Art, die sich von der Hölle partout nicht unterscheiden läßt - sofern man einräumen will, daß es auch in der Hölle anheimelnd und vertraut und häuslich riechen kann. Durch die dicht geschlossenen Lamellen der Jalousien fiel gerade nur soviel Licht, daß man erkennen konnte, wie die Räume verliefen; sie erstreckten sich über die ganze Länge des Seitenflügels, wurden aber seltsam geteilt durch das Treppenhaus, zu dem eine eigene, unauffällige Tür führte, durch die gerade zu den Übungszeiten beständig Leute ein- und ausgingen, so als wollten sie auch zum Training. Wenn man dagegen den Übungsraum betrat, war er manchmal ganz leer.

Ich öffnete die Tür und stand im hellerleuchteten Vorraum, wo ein Elektrokocher lustig brodelte, bis er sich von selbst ausschaltete, und angenehme Düfte aus einer kleinen Teekanne aufstiegen, in der bereits der Tee-Extrakt zog und darauf wartete, in der großen chinesischen Kanne aufgeschüttet zu werden, aus der die Schwaden des wärmenden Wassers aufstiegen.

Laß alle Hoffnung fahren, sagte ich mir und stellte gehorsam die Schuhe unter der Spüle ab, mich gleichsam entmannend. Aus dem entfernten Übungsraum drangen Geräusche, durch den im 90º-Winkel um das Treppenhaus herumführenden engen Flur näherte sich ein rascher, schneller Schritt wie von einem Roboter, einem mechanisch in Bewegung versetzten Ding, das sich nicht aufhalten läßt. Es war mir ein beständiges Rätsel, wie S. bei dem Tempo es um die Ecke schaffte, und unterließ es in dem Moment nie, an Panzer zu denken, nicht an die von früher, die in ihrer massigen Unbeweglichkeit eine Schneise der Verwüstung hinterließen, sondern an die modernen Tanks, die mit ihrer Beweglichkeit imponieren. Automatisch trat ich einen halben Schritt zur Seite, damit der Tank, der da um die Ecke bog - und in dem Moment, wo er das tat, auch schon bei mir anlangte -, gegebenenfalls durch die Tür brechen konnte, falls er nämlich nicht rechtzeitig zum Stehen kam. Das war natürlich reine Halluzination, durch und durch Schönfärberei; denn zum Ausweichen war gar kein Platz, es sei denn, ich hätte mich unter der Arbeitsplatte, gleich neben dem Mülleimer verkrochen. Aber noch bevor ich mir die Ausweglosigkeit der Lage eingestanden hatte - eine Anstrengung, der ich mich mit schöner Regelmäßigkeit zweimal pro Woche unterzog -, hatte S. sich zum Stehen gebracht. Er musterte mich, die Insignien seiner jüngsten Tätigkeit, Kehrschaufel und Handfeger, in den erhobenen Händen, kühl mit irrlichterndem Blick und beförderte den Dreck mit Schwung haarscharf an mir vorbei in den Mülleimer.

Na? sagte er herausfordernd, so als wäre ich ein Stein des Anstoßes für ihn oder er jedenfalls jederzeit und mit Freude einer für mich.

Alles Scheiße, setzte er nachdrücklich und bereits als Friedensangebot hinzu, schaffte es dabei aber, mir klarzumachen, daß ich, wenn ich an diesem Befund auch nicht schuld war, an ihm doch nichts ändern konnte, mit meiner Anwesenheit nicht und mit meiner Person schon gar nicht.

Ich zuckte pflichtschuldigst zurück und verzog mich in den Umkleideraum, der sozusagen den rechten Flügel des Anwesens bildete. Er war langgestreckt, fast leer, mit glatten Wänden, so als hätte man beim Einräumen sogar die Fenster vergessen oder der Idee der Konstruktion vor der des Zwecks den Vorzug gegeben oder mehr an die Räumlichkeit als an die Bewohnbarkeit gedacht. Möbliert war er nur mit einer Garderobe aus filigranen Metallstäben und einigen Hockern auf unwahrscheinlich dünnen Beinchen, die weder Sitzfläche noch Haltbarkeit versprachen, dabei zweckmäßig und stabil waren, man mußte nur auf den Komfort verzichten zu sehen, worauf man saß. Licht bekam der Raum von einem einzigen Fenster, an seiner Stirnseite, das zum Hof ging, und wenn er gut drauf war - was nach dem Training häufiger vorkam als davor -, pflegte S. auf der Fensterbank zu sitzen und uns zu unterhalten, breitbeinig, dabei feingliedrig, kasperlehaft gelenkig, mit dem Hintern gleichwohl gut angepflockt, die Beine baumelnd und über dem dampfenden Heizkörper leicht angezogen, mit wippenden Füßen, die Hände voller Spannkraft beidseitig fest aufgestützt, während wir uns zwischen verschwitzten Turnklamotten, bürgerlichem Outfit und dem naturalistischen Anblick unserer Körper derangierten. Meist unternahm er einen tour d'horizon durch die Grenzgebiete von Kultur- und Naturwissenschaften, gewissermaßen eine Gratwanderung entlang ihren Nahtstellen, und informierte uns über die jüngsten Bewegungen im Bereich des aktuellen Wissens, wobei er geschickt aufnahm, was wir, unterschiedlichster Profession, aber sämtlich Querköpfe, Individualisten, unsererseits beizutragen hatten, und so einen utopischen Augenblick lang die Illusion erzeugte, als wäre sein Umkleideraum ein geistiges Zentrum, das Zentrum des allgemeinen Verstandes, wohlgemerkt, nicht der Klassenraum irgendeines Fachidioten.

Wenn er gut drauf war, versteht sich.

War ich durch den Empfang schon hinreichend deprimiert, dann schlüpfte ich bloß aus dem Mantel, der über den unbeschuhten Füßen grotesk abstand, behielt aber die Wollmütze auf. Ich zog das Buch aus der Manteltasche, das S. an guten Tagen gewissermaßen als Einlaßkontrolle mit einem blitzschnellen Griff kontrollierte, ließ mich vorsichtig auf einem der Hocker nieder und las ein paar Takte. Von der Stille angelockt, erschien S. über kurz oder lang in der Tür - hätte ich ein munteres Wort an ihn gerichtet, wäre er dagegen unfehlbar um die 90º-Ecke des Flurs verschwunden. »Hier wird nicht gelesen«, sagte er schon ganz besänftigt, und dann schwatzten wir. Ich sortierte meine sorgfältig nach dem Grad einer eleganten Verlotterung ausgesuchten Sportsachen und wartete den günstigsten Moment für das Umkleiden ab, zum Beispiel wenn er endlich den Tee umschüttete. Das dauerte nur Sekunden, aber mehr brauchte ich auch nicht, wenigstens für die heiklen Operationen.

Manchmal brodelte bei meinem Eintritt schon das Gespräch.

Im engen, scharfgewinkelten Flur machten sich Frauenbeine breit. Ansehnliche Hinterteile überwölbten die zarten Stühlchen, ließen mich an meinem eigenen Geschlecht zweifeln. Das eine Bein salopp über das andere gelegt, wurden Socken übergestreift und Perspektiven eröffnet. In Toulouse-Lautrecscher Manier wurde ungeniert Fleisch ausgestellt, und wenn nicht »ungeniert« und auch nicht »ausgestellt« - denn von mir abgesehen, waren wir alles anständige Leute -, doch als die Tatsache behandelt, die es offenbar war. Im Traum hatte ich manch unerbetenen Einblick zu verarbeiten und häufte, was die Wahrheiten meines Geschlechts und meine eigene Wahrheit anging, Zweifel auf Zweifel. Einmal träumte mir - und das war noch in den seligen prähistorischen Zeiten, als ich zum Training ging, und damit hatte es sich, oder die Zeichen des drohenden Umschlags nicht erkannte, zu denen dieser Traum gehörte, kein Zweifel -, da träumte ich also, daß ich zwischen den Beinen von S. ruhte, der den Körper der weiblichsten seiner Schülerinnen angezogen hatte, mütterlich geborgen, wenn auch von Fleischmassen bedrängt. S. lieferte zu dieser Person nichts als den Kopf, und der war weit weg, schien er doch selbst nicht zu wissen, was für einen Körper er hatte und daß ich, verirrt zwischen riesigen Schenkeln wie Odysseus und seine Kameraden zwischen den Schafen, bei ihm lag, die Höhle drohend vor Augen.

S. fühlte sich in der weiblichen Gesellschaft übrigens pudelwohl, wie in den Himmel der Tatsachen emporgehoben, dahin, wo es keine größere Legitimation gibt als die Existenz und Bosheit und Häßlichkeit, die aus dem Ideal kommen und mit »du müßtest« und »warum bist du so«, mit »ach, wäre doch« und »hätte ich nur« argumentieren, keine Existenzgrundlage haben und es nichts Größeres über eine Sache zu sagen gibt, als daß sie ist, und auch nichts Schöneres festzustellen, kein höherer Grad an Schönheit, kein ästhetischeres Argument geltend zu machen ist, als daß etwas existiert. Unermüdlich redend, Unterhaltungsenden verknüpfend, Bezüge herstellend unter seinen Gesprächspartnerinnen, zwischen ihm und den andern, zwischen heute und früher, wie eine muntere Spinne an einem Netz wirkend, das in dem Moment, wo es fertig war, immer schon existierte und in dem wir alle uns situieren konnten - außer mir, natürlich -, schlüpfte er bedenkenlos aus seinen Hosen, stellte seine runden Schenkel gewissermaßen der Allgemeinheit zur Verfügung, hielt nicht mit sich hinterm Berg, wo alle andern ebenfalls nicht mit sich hinterm Berg hielten, zierte sich nicht, ja, sah überhaupt keinen Grund, sich zu zieren.

Der Zufall hatte es arrangiert, daß im eigentlichen Umkleideraum eher die Männer sich umzogen. Anders als die Frauen, die den Flur in Nullkommanichts in einen Harem verwandelten und deren Klamotten und Taschen über sämtliche zur Verfügung stehenden Sitzgelegenheiten sich ergossen, hielten die Männer sich und ihre Sachen sorgfältig zusammen, so als wären sie durch den äußeren Sitz ihrer Geschlechtsorgane und die Tatsache, daß sie, um sich zu verwirklichen, ihren Samen hergeben mußten, von Kind auf geprägt, sich zu sammeln, nicht zu verstreuen. Sie verstauten ihre Kleidung in der Sporttasche, ihren Körper in der Hose und schufen mit jeder Handlung, durch die Unordnung entstand, gleichzeitig Ordnung. Auch hier spielte S. des öfteren den spiritus rector der Unterhaltung und schlüpfte erst im allerletzten Moment aus seinen Sportsachen.

War er schlecht beieinander, hielt er sich zu den Männern - tant pis, wenn keiner da war! Ging es ihm gut, war es im Grunde dasselbe; nur war es dann nicht so schlimm, wenn lediglich Frauen anwesend waren, was unter schlechten Bedingungen zu einer Katastrophe führen konnte, zu Zerwürfnissen und Rausschmissen, brach seine misogyne Seite sich doch ungehindert Bahn.

Redete er an guten Tagen mit den Frauen, so als gäbe es kein Geschlecht, so an schlechten mit den Männern, als gäbe es keine Frauen. Mit Umkleiden beschäftigt oder untätig halb in der Tür lehnend, wohnte ich gewissermaßen meiner Annullierung bei, wurde Zeugin meiner Abwesenheit, ach was, meiner Nichtexistenz. Ich fing an zu frieren, wie wenn ich an kühlen Tagen zuviel Buttermilch getrunken hatte, während nebenan im Flur meine Geschlechtsgenossinnen schwatzten und lachten.

Ungehindert strömte alle Hoffnung aus mir heraus; ich konnte sie nicht halten.

Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, daß Frauen durch bestimmte Themen ausgeschlossen werden konnten; jetzt bekam ich es vorgeführt. Dabei ging es nicht um Zweideutigkeiten, o nein - Anzügliches ergab sich regelmäßig in der Unterhaltung zwischen S. und uns Frauen und war ein ewiger Anlaß für Gelächter. Es ging um Themen, bei denen Frauen nicht vorkamen, in denen sie nicht anwesend waren, nicht als Ziel oder Zweck und nicht als Motiv oder Grund, auch nicht als Mittel, nicht einmal als begleitender Umstand, eine ästhetische Färbung, eine Aura oder ein Ton, sondern gar nicht. Genaugenommen hatte das nichts mit den Themen zu tun. Was das anging, hätten wir uns nicht so leicht ausschließen lassen; Fußball interessierte uns mehr als die Männer, und nach Gran Canaria oder Mallorca waren wir auch schon gereist (ich nicht). Es hing weniger mit den Themen selbst zusammen, ihrem fehlenden Bezug zur Weiblichkeit, als mit der aktiven Kraft, Frauen in ihnen nicht vorkommen zu lassen. So sehr ich mich ausgelöscht fühlte - und ich wechselte vor Verzweiflung ins Französische hinüber und sagte zu mir: anéantie -, so sehr bewunderte ich das Auftauchen rein sachlicher Interessen aus einem Meer von Gefühl: Mallorca als Insel, Segeln als Sport und Vergnügen, Fahrradfahren als Lust und Erlebnis. Für mich dagegen hätte Mallorca immer Glück oder Unglück bedeutet, wenn ich je dagewesen wäre. Die Sache hatte für mich kein Gewicht.

Wahrscheinlich sind diese Unterhaltungen deshalb so konkret, sagte ich mir, süchtig nach Aufklärung, wahrscheinlich sind sie deshalb so direkt, so gar nicht verweisend, und darin von einer paradiesischen Unmittelbarkeit, einer paradiesischen Gegenwärtigkeit, weil sie an die frühen Jahre der Jugend anknüpfen können, an die Realität der Vorpubertät, wo die Dinge noch kein kümmerlicher Ersatz fürs Geschlecht sind und der Vertreter des eigenen Geschlechts nicht bloß Platzhalter fürs andere ist, wo der Freund im erfreulichen Sinn symmetrisch ist, keine Herausforderung und keine Heimsuchung, sondern ein Gegenüber, überhaupt ein Gleiches, eine köstliche Variation der eigenen Person; wo A noch A und B B ist. Wenn ich mich zurückerinnerte, ich mich persönlich, dann fühlte ich nur den Kummer von damals, daß ich kein Junge war und keine Knabenfreundschaft pflegen konnte. Schon damals, schien mir, kam ich in der Welt nicht vor.

Was S. in der Unterhaltung an Unbefangenheit und Brillanz entfaltete, an Intensität und Intimität, davon hätte sich jeder von kundiger Weiblichkeit geführte Salon eine Scheibe abschneiden können. Meist war es ein Zustand des wiedererlangten Wohlbefindens nach Exzessen, bei denen er auf dem Grund seines Lebensbechers den Boden hatte durchschimmern sehen, und darüber war er auf eigentümliche Weise zur Ruhe gekommen. Im Stande der wiedererlangten Unschuld entfaltete er ein Feuerwerk an zugleich engagierter und anspruchsloser, durch und durch uneitler Unterhaltung, einer rechten Unterhaltung unter Jungen. Das war die Belohnung für die Buße, die er zweifellos geleistet hatte; denn natürlich war er erschöpft, wenn das Wochenende vorbei war, und litt, aber sein Hunger war gestillt. Bei seinen Schülern handelte es sich im Gegensatz zu den Frauen in der Regel um Freunde de longue date, noch aus Studienzeiten, oder, wenn er sie erst später kennengelernt hatte, so hatten sie doch schon etwas zusammen gemacht, gesegelt, zum Beispiel, oder geraucht. Beinahe war es egal, ob er gut oder schlecht drauf war: wenn sie eine Weile geredet hatten, sogar über Böses, die Schikanen der Rentenversicherungsanstalt oder der geschiedenen Frau, dann wurde es gut. Vielleicht fingen wir mit dem Üben etwas später an, aber es geschah in Heiterkeit und Frieden.

Ich schluckte die bittere Galle hinunter, die Hoffnungen, die mir seit Wochen das Innerste nach außen stülpten, die Erwartungen, die ich mit diesem wie mit jedem Abend verknüpft hatte, und sammelte mich an der Oberfläche. Ich trappelte mit den Füßen wie die anderen, um meinen Stand zu ermitteln, und ließ die Schultern fallen. Beim Versuch, mir die Verlängerung des Rückens in einer abfallenden Linie zu denken, fiel mir stets derselbe blöde Kalauer ein, und ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte.

Gib auf, sagte ich mir, laß jeden Widerstand fahren; nimm die Spannung raus; hör auf zu wollen (dann hörst du ganz von allein auf zu hoffen).

Und während der Wille aus mir herausströmte, den eingefallenen, für die anstehenden Übungen jetzt korrekt präparierten Körper zurücklassend, merkte ich, wie auch die andern sich mit mehr oder weniger Erfolg ihres Willens entledigten, und fühlte, wie die Reste im totenstillen Raum hin- und herschossen, wie ausgetriebene Teufel. Auch wenn S. uns die Bedeutung der Senkrechtachse eingebleut hatte, um die wir uns wie der Faden um eine Spindel drehen sollten, so dämmerte mir in diesem Augenblick am Beginn einer langen autistischen Übung doch das Glück der horizontalen Existenz: ich und die andern; und fühlte mich beschützt und wie in einem Netz gehalten.


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