Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(14) Aris erzählt

Es hatte geklingelt, aber sie rührte sich nicht, obwohl bereits die nächsten hereinströmten und sie selbst in den fünften Stock mußte, und wir waren im zweiten. Sie hatte es montags immer eilig und war schon im vorhinein deprimiert, weil sie wußte, daß sie es nicht schaffen konnte. Aber jetzt blieb sie einfach sitzen und ließ die Schüler an sich vorüberziehen, die einen hinaus, die andern hinein. Obwohl ich auch Unterricht hatte, blieb ich einen Moment bei ihr stehen und redete, ich weiß nicht, vom Wetter.

E. räusperte sich; das Leben kehrte in sie zurück. Sie packte die Bücher auf einen Stapel und tat die Kreide ins Kästchen.

Was war denn vorhin, fragte ich; denn ich hatte es nicht mitgekriegt.

Sie schwankte, ob sie es abtun sollte, fuhr mit den Händen über die Bücher, schichtete die Kurshefte schnittkantengenau übereinander – auf der Suche nach dem richtigen, räumte sie sie sämtlich aus dem Rucksack –, blies den Kreidestaub vom obersten herunter, richtete ein Eselsohr auf und entschied sich dann doch zum Reden.

Anna-Lena hat mir Faschismus unterstellt, sagte sie wütend; Antisemitismus, wenn Sie's genau wissen wollen, und das mir!

Wann, fragte ich verdutzt.

Wie immer hinterher, gerade eben, beim Rausgehen. Sie hat's mir praktisch ins Ohr geflüstert, und dann war sie weg. Ich konnte gar nichts erwidern.

Jetzt ist mir übel, sagte sie.

Aber wir haben doch gar nicht über Politik geredet, sagte ich und versuchte vergeblich, mich zu erinnern.

Nein, sagte sie, aber Anna-Lena hat's an »untrüglichen Zeichen« erkannt.

Es ist das erste Mal, setzte sie hinzu, daß mich ein intellektueller Streit in der Schule einholt. Das ist ein Schock. Lieber wäre es mir, hinten säße der Verfassungsschutz.

Sie lachte.

Das ist eine alte Lieblingsvorstellung von mir, wenn ich mich unbedingt als Opfer sehen wollte. Ich stellte mir vor, ich rede mich um Kopf und Kragen, ihr kennt das ja, und hinten sitzt einer und schreibt mit. Ich fand den Gedanken schrecklich.

Sie müssen sich wehren, sagte ich. Sie brauchen das nicht auf sich sitzen zu lassen. Anna-Lena soll in der nächsten Stunde erklären, was sie gemeint hat, und Sie sagen was dazu.

Ach, Aris, sagte sie, Schule ist anders. Schüler sind keine Intellektuellen, Gott sei Dank. Sie haben immer recht. Sie haben dasselbe Recht, etwas Falsches wie etwas Richtiges zu sagen, und die allgemeinen Regeln, daß man für seine Meinung einstehen muß, gelten für sie nicht. Sie genießen absolute Nachsicht, selbst wenn das, was sie sagen, gar nicht von ihnen stammt und sie es bloß kolportieren. Aber wenn es mir ins Ohr geflüstert wird, dann ist es für mich wie eine Botschaft von draußen, sagen wir ruhig: eine Drohung. Zugleich ist da eine innere Stimme, die sagt, so und so bist du, nämlich antisemitisch.

Mir ist schlecht, sagte sie, und ich muß nach oben.

Sie packte jetzt ernstlich ihren Krempel zusammen.

Vielen Dank, daß du mit mir geredet hast, Aris, sagte sie, ins Du fallend, und ich war ganz zufrieden mit mir und fühlte mich richtig gut.

Ich habe gestern einen Unfall gebaut, erzählte ich ihr im Hinausgehen. Ausgerechnet beim Einparken. Ich dachte, ich hätte den Rückwärtsgang drin. Unser Auto hat ´ne Menge abgekriegt; mehr als das andere. Heute nacht habe ich deswegen kaum geschlafen. Ich habe versucht zu verstehen, wie es passieren konnte. Das Auto gehört meiner Mutter. Sie läßt mich damit fahren, aber sie hat mich immer gewarnt. Sie weiß, daß ich manchmal nervös bin.

Sie wird es verstehen, sagte sie. Einmal muß es passieren. Solange niemand zu Schaden kommt!

Das hatte meine Mutter auch gesagt.

Ich sah das natürlich genauso. Aber wenn ich so »nervös« war, daß ich schon beim Einparken einen Unfall baute, was konnte ich noch alles anstellen, und wie gefährlich war ich für meine Mitmenschen?

Meine Mutter wußte, warum ich nicht geschlafen hatte, und E., schien mir, wußte es auch.

Mit Thermoskanne, Büchern und Tasche beladen, das famose Kreidekästchen unter den Arm geklemmt, hielt sie mir die Tür auf. Wenn sie die Sachen sowieso gleich wieder auspacken mußte, packte sie sie gar nicht erst ein, hatte sie einmal erklärt, und sie konnte sie stundenlang balancieren.

Eine beschädigte Stoßstange ist keine Einstiegsdroge für Unfälle mit Personenschaden, Aris, und kein Beweis dafür, daß man nicht richtig tickt. Ich würde dir jederzeit mein Auto leihen.

Sie konnte meine Gedanken lesen, aber ich ihre auch.

Einmal redeten wir im Kurs über Arbeitsrhythmen und Zukunftsperspektiven. Wir hatten den schriftlichen Teil unserer Prüfungen hinter uns, wußten noch nicht, wie wir abgeschnitten hatten und waren einen magischen Augenblick lang nicht nur ausgepowert und müde, sondern auch hellwach, Herr über die Zukunft, (Geschichts-)Philosophen.

Yannick platzte vor Energie, war in Gedanken schon bei seinen Gedenkstätten in Polen und hätte vorher am liebsten noch Jiddisch gelernt. Von ihm stammte auch die Idee, E. zur Gründung einer Arbeitsgruppe zu überreden, damit nach der mündlichen Prüfung nicht alles zu Ende war und wir endlich in Ruhe unsere Gedanken formulieren konnten; denn es ging uns allerhand durch den Kopf, und wir kamen immer nicht dazu, es zu äußern. Im Moment ging uns sogar richtig viel durch den Kopf. Wir hatten mehr gepaukt, als für die Klausuren erforderlich war, wenn auch vielleicht nicht das Richtige. Jedenfalls hatten wir das Gelernte nicht so recht verwenden können; es steckte in uns drin und wartete noch auf seine Stunde. Wir hatten Dinge leisten müssen, die eher mit unsern Prüfern und ihren Interessen als mit der Prüfung und uns zu tun hatten, und waren gleichzeitig erschöpft und unzufrieden, überanstrengt und wie in den Startlöchern, hungrig.

Die Bewährung war längst vorbei, aber wir waren immer noch aufgeregt. Obwohl die Prüfung uns in jedem Augenblick, bei jedem Gedanken in die Quere gekommen war und uns gebremst und gequält hatte, empfanden wir sie jetzt als unerhörte Chance, so als wären wir, einmal im Leben wenigstens, reine Energie gewesen, Brennstoff für alles mögliche. Wir wollten brennen!

Ich träumte bereits von Griechenland, von Himmel und Meer, den lieben langen Sommer lang, von endlosen Gesprächen mit meinem Großvater, von einem Leben voller Muße.

Trotzdem, oder weil ich soviel an die Muße dachte, war ich nervös. Mir war alles zuviel. Ich mußte ständig Musik hören. Und mir ging allerlei durch den Kopf. Ich spürte, daß es grummelte. Das ist jetzt gar nicht so leicht auszudrücken: Ich wollte dem, was da in mir grummelte, auf den Grund gehen. Ich fand, jetzt, wo die Schule zu Ende ging, war der richtige Zeitpunkt, um für meine Gedanken die Verantwortung zu übernehmen. Ich wollte nicht mehr nur Musik hören. Ich wollte ernsthaft etwas überlegen.

Ich hatte mir bei E. unsterbliche Verdienste erworben, weil ich in eine hitzige Debatte über Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung den Gesichtspunkt der Ruhe eingebracht hatte, genauer gesagt des Ruhens.

Man muß auch ruhen können, hatte ich gesagt.

Die andern hatten mich angesehen, als hätten sie das Wort noch nie gehört. E. war wie elektrisiert.

Dabei hatte ich bloß »man muß auch ruhen können« gesagt.

Und da keiner etwas erwiderte, setzte ich, um die Lücke zu füllen, hinzu: Das ist wichtig.

Mag sein, daß ich dabei in den feierlichen Ton meines Großvaters gefallen bin; denn die andern lachten. Ich habe auch gar nichts weiter erklärt. Selbstverständlichkeiten haben kein Warum, sie verstehen sich von selbst. Man muß nur gelegentlich an sie erinnert werden, damit man sie nicht vergißt.

Mein Großvater hätte gesagt, je wichtiger die Dinge, desto leichter vergißt man sie. (Er hätte sie nie vergessen, aber das nur nebenbei. Unter uns: er ruhte immerzu. Er meinte, wenn es so weit gediehen war, daß man sie vergessen konnte, dann waren sie auch schon so gut wie vergessen. Er betrachtete uns mit Mißtrauen und Freude, wenn wir zu Besuch kamen; nach Hause, wie er sagte. Und er redete viel mit mir.)

Daß man gelegentlich ausruhen muß, ist so eine Sache, die sich leicht vergißt.

»Gelegentlich« meint: wenn man sich angestrengt hat, zum Beispiel.

Yannick strahlte über sein ganzes Christusgesicht. Vielleicht standen wir uns deshalb so nahe, weil er anders lebte als ich, immer aus dem vollen. Er ruhte nie. Er platzte vor Energie. Daß er seine Geburt überlebt hatte, galt als ein Wunder, und für ein Wunder hielt er das Leben in jeder einzelnen Minute. Am liebsten hätte er noch rasch an den Paralympics teilgenommen, bevor er nach Polen entschwand, als Mittelstreckenläufer, wozu er sich im täglichen Kampf gegen das Zuspätkommen ausgebildet hatte, gegen seinen Hang zum Larifari, seine Sorglosigkeit und Schusseligkeit. Es war berühmt und berüchtigt, wie er um die Straßenecken düste.

Ich könnte nicht eine Sekunde verschwenden, erklärte er. Am liebsten täte ich alles auf einmal.

E. hatte sich eingemischt.

Im Deutschen kennt man das Wort »ruhen« im Grunde nicht, sagte sie. »Ruhen«, das ist für die Toten. Wir reden von »ausruhen«. Aber »ausruhen« ist eigentlich immer »sich ausruhen«. Sogar in der Ruhe sind wir Subjekt, schlafender Produzent von allem möglichen, auf der andern Seite abgeschnitten von dem, was unterdessen weitergeht, was wir nicht abstellen oder anhalten, wovon wir nur eine Auszeit nehmen können. Wir haben uns die Ruhe verdient, aber es ist auch gefährlich; »aus«, das werdet ihr feststellen, sobald ihr auch nur ein wenig darüber nachdenkt, ist ein fatales Wort, wegen der Zuordnung. Wer weiß, zum Beispiel, ob wir später, wenn wir uns wieder einklinken wollen, nicht längst entbehrlich sind. Auch deshalb ist jede Ruhe eine Option auf Unruhe, nicht nur weil sie eine Vorbereitung auf Großes ist, wenn wir, die Herren der Schöpfung, wieder in die Geschichte eintreten, sondern wegen der Angst, die in der Ruhe entsteht.

Sie lächelte.

Ich glaube, das ist nicht dasselbe wie das, was Aris gemeint hat.

Ich schüttelte den Kopf.

Aber auch in »ausruhen« steckt Ruhe, sagte ich, stolz, gefragt zu werden. Die Ruhe ist der Kern, das andere nur Optik und Perspektive. (Leistungskurs Physik!)

Ruhen ist objektiv, belehrte sie mich, ausruhen subjektiv.

Die Deutschen, wenn ich das mal so formulieren darf, sagte sie – sie sprach öfter von »den Deutschen«, und immer unter Vorbehalt, aber sie konnte es nicht lassen, und wir, die wir von wer weiß woher kamen, fühlten uns zugleich entlastet und repräsentiert, andererseits unnötig aufgestachelt. Sie sagte also, die Deutschen haben kein Vertrauen, daß der objektive Zustand auch für sie subjektive Wesen ist, daß er sie ein- und nicht ausschließt. Sie müssen Subjekt sein, meinen sie, sonst sind sie nicht. »Ruhen«, meinen sie, das ist etwas für alles andere, was ohnehin da, dessen Existenz gesichert ist, nur nicht für sie. Wenn das Fremde in ihnen Platz greift, Krankheit zum Beispiel, Bazillen, dann verordnen sie sich Ruhe, damit der Körper, der zur Heimstatt für Fremdes geworden ist, einerseits aus dem Schußfeld, andererseits, während er sich totstellt, zu Kräften kommt, so daß er irgendwann in der Lage ist, die ungebetenen Gäste wieder vor die Tür zu setzen. Wie gesagt, auch die Toten ruhen. Sie ruhen nicht aus, sie haben ja nichts mehr vor. Sie verkörpern den Zustand dessen, der nichts mehr vorhat, den unvergänglichen Zustand des Totseins. Auch alte Leute ruhen. Für einen bestimmten Teil des Tages haben sie nichts mehr vor, sind sie im Grunde schon tot, oder sie sparen ihre Kräfte für den Rest, gehen im Grunde geradezu strategisch vor; man kann es so und so sehen. Auch Kinder läßt man ruhen, wenn der Tag für sie noch zu lang ist (und damit sie sich in jene geheimnisvolle Kraftmaschine verwandeln können, die über sich hinauszugehen, ihr eigener Antrieb und ihr eigener Produzent zu sein vermag, das Wunder »Mensch« eben). Wenn man ihnen beim Schlafen zusieht, hat man ebensogut den Eindruck der totalen Hingabe an die Ruhe wie den einer geheimnisvollen Aktivität, so als pumpten sie Kraft, bereiteten sich auf den Sprung vor, der sie über alles Lebendige hinausheben und von allem Lebendigen isolieren wird.

Es hängt davon ab, wie man selbst drauf ist, setzte sie nachdenklich hinzu.

Ein Schweigen entstand. Das Thema war zu Ende. Gleich würde es klingeln. Wir konnten ebensogut einpacken.

Felder ruhen, sagte E.; es klang als hätte sie für sich allein weitergedacht.

Der Acker ruht, sagte sie.

Ich danke Ihnen, Aris, daß Sie das mit der Ruhe gesagt haben, sagte sie zu Beginn der nächsten Stunde. Ich hätte das nicht sagen können. Obwohl ich schon lange nicht mehr religiös bin, denke ich nach wie vor an Gott; ich denke ihn mir nicht wie einen Richter, aber wie einen Zeitnehmer. Was hast du mit deiner Lebenszeit gemacht, fragt er mich, kaum daß ich gestorben bin – immer in Eile, keuche ich die Stufen zu ihm hinauf, und er blickt stirnrunzelnd auf die Stoppuhr.

Ich habe mich beeilt, sagte einer von uns mit ihrer Stimme, und wir lachten.

Da reicht es nicht, daß ich sage, ich habe mein Bestes gegeben. Es genügt einfach nicht. Ich muß sagen können, ich habe es ununterbrochen versucht. Und selbst dann kann es sein, daß es nicht reicht, weil es nicht ununterbrochen genug war!

Von hier gibt es übrigens interessante Ausblicke auf die Zeit, nicht auf ihre quantitativen, sondern auf ihre qualitativen Merkmale.

Sie machte das am liebsten, die letzte Stunde am Beginn der nächsten fortsetzen; so ging sie mit der Zeit um. Sie tat, als wäre die Unterbrechung nichts als eine Abwechslung, eine Änderung in Tempo und Betonung, im Rhythmus, zu nichts anderem gut, als um in den Ablauf ein wenig Relief zu bringen, oder immerhin dazu, den steten Fluß durch eine Erinnerungsschleife aufzuhalten. Wenn wir uns dann nicht erinnerten, weil wir am Wochenende zu sehr gefeiert oder uns auf die Matheklausur vorbereitet hatten, vielleicht auch, weil wir den Unterricht zwar mittragen, aber den Zusammenhang davon nicht ablösen konnten, knirschte es ordentlich. Es gab eine kleine Sinnkrise, und wir, weil wir uns eben nicht erinnerten, konnten ihr nicht dabei behilflich sein, sie zu überwinden, ihr lediglich unsere freundliche Anteilnahme bezeigen, so lange, bis sie es allein geschafft hatte und wir gemeinsam fortfahren konnten. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es überhaupt kein Ende und keinen Anfang gegeben. Sie haßte zum Beispiel Einführungsstunden, obwohl sie andererseits das Grundsätzliche liebte, das Elementare, die Prinzipien. Zum Anfang muß man zurück, erklärte sie einmal, man kann nicht mit ihm anfangen, und deshalb verhedderte sie sich auch regelmäßig bei der Vorstellung des Themas, manchmal hatte ich das Gefühl geradezu mit Absicht, um den Eindruck, den wir sonst unvermeidlich aus der ersten Stunde mitgenommen hätten, daß alles ganz einfach war, durch die Art ihres Vortrags zunichte zu machen. Sobald sie dagegen auf die letzte Stunde zurückkommen konnte, glitt sie mühelos in die nächste.

Am Ende dieser Stunde, in der mir sozusagen die Ehre des Anschlusses zuteil geworden war, faßte ich mir ein Herz und fragte sie, ob sie nach der mündlichen Prüfung noch ein bißchen mit uns weiterarbeiten würde, mit Yannick und mir.

Es geht mir soviel durch den Kopf, sagte ich, und Yannick auch. Außerdem wäre es schade.

Sie lächelte.

Yannick kriegt noch einen Kuß, sagte sie verträumt.

Das war eine andere Geschichte.

Wollen Sie nun mit uns arbeiten? fragte ich ungeduldig.

Wenn die Großen gehen, sagte sie, dann soll man nicht klammern. Man soll sie gehen lassen, damit der Kopf frei wird für die Kleinen.

Ich dachte an meinen Bruder, der in diesem Jahr auf die Schule kommen sollte. Hatte sich was mit den Kleinen!

Man darf ruhig traurig sein, wenn einen die Alten verlassen, fuhr sie fort, das schafft ein günstiges Klima für die Neuen. Man braucht sie schon, man weiß es bloß noch nicht. Man hält nichts von ihnen; was soll man auch von ihnen halten, man kennt sie ja nicht. Man sieht sie nur undeutlich. Sie wirken schlecht konturiert, blaß, um nicht zu sagen flach. Unreifer kommen sie einem vor, als jemals einer von euch gewesen ist. Findet ihr nicht auch, daß sie jedes Jahr kleiner werden? fragt man im Lehrerzimmer. Kurz, man kennt sie noch nicht und ist schon enttäuscht. Aber in dem Moment, wo die Enttäuschung in einem zu arbeiten beginnt, fängt man an, die Alten zu vergessen.

So soll es sein, sagte sie. Das ist der korrekte Gang. Die Enttäuschung ist ebenso erwünscht wie die Trauer. Und am Ende sagt man in aller Wahrhaftigkeit: Ihr seid die Nettesten gewesen – und hat kein bißchen das Gefühl, mit gespaltener Zunge zu reden, nicht die Spur eines schlechten Gewissens.

Ich mag das, sagte sie, wenn immer alles anders kommt, als man denkt, und man kann sich darauf verlassen. Aber diesmal fällt es mir wirklich schwer – sie blinzelte, als wollte sie mir zu verstehen geben, daß auch das dazugehörte –, und außerdem stehe ich bei euch in der Kreide.

Ich wußte sofort, woran sie dachte.

Das war ein richtiger Wolkenbruch, damals, sagte ich anerkennend. Der hat den Himmel blank geputzt. Ein griechischer Himmel war das hinterher.

Wir hatten im Café noch endlos geflachst und gelacht.

Ihr habt mich immer getröstet, sagte sie. Sie sah geradezu bestürzt aus, als sie das sagte. So als schaute sie auf die letzten Monate zurück und wunderte sich über das Ausmaß ihres Unglücks.

Ich brauchte euch bloß zu sehen und war getröstet. Ich wußte wieder, daß nicht die Welt schief und krumm ist, sondern daß bloß ich unglücklich bin. Die Stunde fing an, und ich sah die Dinge, wie sie sind.

Ihr habt mich gerettet, sagte sie und mußte selber lachen, so bestimmt klang das.

Ihr habt mich mehrfach gerettet.

Wir kriegen die Medaille für Mehrfach-Retter, sagte ich.

Sie sah schon wieder ganz vergnügt drein. Mir kam es vor, als strolchte sie in ihren Erinnerungen herum; sie lächelte, dabei handelten sie von Krisen und Tränen. Auch ich hatte die letzte Zeit besonders intensiv erlebt, und auch sie hatte mich immer getröstet, oder sagen wir eher beruhigt: wenn ich im Flur auf dem Boden gesessen und sogar noch in der Fünf-Minuten-Pause Musik gehört hatte, manchmal schon vor acht; wenn mir alles zuviel war, noch bevor es angefangen hatte. Sie lächelte mich an, und ich nahm den Kopfhörer ab, sagte »guten Tag« und »wie geht's«. Danach konnte ich mich mit den andern unterhalten (oder ich setzte den Kopfhörer eben wieder auf).

Ich erinnerte mich an diese Zeit wie an einen ewigen Augenblick, und mir dämmerte, daß sie vorbei war.

Dann treffen wir uns in Zukunft eben außerhalb der Schule, sagte ich.

Sie nickte.

Es ist ein Fehler, sagte sie. Aber schließlich sollen ja die Schüler ihre Lehrer verlassen, nicht die Lehrer ihre Schüler, und diese Regel geht vor.

Wir werden also weitermachen, und ich werde es geduldig abwarten, daß ihr mich verlaßt.


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