Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(13) Jutta erzählt

Ich traf E. abends vor dem Xenzi, und sie redete einen Haufen wirres Zeug, für ihre Verhältnisse viel, aber ich verstand gar nichts.

Gehst du rein, oder kommst du raus? fragte ich; denn das war wichtig für die Abendgestaltung.

Aber sie hatte meine Frage nicht gehört und redete weiter, und ich verstand nicht einmal, ob sie von sich oder vielleicht von einem ihrer Kinder redete und ob es von Liebe oder von Krieg oder von einem dieser unsäglichen Psychos handelte, die wir pausenlos erlebten; sie war vollkommen durcheinander.

Immer der Reihe nach, sagte ich, wovon redest du eigentlich?

Aber sie wollte nicht mit der Sprache heraus. Sie war der felsenfesten Überzeugung, daß man das, was man zu sagen hatte, nur zu dem sagen sollte, den es betraf. Sie verabscheute das »Reden über«, und es war erstaunlich, wie sehr sich das Gespräch reduzierte, wenn man darauf verzichtete. Wenn es aber selbst für sie nicht zu vermeiden war, wie jetzt, dann redete sie entweder mit großer Zielstrebigkeit wirr, in den indirektesten Formen. Wenn es sein mußte, konnte sie sogar stottern.

Ich rufe ihn nie mehr an, sagte sie erbittert, und wenn, dann nur, um ihm zu sagen, daß ich seine Telefonnummer wegradiert habe, dann komme ich nicht in Versuchung. Mit dir zu telefonieren, sage ich ihm, das ist wie Selbstmord, dann kann man sich gleich umbringen.

Weißt du, was ich mache, bevor ich dich das nächste Mal anrufe? sage ich zu ihm. Ich packe mein Krankenhausköfferchen und gehe ins Urbankrankenhaus. Ich sage, ich bringe mich um, ihr müßt mich aufnehmen – ich geh nur schnell mal telefonieren.

Sie sah mich aufatmend an, als hätte sie etwas Großartiges zustande gebracht, und überdies mit jemand ganz anderem gesprochen.

Das sage ich zu ihm, sagte sie, einerseits hochbefriedigt, andererseits schon wieder in Unruhe und auf der Suche nach einem neuen schlagenden Argument. Ich sage ihm, erst geh ich in die Psychiatrie, und dann rufe ich dich an; ist doch logisch, oder? Dann kann er darüber nachdenken, wie er das findet, daß man vorher in die Psychiatrie gehen muß, um es hinterher aushalten zu können, daß man mit ihm telefoniert hat.

Von wem redest du eigentlich? fragte ich. Aber auch auf diese Frage bekam ich keine Antwort.

Heute mittag war ich im Tee-Salon, erzählte sie weiter, du weißt schon: TeeTeaThé, da bin ich praktisch zu Hause. Beim Bezahlen sagt der Frank zu mir: Sie sehen so traurig aus, wäre Ihnen vielleicht mit einem Ingwerstäbchen gedient? Und dann fischte er mit der Zange aus dem großen Glas ein Ingwerstäbchen heraus, erst eins für die eine und dann noch eins für die andere Hand, und ich war getröstet, so als könnte ich zum ersten Mal weinen. Ich habe mir vorgenommen, ihn das nächste Mal in den Tee-Salon mitzunehmen, und wenn Frank mich fragt, ob ich ein Ingwerstäbchen gebrauchen könnte – denn bestimmt bin ich entsetzlich traurig –, sage ich, gern, und einen Hammer, bitte, um das Monstrum hinter mir zu erschlagen (der tut in dem Moment bestimmt schon wieder, als gehörte er nicht zu mir!). Dann zieht Frank, wie es seine Art ist, die feine Augenbraue hoch und wirft, während er mit der Silberzange hantiert, einen scharfen Blick auf ihn, nur einen einzigen Blick.

Da kann er mal sehen, wie gern mich andere haben und wie sie mich alle beschützen, setzte sie rachsüchtig hinzu.

Wer kann was sehen? fragte ich verblüfft, denn ich kriegte das mit Frank und dem Ingwerstäbchen nicht sortiert.

Aber sie antwortete nicht, hielt den Blick gesenkt und scharrte mit den Füßen.

Es macht mich kaputt, sagte sie. Es macht mich richtig fertig. Er kommt ganz dicht an mich heran – mit der Hand zeigte sie eine beträchtliche Entfernung –, und wenn ich ihn dann anfassen will, zuckt er zusammen und verzieht das Gesicht wie ein bedrohtes oder mißhandeltes Kind (oder ein beleidigter und belästigter Erwachsener). Rasch ziehe ich meine Hand zurück, worauf er einen Schritt vortritt.

So geht das immer.

Das nächste Mal, sagte sie erbittert, stelle ich ihn zur Rede. Paß auf, mein Junge, sage ich zu ihm, du spielst ein böses Spiel mit mir, ein kleines, böses Spiel. Dir gefällt es vielleicht, du findest es lustig, weil es deinem Ego schmeichelt. Aber wenn du dich selbst auch nur ein bißchen respektierst, dann kannst du es nicht billigen.

Und wenn er dann auf unschuldig tut, sage ich: Entscheide dich, entweder du bleibst weg, oder du kommst näher. Mach's, wie dir ist. Aber kein double-bind, ich warne dich, mein Freund. Ich könnte die Kontrolle verlieren, und es gäbe einen peinlichen Auftritt; nicht nur für mich.

Was meinst du mit »Kontrolle verlieren«? fragte ich. Willst du ihm eine kleben?

Oder ich rede freundschaftlich mit ihm, sagte sie. Ich sage ihm einfach, wie es ist. Ich sage zu ihm, du, ich habe mich verliebt. Und dann lächelt er; denn das weiß er natürlich. Aber wenn ich es selber sage, dann nehme ich ihm den Wind aus den Segeln. Ich sage: So und so ist es, ich habe mich verliebt. Ich sage: Es ist eben so, ich habe kein Problem damit. Aber wenn du mir zu nahe kommst, sage ich, dann muß ich dich anfassen, also, das geschieht ganz automatisch. Wenn du eine gewisse Entfernung unterschreitest – und eine gewisse Nähe erzwingst, jawohl! –, dann kriege ich ein Problem. Und deshalb möchte ich dich bitten, unterschreite diese Entfernung nur dann, wenn du auch angefaßt werden möchtest.

Also, wenn du angefaßt werden willst, dann unterschreite sie, und wenn du nicht angefaßt werden willst, nicht.

Sie schüttelte sich, als wollte sich ihrer eine fremde Nähe bemächtigen.

Vor soviel Tapferkeit, sagte sie, muß er doch einfach kapitulieren.

Sie war mir noch nie so winzig vorgekommen.

Durch die Schaufensterscheiben des Xenzi fiel Licht, aber wir standen im Finstern. E., im schwarzen Mäntelchen, die dunkle Kapuze auf dem hellen Kopf, starrte auf den Boden; sie sprach so hastig, daß es ein Wunder war, wenn ich sie überhaupt verstand.

Komm auf einen Kaffee mit rein, sagte ich und faßte sie um die Schulter. Sie ließ sich widerstandslos führen.

Es war den Jungs nicht anzumerken, ob sie E. gerade erst gesehen hatten oder nicht. Ungerührt brachten sie die Karte.

Unter den beiden altmodischen Kronleuchtern sah E. blaß und mager aus, wie jemand, der geweint oder sich durch strömenden Regen gekämpft hat. Aber sie erholte sich zusehends, nachdem sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und aus ihren Halluzinationen aufgetaucht war, in denen sie eine Realität bearbeitete, die es nicht gab, unermüdlich Situationen konstruierend, in denen das Unmögliche alltäglich wurde, in allem Ernst bemüht, sie wirklichkeitsfähig zu machen, an ihnen herumschnitzend, solange bis die Wirklichkeit nicht länger in sie hinein-, sondern aus ihnen heraussah und auch ein kritischer Mensch wie sie getäuscht werden konnte – das war Knochenarbeit sozusagen, Plackerei vom feinsten!

Sie betrachtete mich von oben bis unten.

Weißt du, daß du auf dem besten Weg bist, eine lesbische Schönheit zu werden? fragte sie lächelnd.

Ich spürte, daß ich rot wurde.

Nein, wieso, sagte ich.

Ich hatte bekanntermaßen nichts mit Frauen, stand auch der Tatsache skeptisch gegenüber, daß Lesben überall wie Pilze aus dem Boden schossen, und hielt die Liebe von Frauen zu Frauen für eine Frage des Entschlusses und der Mode.

Sie betrachtete mich mit der Ausdauer, mit der sie bestimmt auch ihn ansah, den sie ja nur mit ihren Augen lieben konnte und nicht leichtfertig analysieren durfte, den sie immer wieder neu zusammensetzen mußte; sonst hätte es ihn nämlich nicht gegeben!

Ich fühlte mich auf wunderbare Weise zusammengesetzt.

Deine Schultern sind da, wo sie hingehören, sagte sie lächelnd. Du ziehst sie nicht hoch.

Und was wäre daran lesbisch? fragte ich, obwohl ich sofort verstanden hatte, was sie meinte.

Du existierst für dich, sagte sie, nicht durch einen andern. Man erkennt sofort, daß du nicht von unsichtbaren Fäden bewegt und gehalten wirst; daß du dich selbst hältst!

Das kommt vom Sport, sagte ich bescheiden.

Egal, wovon, sagte sie. Es gibt keinen Puppenspieler hinter der Bühne und keinen lieben Gott über dir. Niemand blickt dir über die Schulter.

Es fehlt dir an Reflexbereitschaft, verstehst du? Du zappelst an keiner Angel.

Sie lachte.

Du bist nicht auf dem Quivive, sagte sie. Man kann dich in Ruhe ansehen.

Sie sah mich beinahe zärtlich an, aber ich hatte das verdammte Gefühl, wenn sie dabei auch an keinen andern dachte, so war die Zärtlichkeit doch in ihr, und sie mußte sie anwenden.

Du bist einfach Jutta, setzte sie abschließend hinzu.

Und das willst du alles an meinen Schultern erkennen? fragte ich verwirrt.

Dein Hals, fuhr sie lächelnd fort, wächst aus deinen Schultern heraus. Er baut sich aus Muskeln und Sehnen auf, nicht aus übereinander gestapelten Klötzen. Er bewegt sich natürlich; er hält sich. Er hat keine Angst umzukippen, und vor allem hat er keine Angst, daß der Kopf herunterfällt.

Im Grunde, setzte sie hinzu, und es kam mir vor, als vertraute sie mir ein Geheimnis an, ist deinem Hals der Kopf gar nicht so wichtig.

Und das soll lesbisch sein? fragte ich wieder.

Sie nickte bedeutsam.

Und jetzt die Fresse, sagte ich, plötzlich erheitert: das Gesicht! Komm, E., spuck's aus, du hast doch noch was in petto!

Auf dem hochlehnigen Polsterstuhl mit der roten Sitzfläche, auf dem man unmöglich sitzen konnte, saß E. in tadelloser Haltung; reglos, dabei alles andere als starr oder benommen, nichts weniger als verkrampft; die Hände im Schoß geborgen; Knie deckte Knie. Die hitzigen Gefühle schienen eingeschlummert, der vagabundierende Verstand völlig zur Ruhe gebracht. Sie betrachtete mich, als sähe sie in einen Spiegel.

Du bist mager geworden, Jutta, sagte sie, du hast dich verändert.

Das stimmte.

Du bist dir selber fremd geworden und für mich neu.

Sie sah mich aufmerksam an, damit ihr nichts von dem Neuen entging.

Oder ich habe dich früher nicht richtig gewürdigt, setzte sie entschuldigend hinzu.

Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte ja recht. Aber daß man es sah, wunderte mich trotzdem.

Was hast du erlebt, Jutta?

Ich bin mir fremd, sagte ich ratlos. Ich, Jutta, die immer weiß, was sie will, bin mir völlig fremd!

So wie ich mich fühle, müßte mein Gesicht wie ein Schlachtfeld aussehen, sagte ich.

E. lächelte.

Dein Gesicht hat sich im Gegenteil gesammelt, sagte sie, es hat sich befreit. Es hat sich von dir befreit. Es hat sich von dir abgewendet. Es hat die Sekretärsstelle gekündigt, die es bei dir innehatte, die Chronistenstelle. Es hat aufgehört, dein Spiegel und Buchhalter zu sein, das Archiv deiner Befindlichkeiten und deiner lächerlichen Bedürfnisse. Es hat sich seinem eigentlichen Thema zugewendet – sich selbst. Es arbeitet nicht mehr für dich, es arbeitet jetzt auf eigene Rechnung. Es geht der Frage nach: Was ist ein Gesicht?

Es geht dieser Frage ganz pragmatisch nach, mit Hammer und Meißel sozusagen. Es modelliert sich. Es bringt sich hervor.

In dem Moment, wo du es nur als Schlachtfeld bezeichnen kannst, ist es mit der Hervorbringung seiner selbst als Gesicht beschäftigt. Von jeder Wirrnis entfernt, ist es von geradezu überirdischer Klarheit.

Von geradezu überirdischer Deutlichkeit.

Sie lachte, gar nicht verlegen.

Himmel, Jutta, ist dein Gesicht mir fremd! Nur Knochen! Nur Gerüst!

Keine Haut? fragte ich empört; denn tatsächlich spannte mein Gesicht schon morgens beim Aufwachen.

Jedenfalls keine Polster.

Keine Seele?

Dein Gesicht bringt eben nicht dich, sondern du bringst ein Gesicht hervor, sagte E. ungeduldig!

Und was soll daran lesbisch sein?

Nenn es, wie du willst, ich nenne es lesbisch.

Aber du mußt einen Grund haben, sagte ich. Oder du hast dich in mein Gesicht verliebt. Du weißt im Moment eben nicht, wohin mit der Liebe.

Ich nenne es lesbisch, wiederholte sie. Es ist die Abkehr von der Person, die Hinwendung zum Wesen. Hetero ist für mich das Spiel der Personen, das ewige Liebesspiel. Es hat den heroischen Sinn, die fragile Illusion der Person zu erhalten; sonst hat es keinen. Homo bedeutet für mich die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Person auf das Wesen; versteh mich recht: das Wesen wird aufmerksam. Das geschieht natürlich unbemerkt, denn jeder Mensch ist mit sich selbst beschäftigt, zumal denken alle das von den Lesben. Aber manchmal merkt man es doch, ich, zum Beispiel, an deinem Gesicht.

Und bevor ich meine Frage wiederholen konnte:

Jutta, lesbisch ist, wenn das Gegenüber nicht eine andere Person ist, sondern man selbst als ein anderer oder als Gegenstand, das heißt zum Beispiel als Stirn oder als Gesicht oder als Brustbild. Ist doch ganz einfach!

Ich überhörte die Kritik.

Und hetero, ergänzte ich, wäre demnach, wenn man, geblendet von der Andersheit einer anderen Person, nicht zu seinem eigenen Wesen oder Gegenstand kommt.

Sie nickte.

Es ist was los in deinem Kopf, sagte ich. Richtig viel Trubel!

Sie nickte und wirkte mit einem Mal müde. Winzig und kolossal müde.

Und schon wieder gehetzt.

Da siehst du, wie ich den Tag verbringe, sagte sie; wofür ich meine Kräfte verbrauche. Ich suche nach Lösungen, ich bin dem Ausweg auf der Spur. Ich suche den Notausgang. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich gerettet würde. Ich konstruiere die dazu notwendige Situation. Ich erfinde die Situation, die es möglich macht, daß ich gerettet werde, die es logisch macht, die Situation, aus der Rettung so folgt wie b aus a; so wie die Wetterberuhigung aus den Gesetzen des Unwetters; wie die »Atemzüge eines Sommertags« erfolgen – du weißt doch noch: Musil.

Oder, sie lachte verlegen, wie ein guter Orgasmus; der sich ergibt.

Tag und Nacht konstruiere ich an solchen Situationen herum, erfinde mir Momente des Glücks, in denen die Zeit stillsteht, ein wortloses Einverständnis, eine kindliche Zutraulichkeit, eine Geste, die alle Zweideutigkeit hinter sich gelassen hat, ein formelles Geständnis, ein für die Ewigkeit geltender Schwur, mit soviel Selbstverständlichkeit ausgesprochen, als wäre es eine Bemerkung zum Wetter: »…und deshalb liebe ich dich« oder »weil«. Dann wieder einen guten Grund, der gegen Kritik immun ist, aller Beckmesserei standhält, der die Wirkung in sich enthält, einen tragenden Grund. Ich konstruiere eine ganze Serie guter Gründe. Ich konstruiere, bis ich nicht mehr kann. Dann halte ich inne und betrachte das Resultat. Ich freue mich über mein Werk, so als wäre es beendet, ich freue mich über meine Lösungen. Und je mehr ich mich freue, desto weniger begreife ich, warum sie nicht wirklich sind; wahr, ja, schließlich habe ich sie systematisch erarbeitet, nach allen Regeln der Kunst konstruiert, aber nicht wirklich. Ich rege mich auf. Ich komme nicht darüber hinweg, daß es etwas gibt, was wahr ist, aber nicht wirklich sein soll. Ich bin privat verzweifelt und philosophisch erschüttert, und ich bin natürlich auch müde. Müde von der Konstruktion echten Glücks, wirklichkeitsgetreuer Einbildungen!

Wahrhaftig, Jutta, in meinem Kopf geht es drunter und drüber.

Während sie so redete, strahlte E. eine vollkommene körperliche Ruhe aus, um die ich sie trotz allem nur beneiden konnte. Tatsächlich wirkte sie entkrampft, im Frieden mit sich selbst, nicht gebannt in die Schrecken, von denen sie berichtete. Ich fühlte mich fragmentiert, aber E. war wunderbar beieinander.

Ich bin k. o., sagte sie, außer Atem von der Anstrengung, Ruhe ins Spiel zu bringen, eine friedvolle Szene zu zimmern. Ich kriege nie genug Luft!

Das sagte sie wieder mit einer so perfekten Ruhe und einem so sparsamen Körpereinsatz, daß es mir vorkam, als hätte ihr Geist sich vom Körper vollkommen befreit – oder vielmehr umgekehrt; oder aber als wäre ich Opfer einer höheren Intrige.

Mein Verstand wirbelt, sagte sie gelassen. brainstorming als Dauerfunktion. Ich kann den Suchbefehl für die einfachen Lösungen nicht löschen.

Ich bin müde, Jutta, sagte sie mit einer Miene, aus der jeglicher Streß gewichen war, und bei aller Verwirrung meinte ich zu spüren, daß ich mich in diesem Gesicht spiegelte, obwohl ich weit davon entfernt war, die Heiterkeit und Ruhe zu empfinden, die sie womöglich von mir borgte.

Ich bin müde, wiederholte sie, zu erschöpft, um mich noch länger zu beruhigen. Es ist mir zu anstrengend. Weißt du, es geht einfach über meine Kräfte. Ich bin auch das ewige Wollen leid, diesen gigantischen Aufwand, wenn etwas Handfestes dabei herauskommen soll. Ich bin das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis leid; dieses Verhältnis von echtem, gedanklichem Aufwand und unechtem, halluziniertem Resultat!

Mich interessiert auch das Glück nicht mehr, Jutta. Ich bin seiner überdrüssig geworden. Es ist für mich ein Synonym für Halluzination, also gar nichts, ein Symptom für den Bruch mit allem, was irgendwie normal oder real wäre. Ich möchte weinen, wenn ich bloß das Wörtchen Glück denke, weil es soviel kostet, es zu denken, und weil es gar nichts bedeutet; weil ich mich hinterher noch armseliger befinde als vorher.

Am Ende, wenn ich mich total verausgabt habe, reicht die Kraft nicht mal für Bilder; ich ergehe mich bloß noch in Formeln. Seltsamerweise finde ich sie schön; je trivialer, desto schöner. Und je billiger, desto realer. So armselig sie sind, ich finde sie reicher als die Bilder.

Dabei hatte ich so sehr auf die Kraft der Bilder gesetzt.

Verdammt, Jutta, bin ich am Ende.

Aber auch dieses Gefühl, setzte sie resigniert hinzu – und zum ersten Mal glaubte ich ihr die Müdigkeit –, das Gefühl der Verausgabung kommt mir noch vor wie ein Bestandteil der Halluzination. Wenn man es genau nimmt, ist der Kraftakt simuliert, er bezieht sich auf nichts. Das Glück aber, wenn es zustande käme, wäre echt.

Es wäre sicher ganz anders, als du es dir vorgestellt hast.

Sie lachte.

Totaliter aliter, sagte sie. Aber echt.


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