Ilse Bindseil
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Manchmal waren sie zusammen wie Kobolde. Dann sagte ich zu ihr: Du bist einfach süß, weil sie ihn für einen Moment gezähmt hatte und weil ich es doch nicht zu beiden sagen konnte, wegen dem »ihr«. Sie sah mich – ich weiß nun nicht – verständnis-, ratlos, hilfesuchend an, so als wollte sie, daß ihr (oder ihm!) auf die Sprünge geholfen wurde, und erwiderte gar nichts. In ihren Augenwinkeln lachte sie, aber im Hintergrund, sozusagen im medizinischen Bereich, saßen die Tränen, und aus beiden Gründen mußte ich zu ihr sagen: Du bist süß.
Manchmal war sie es auch ganz für sich allein (aber beileibe nicht immer!). Dann half ich ihr, sich zu Ende anzuziehen, wenn sie auf halbem Weg stehengeblieben war. Zum Beispiel griff sie hundertmal nach ihrer Jacke, während wir übten, und mußte sie ebensoschnell wieder loswerden, weil sie schwitzte, um sie im nächsten Moment wieder überzustreifen; sie war zu faul, den Reißverschluß zu öffnen und zog sie über den Kopf, vergaß dann, sie hinunterzuziehen. Warte mal, sagte ich, und gehorsam blieb sie stehen. Mütterlich richtete ich ihr die Jacke, und sie ließ mich gewähren, mit dem Körper bei mir, mit den Gedanken woanders – oder umgekehrt: mit den Gedanken lächelnd und schmeichelnd bei mir, mit dem Körper wer weiß wo.
Fehlte nur, daß sie gehorsam die Ärmchen hob!
Sie hatte einen handgestrickten Pullover aus unregelmäßig gesponnener Wolle, den sie nur »das Schaf« nannte. In dem sah sie aus wie ein Schäfchen, und ich trappelte hinter ihr her wie der Hütehund.
Einmal mußte ich sie auf einen Wink von S. hin verrücken – sie stand zu weit links, und ich sollte sie nach rechts schieben. Ich faßte sie an den Schultern, so vorsichtig, daß ich im Grunde nur das Schaf spürte, und sie ließ sich schieben. Aber als ich die Prozedur wiederholen mußte, weil das geometrische Bedürfnis von S. immer noch nicht befriedigt war, drehte sie sich um.
Wer faßt mich an? fragte sie ruhig, und es klang wie: Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?
Ach, du bist's, L., sagte sie und rührte sich behaglich zwischen meinen Händen.
Ich bin nur der verlängerte Arm von S., sagte ich; ich soll dich verrücken.
Na, dann rück mich, sagte sie.
Aber manchmal waren sie wie Zwillinge, und zwischen sie paßte kein Löschblatt.
Die Rollen waren so gut verteilt, daß man nicht wußte, wer welche spielte. Der Angreifer war im Recht, und der Beschimpfte lachte. Manchmal war richtig power dahinter – so geht es seit Stunden, sagte S. entschuldigend, wenn wir uns fragten, ob das noch Theater war oder schon Ernst, und fishing for compassion. Auch die eine oder andere Entschuldigung wurde fällig, wobei wir von Glück sagen konnten, daß es ausschließlich E. war, die sich entschuldigen mußte; S. hätte es nie getan. Wenn er über die Stränge schlug – und da war die Situation ernst und die Stimmung böse –, dann widerrief er höchstens, und zwar sofort, aber er entschuldigte sich nicht. »Nein!« sagte er oder »Das will ich nicht!« oder »Nein, es ist mir nicht egal.« Aber er bat nie um Verzeihung (war ja auch nicht nötig, wenn er widerrufen hatte!). E. war groß im Sündigen und dann ebenso groß darin, um Verzeihung zu bitten. Sie sündigte in Form von Ausdrücken, aber auch mit den Fäusten; sie konnte ein ganz grober Kerl sein. Gelegentlich mußte man sich vor ihr in acht nehmen. S. nahm sich höllisch vor ihr in acht, sie sich vor ihm kein bißchen. »Kannst ja gehen«, sagte er einmal im Streit, uns stockte der Atem. E. war zwar lästig in ihrem Eifer und weil sie immer da war, doch auch ein Kitt. Verstohlen schaute ich zu ihr hinüber; denn so unauffällig sie war, sie war knochenhart, dabei verwöhnt wie eine Prinzessin (das sage ich als Frau!). Aber es schien sie gar nicht zu interessieren, daß S. ihr empfohlen hatte zu kündigen. Sie bastelte an ihrer Übung und ärgerte sich wie stets über sich selbst. Ich wollte sie immer mal fragen, warum sie nie beleidigt war. Sie wußte wohl um ihren Anteil, wenn S. ausrastete, überzog sie ihn doch regelrecht mit Provokationen, und meistens ging das auch gut, und er amüsierte sich; aber manchmal eben nicht. Einmal ertappte ich sie, wie sie an Tränen herumwischte, hinten im Umkleideraum, dabei war gar nichts gewesen – kein Schimpfwort, keine Drohung, keine freche Replik. Ich blickte nicht durch, war aber mehr verstimmt als gerührt. S. gehörte allen, das heißt jedem einzelnen von uns. So war die Regel, und ich spürte, daß sich hier jemand nicht an die Regel hielt.
Auch äußerlich wirkten sie wie Zwillinge. Sagen wir, es kam vor. Sie hatten es heraus, sich so aufzustellen, daß es aussah, als wären sie einer die Variation des andern oder als würden sie, jeder für sich, ein und dasselbe Thema abhandeln: Lachlust, Zierlichkeit, Kindlichkeit; Zutraulichkeit, Lebhaftigkeit, Geltungssucht; Starrsinn, Sturheit, Halsstarrigkeit. Ich konnte es nicht fassen, wie so unterschiedliche Menschen sich einander so anverwandeln konnten, um dann wieder auseinanderzudriften, aber sozusagen in die gleiche Richtung, noch getrennt beisammen. Sie hatten absolut die gleiche Manier, sich dem einen oder andern von uns zuzuwenden und mit ihm förmlich zu verschmelzen; wir waren so etwas nicht gewöhnt. Aus dem Flur tönte die Stimme von S., im Umkleideraum zwitscherte E. Wer die beiden hörte, konnte sich nur wundern, wie sie einander in Melodie und Ton glichen. Im Grunde hätten sie sich beständig in die Quere kommen müssen, sie hätten sich gegenseitig zuviel sein, »du oder ich« hätte die Parole lauten müssen. Reiner Zufall schien es übrigens, daß sie am Schluß zusammen fortgingen, jetzt beide wieder harmlos und liebenswert, wie nach einer Vorstellung, einander rührend ähnlich, auf der geheimnisvollen Skala der Ähnlichkeit freilich auch ganz unterschiedlich: er eher stämmig, sie eher zierlich; er lebhaft nach rechts und links blickend, begierig nach Ärgernissen und Abwechslungen; sie mit gesenktem Kopf, die Wahrheit auf dem Boden suchend, mit dem einen Arm immer irgendwie zu ihm hinüberrudernd, vergeblich. Denn er blieb hübsch für sich, gab offenbar den Richtungen »oben« und »vorne« den Vorzug vor dem »neben«, während sie bei aller Zierlichkeit in die Breite ging, eher fluid war, nicht genügend auf sich achtete, Halt suchte, zerfloß.
Das war alles rührend, solange es nichts Ernstes war. Es schmeichelte unserem Selbstbewußtsein, hob uns als Gruppe. Es tat uns gut. Aber es durfte nichts Ernstes sein.
Ich will nicht von ›wir‹ reden. Wir waren ein zusammengewürfelter Haufen und hatten unseren Lebensmittelpunkt woanders, jeder von uns, und außerdem rückt es die beiden ungebührlich in die Mitte. Was waren sie denn anderes als ebenfalls ›wir‹? Auch S., der sein Geld an uns verdiente, wenn auch wenig genug, und auf seiner Andersartigkeit bestand, seinen eigenen Stil pflegte, war nichts anderes als ›wir‹, und im übrigen hatte auch er seinen Lebensmittelpunkt woanders und wurde nicht müde, das kundzutun. Und E., nun ja, das war ein Problem.
Es geht auch nicht um mich. Ich war schon endlos bei S. und kannte jede seiner Launen. Aber ich geriet in eine seltsame Stimmung und ertappte mich bei Aggressionen, und dabei hielt ich mich doch eher für depressiv und die Deutschen für bösartig. Einmal wollte ich ernstlich nicht mehr hingehen, und das hatte gar nichts mit S. oder mit E. zu tun; nur mit mir, allenfalls noch mit G., die mich nicht hereinließ, als ich klingelte und, mit der einen Hand das Fahrrad balancierend, mit der andern vergeblich gegen die Tür drückte; denn G. betätigte die falsche Taste, die mit dem Punkt, nicht die mit dem Schlüssel, und schrie mich dann auch noch durch die Sprechanlage an, ich sollte fester drücken.
An dem Tag wollte ich ernstlich nicht mehr hingehen. Als E. mich schließlich über das Hoftor hereingelassen hatte – wobei sie es mit S. zu tun bekam, weil sie mit den Turnschuhen in den Sand trat –, da war es wie bei einer Verschwörung: alles war wie immer, nur ich war draußen. Fassungslos betrachtete ich die Szenerie. Wie hatten sie mich so schnell verschmerzt? Leute standen herum, denen der überstandene Arbeitstag wichtiger war als das vor ihnen liegende Training – und als die Tatsache, natürlich, daß ich beinahe nicht hätte mitmachen können. Sie hantierten mit den Tassen und zögerten nach Kräften den Beginn des Trainings hinaus. Der neueste Film wurde durchgeflüstert, vom bevorstehenden Urlaub, von früheren Reisen geschwärmt. Der berühmte Tee-Effekt kündigte sich an: eine ungeahnte Beredsamkeit bemächtigte sich unser; sogar ich, an meinen Tränen kauend, hätte beinahe ein Späßchen gemacht. Wer in sich gekehrt bleiben wollte, beschäftigte sich mit Dehnen und wurde zur Zielscheibe liebevoller Aufmerksamkeit, zärtlichen Spotts. Überhaupt flackerte Erotik auf, so als hätte man uns statt Tee Champagner in die Tassen getan. Ich wollte noch einmal davonlaufen und zurückgeholt werden, aber diesmal nicht von E., die lieb und gut, aber undurchschaubar und ichbezogen war, sondern von S. Von ihm wollte ich eingeholt und im Triumph zurückgebracht, im koboldhaften Schein der hüpfenden Halogenflämmchen durch den dunklen Flur bis in den Übungsraum geschoben werden, der im milden Licht seiner abgeschirmten Deckenlampen erglänzte, und dort von allen umringt und getröstet.
Von allen außer G.
Ich ging zu ihr hinüber und sagte:
Du hättest nicht so zu schreien brauchen.
Sie war ganz außer sich vor Gutartigkeit. Wäre ich E. gewesen, hätte ich ihr erklären können, daß Menschen, die ihre guten Absichten zum Beurteilungsmaßstab ihrer Handlungen machen, allein dadurch noch nicht zu besseren Menschen werden. Ich fand den Gedanken klasse, durfte G. dabei aber nicht ansehen; denn sie war wirklich gutartig. Aber auch sie beurteilte ihre Handlungen nach ihren Absichten und war entrüstet, daß ich ihr Bosheit unterstellte. Sie wollte das unbedingt klären. Ungeduldig trat ich aus der Mitte heraus und stellte mich ganz hinten auf. Ich würde sowieso alles falsch machen. Tatsächlich geriet mir die Form restlos daneben. S., vom Eingangsgeplänkel genervt, echauffierte sich erneut, und ich wußte nicht, ob ich weinen oder lachen sollte, als er mich aufforderte, meine Fußstellung zu betrachten. Ich sah auf meine Füße, und sie blickten verwundert zurück.
Du mußt den rechten Fuß mehr nach außen setzen, sagte E. leise.
Erst Wochen später konnte ich mit S. über diesen Abend lachen.
Ich will damit sagen: S. und E. waren im Grunde kein Thema. Es gab genug Stoff, auch ohne sie, und keinen Grund, die beiden mißtrauisch zu beäugen.
Aber irgendwie war nichts mehr wie früher. Wenn ich eine Vermutung äußern darf, so würde ich sagen, es gab einen unguten Trend, den Übungsraum und was in ihm geschah, zum Lebensmittelpunkt zu machen. Es war, als strebten wir alle von den Rändern in die Mitte. Das fing bei mir an. Ich langweilte mich bei meinen Freunden in Dänemark, fand meine Arbeit uninteressant und meinen Liebsten im Grunde auch. Ich konnte keinen Sinn mehr im Klein-Klein meines geliebten Alltags entdecken, und selbst meine gelegentlichen Ausflüge in die Esoterik amüsierten mich nicht mehr. Alles kam in Bewegung. Die Frauen, die mit den Jahren in die Breite gegangen waren und eisern dazu gestanden hatten, an deren Umrisse wir uns gewöhnt, auf die wir uns gewissermaßen verlassen hatten, unterzogen sich Schlankheitskuren, mit beängstigendem Erfolg, und die vertrauten Konturen verschwanden. E. wurde ohnehin von Tag zu Tag magerer, verstand es aber, den Eindruck zu erwecken, als wäre sie schon immer so gewesen. Sie wollte um keinen Preis den Eindruck erwecken, als wäre ihr an ihrem Äußeren gelegen. Sogar die stabile G. wankte, fing an, mit ihrem Privatleben zu renommieren, und brach dann unvermittelt in Tränen aus und mußte das Training abbrechen.
So drehte sich das Karussell. Es wurde Sommer, und die vielfältigen Lämpchen erloschen. Die Tür blieb abends geöffnet, und die Kinder lugten herein. S. war zurückhaltender geworden in seinem körperlichen Einsatz – das fiel schließlich sogar mir auf –, aber nicht in seinen Worten. E. war manchmal nicht zu bemerken. War sie heute da? fragte ich mich hinterher. Einer nach dem andern verschwanden wir in die Ferien, ließen andere zurück und fanden bei unserer Rückkehr andere vor, hielten selbst die Stellung, wenn andere aufbrachen, und die jeweilige Konstellation für ewig. Nur S. sah uns kommen und gehen. Entweder er wurde hartherzig davon. Oder weise. Oder beides.
Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
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