Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

Zum Inhaltsverzeichnis


(11) E. erzählt

Er fuhr gleich beim ersten Mal mit allen Sinnen mit, obwohl er keinen Führerschein besaß und meiner Ansicht nach auch vom Fahren keine Ahnung hatte. Meine Bedenken, was aus dem heiklen Machtgleichgewicht werden sollte, wenn ich am Steuer saß, waren im Nu beseitigt.

Auf meiner Seite wäre frei, sagte er, als ich aus der Parklücke zurücksetzte.

Halt dich weiter rechts, sagte er, sonst kriegst du Probleme mit den Linksabbiegern.

Die Ampel ist rot, sagte er, du mußt anhalten.

Anhalten!

Ich stand auf der Bremse.

Gib zu, sagte er, wenn ich nichts gesagt hätte, wärst du glatt über Rot gefahren.

Ich war noch nie in meinem Leben über Rot gefahren.

Ich hätte eben vor dem Zebrastreifen angehalten, sagte ich.

Und das wäre falsch gewesen, sagte er. Oder willst du behaupten, daß es richtig gewesen wäre?

Angesichts der durchgezogenen Linie, die ich beinahe überfahren hätte, ich weiß auch nicht, warum, konnte ich das unmöglich behaupten.

Nein, sagte ich.

Siehst du, sagte er befriedigt.

Ich war vollkommen glücklich.

Nach dem Aussteigen pflegte er mit der schlagkräftigen Hand zweimal hart gegen die Scheibe zu klopfen – seine Art, sich in Erinnerung zu bringen, die Verbindung zu halten, mich nicht allein zu lassen, was weiß ich. Beim ersten Mal dachte ich, ein Stein oder ein Baum wäre aufs Wagendach gefallen, oder drinnen wäre etwas explodiert, das Auto im Zweifelsfall. Ich erschrak nach allen Regeln der Kunst und wußte nicht, ob ich mich unter den Sitzen verstecken oder davonlaufen sollte; saß, bei abgestelltem Motor immer noch fest angeschnallt, betäubt, wie ein verlassener Liebhaber in der kalten Küche.

Das nächste Mal erhaschte ich einen Blick auf die blassen Finger, wie sie einsam gegen die Scheibe klopften, und wartete beim dritten bereits sehnsüchtig auf den Schlag und empfing ihn als Botschaft, selbst wenn sie nur Abschied beinhaltete. Ich stellte den Motor an und das Konzert im Deutschlandradio so laut, daß es kreischte, und war, bevor ich es recht gewahr wurde, auch schon nach Hause gefahren. Saß auch hier, damit ich es merkte, noch ein Weilchen im Auto.

Da es ein Allerweltsauto mit einer Allerweltsfarbe war, konnte ich es häufig nicht finden. Er hatte sich schon beim ersten Mal das nichtssagende Kennzeichen gemerkt und fand den Wagen im Handumdrehen unter seinesgleichen heraus. Einmal war während der Stunde ein sanfter, dickflockiger Schnee gefallen, der eine Haube über die parkenden Autos gezogen hatte, und ohne die präzise Erinnerung, daß ich vor Reichelt parkte, hätte ich meins nie herausgekannt. Hier hatte er, als ich einen Augenblick überlegte, resigniert und war ganz leise geworden, und er atmete hörbar auf vor Erleichterung, als der Wagen tatsächlich vor Reichelt stand. Lautlos rollten wir über die verschneiten Straßen, und beim Schrittempo längte sich die Fahrt. Im Schneelicht leuchteten die Armaturen in tiefem Blau – wie bei einer Boeing, stellte er befriedigt fest, so als wäre es sein Auto. Normalerweise technikfeindlich, in dieser Hinsicht ein Snob, war ich in dem Moment einverstanden, eine Boeing samt Copiloten zu steuern, beide in verläßlichem Dunkelgrau und mit strengen Rundungen, erstere in sprödem Plastik, letzterer, neben mir, von sprödem Charakter; beide ohne überflüssigen Zierart, preußisch. Hellwach, meilenweit entfernt von jeder Versuchung, das Gegenwärtige durch Müdigkeit zu beleidigen, gar durch Kleinmut, versank ich in der träumerischen Illusion, daß wir bei diesem Tempo niemals ankommen würden, und auch die Weiterfahrt schien mir unproblematisch, ebneten Schnee und Stille doch alle Unterschiede ein, was Entfernung, Uhrzeit, Gesellschaft betraf, und ich hegte keinen Zweifel, daß ich heil nach Hause kommen würde. Aber so weit konnte ich gar nicht denken.

An manchen Tagen ging gar nichts. Ein Dritter fuhr mit, und der Zweite, der zuerst ausstieg, klopfte nicht gegen die Scheibe. Den Tod im Herzen, setzte ich den Fuß aufs Gas, entsagte dem Radio und unterhielt mich im trockenen Ton derer, die am Steuer sitzen und gegen das Ressentiment der andern anreden, die es nicht tun. Es kam auch vor, daß er zu Fuß gehen wollte – ein finsterer Vorgriff auf den Frühling, wenn er ohnehin aufs Rad umsteigen würde und ich mich nur mit einem Eis von Monheim trösten konnte.

Ich muß ein paar Schritte gehen, erklärte er, auf Selbstbestimmung bedacht, aber auch darauf, daß er nicht leichtsinnig Terrain preisgab, an Spielraum verlor. Selten genug verließ er das Haus und hatte Angst, es eines Tages gar nicht mehr zu tun. Aber wenn, dann mit dem bedachtsamen Schritt und prüfenden Blick des Försters, der sein Revier abschritt, des Fürsten, der sich in seinem Kiez sehen ließ. Er war überhaupt breiter als ich, wenn auch von zierlicher Bauart, und das machte sich im Auto bemerkbar: in angenehmster Weise füllte er den Raum und war gar nicht mehr zu entbehren. Ich dagegen, zierlich, aber von klobiger Empfindung, von trotzigem Willen, maßlosem Wollen, verdarb das im Auto ohnehin heikle Raumklima und verpestete die nur begrenzt verfügbare Luft mit meiner schlechten Aura. Kein Wunder war es, wenn er nicht mitfahren wollte.

Ich komm diesmal nicht mit, sagte er.

Ich verkniff mir das unselige »Na, dann nicht!«, das alle Türen zuschlägt. Trotzig bäumte ich mich auf, riskierte eine lockere Handbewegung, einen lustigen Gruß, tat, als wären bloß Infos ausgetauscht worden: Ich hab ein Auto; du fährst nicht mit; wo ist das Problem.

Surtout keine Tränen, sagte ich, allein im Wagen, laut – wenn ich getroffen war, verstolperte ich mich ins Französische.

Vor allem pas de larmes, sagte ich, immer noch hörbar, streichelte das Armaturenbrett, als wenn es aus Stoff wäre, und ruckte am Spiegel. Ich sagte ums Verrecken nicht: »Na, dann wollen wir mal!« Kumpanei mit mir selbst war tabu. Aber das Steuerrad faßte ich mit hartem Griff und betätigte den Anlasser wie ein Mann, wenn er die Frau in Gang bringen will. Da ich allein war, brauchte ich keine Psychologie und konnte auf Physiologie umsteigen. Da ich als Frau verschmäht worden war, konnte ich gelassen ein Mann werden: ein gelassener Mann! In schwungvollem Bogen setzte ich den Wagen in die Gegenrichtung zur sonst üblichen zurück, suchte mit der freien Hand im Radio Mucke und dachte: Ich gebe nicht auf.

Ich hatte keine Ahnung, was ich damit meinte.

Gelegentlich, es waren nicht die besten Tage, redeten wir bei abgestelltem Motor noch stundenlang vor seinem Haus, im Schein der Straßenlaterne. Ich saß schräg gegen die Tür gelehnt, in größtmöglichem Abstand zu ihm, und von hinten kroch die Kälte in meine Schulter. Aus sicherer Entfernung blickte ich in sein zartes, verbrauchtes Gesicht und nahm mir Wahrnehmungen heraus, die ich mir aus der Nähe nicht zugemutet hätte; da ich meine Hände nicht bei mir behalten konnte oder, wie ich es mir erklärte, da mein Blick in meinen Händen steckte, ihm auch nicht.

Wenn er endlich sagte: »Na, dann geh ich jetzt«, und mir preußisch die Hand gab, mußte ich aufpassen, daß meine Zustimmung nicht gar zu prompt ausfiel, der Kälte wegen, denn dann blieb er, saß, als wäre er aus Granit, und rührte sich nicht, ich konnte ihn mit beiden Händen schieben. Erst wenn ich aufgab und ein Glück darin fand, die Nacht mit ihm zu verbringen, aufrecht, im kalten Gehäuse und unter verbiestertem Reden, öffnete er abrupt die Tür und stieg aus, sagte: »Tschüs dann!« und schlug sie zu, es klang wie: »Siehste!« Ich konnte von Glück sagen, wenn er gegen die Scheibe klopfte.

Na, dann wollen wir mal, murmelte ich nun doch und strich über das Armaturenbrett; es fühlte sich mausetot an – Plastik eben.

Hör auf zu zittern, sagte ich zu meiner Hand und suchte Mucke.

Ich ließ den Motor an.

Und was ist mit der Heizung? fragte ich laut. Komm schon, komm schon, oder soll ich erfrieren?

Es gab tausend gottverdammte Stellen, wo ich ihn absetzen konnte, ohne daß wir uns mit Abschied aufhalten mußten: vor der Ampel, hinter der Ampel oder einfach in der zweiten Reihe.

Glück gehabt, sagte er, es ist Rot, du kannst mich an der Ampel rauslassen.

Komisch, schon wieder Grün, sagte er, und machte, daß er rauskam, hatte nicht mal mehr Zeit, gegen die Scheibe zu klopfen. Ich vergaß, daß ich scharf auf Mucke war, und lauschte den Nachrichten. Ich trommelte nicht aufs Armaturenbrett. Ich redete nicht mit dem Auto.

Es ist vorbei, sagte ich laut und erschrak prompt über meine fremde, rauhe Stimme.

Freu dich, daß du cool bist, sagte ich, nun bleib's auch. Fang nicht wieder an!

Plötzlich störte mich die Stimme des Nachrichtensprechers. Mich verlangte nach Musik. Das Steuerrad in meiner Hand gewann an Körper, die Gangschaltung an Dynamik. Unvermittelt Ich gewann meine Seele zurück. Meine Stimmung – le moral – hob sich.

Ich trommelte einen kleinen Wirbel auf dem Plastik und mir vielsagend gegen die Stirn.

Ist doch gar nichts zu Ende, sagte ich laut.


 ← Zurück |  → Weiter

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.